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Religiöſe Reden

Ins Deutſche übertragen von Theodor Haecker

Verlag Hermann A. Wiechmann München 1922

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Vorwort

Es war, ſeitdem ich die geſamten Werke Kierkegaards kannte, immer mein Wunſch geweſen, es möchten ſeine erbau⸗ lichen religiöſen und chriſtlichen Reden dem deutſchen Leſer vor⸗ gelegt werden, dieſe Reden, die noch ganz abgeſehen davon, daß ſie zweifellos zu den ſeltenen Meiſterwerken oratoriſcher Sprachkunſt alter und neuer Zeiten innerhalb des europäiſch⸗ chriſtlichen Kulturkreiſes gehören darum ſo wichtig ſind, weil für ſie allein ja Kierkegaard die volle Verantwortung ſeiner ganzen Perſon übernahm, ſie allein mit dem eigenen Namen deckte, während alle die anderen großen philoſophiſchen und dichteriſchen Werke ſozuſagen nur mehr oder weniger den oberen oder gar nur möglichen Schichten ſeiner Perſon ent⸗ ſtammen und deshalb unter Pſeudonymen erſchienen find. Die⸗ ſer mein Wunſch mußte ſich noch ſteigern in der letzten Zeit durch die Tatſache, daß immer mehr mit Kierkegaard ſich be⸗ ſchäftigen, und nicht immer ernſt und mit Sach⸗ und Per⸗ ſonenkenntnis, ja es mußte ſich mir die Einſicht aufdrängen, daß es ein Akt ſimpler Gerechtigkeit gegenüber Kierkegaard iſt, endlich auch einmal, und wäre es auch nur zum Teil, jene Werke vorzulegen, die er ſelber für weitaus die wichtigſten gehalten

III

Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

hat. Wohl kann ein Autor im Urteil über die Bedeutung ſeiner eignen Werke irren, aber das gilt ſchließlich doch nur für das Aſthetiſche, und würde Kierkegaard hier geirrt haben, ſo käme das einer Selbſtvernichtung gleich. Dazu kommt noch, daß die neuere proteſtantiſche Theologie, ſoweit ſie wieder denken will und ſucht nach Halt und Wirklichkeiten, zweifellos, ob ſie es weiß oder nicht weiß, ob ſie es will oder nicht will, ob es ſie den rechten Weg weiſt oder den falſchen, einerlei: ſie lebt und denkt im Schatten eines Großen, eben Kierkegaards:

Darum iſt es mir eine Freude, die nun folgenden Reden überſetzt zu haben und herausgeben zu dürfen. Ihre Gegen⸗ ſtände ſind, außer in der Rede: „An einem Grab“, die eigent⸗ lich rein philoſophiſch iſt, einige Wahrheiten des Chriſtentums, nicht alle, gewiß nicht, aber einige der wichtigſten, wie das Daſein Gottes in all ſeiner Majeſtät als Schöpfer und Richter, die Sündhaftigkeit des Menſchen und ſein Bedürfnis nach Er⸗ löſung, die Erlöſertat Jeſu Chriſti und das letzte Weſen Gottes als Liebe: Göttliche Liebe. Dieſe Wahrheiten ſind feſtgehalten nicht bloß als Probleme oder Gedanken oder gar Fiktionen, ſondern mit Ernſt und Bekümmerung als Realitäten und Wirk⸗ lichkeiten, die Einlaß fordern in den Geiſt des Menſchen, und dort eingelaſſen, ihn umſchaffen zu Gottes Wohlgefallen.

Allen Reden, die Kierkegaard veröffentlicht hat, alſo auch den folgenden, hat er immer die ausdrückliche Bemerkung vor⸗ angeſtellt: „Es ſind nicht Predigten, weil der Verfaſſer nicht Autorität hat, zu predigen“, und was er unter „Autorität“

IV

Vorwort

ver ſtand, hat er in jenen Zeiten fo ausgedrückt: „Die Autorität iſt eine ſpezifiſche Qualität entweder einer apoſtoliſchen Be⸗ rufung oder der Ordination !).“

Über den Leſer, den Kierkegaard für fein Werk ſich wünſcht, mögen ſeine eigenen Worte Aufſchluß geben:

„Es ſucht jenen Einzelnen, den ich mit Freude und Dank⸗ barkeit meinen Leſer nenne, oder es ſucht ihn auch nicht. Unwiſſend um Zeit und Stunde wartet es in Stille, daß jener rechte Leſer kommen möge wie der Bräutigam und die Gelegenheit mit ſich bringe. Jeder tue das Seine, der Leſer alſo das meiſte. Die Bedeutung liegt in der Aneignung. Daher des Buches frohe Hingabe. Hier iſt kein welt⸗ liches Mein und Dein, das trennt und verbietet ſich anzu⸗ eignen, was dem Nächſten gehört. Denn Bewunderung iſt doch ein wenig Neid und alſo ein Mißver ſtändnis, und Tadel in all feiner Berechtigung doch ein wenig Wider ſtand und alſo ein Mißverſtändnis, und Wiedererkennung im Spiegel nur eine flüchtige Bekanntſchaft und alſo ein Mißverſtänd⸗ nis aber richtig hinzuſehen und nicht vergeſſen zu wollen, was die Ohnmacht des Spiegels nicht zu bewirken vermag: das iſt die Aneignung, und die Aneignung iſt des Leſers noch größere, iſt ſeine ſiegreiche Hingebung.“

Th. H.

) S. Kierkegaard, Der Begriff des Auserwählten. Hellerau 1917. S. 322. V

Liebe deckt der Sünden Menge

Ep. i. Pet. 4, 7-12 Erſter Teil.

Was macht einen Menſchen groß, zum Wunder der Schöp⸗ fung, wohlgefällig in den Augen Gottes? Was macht einen Menſchen ſtark, ſtärker als die ganze Welt, was macht ihn ſchwach, ſchwächer als ein Kind? Was macht einen Menſchen unerſchütterlich, unerſchütterlicher als den Felſen, was macht ihn weich, weicher als Wachs? Es iſt die Liebe! Was iſt älter als alles? Es iſt die Liebe. Was überlebt alles? Es iſt die Liebe. Was kann nicht genommen werden, aber nimmt ſelber alles? Es iſt die Liebe. Was kann nicht gegeben werden, aber gibt ſelber alles? Es iſt die Liebe. Was beſteht, wenn alles trügt? Es iſt die Liebe. Was tröſtet, wenn aller Troſt verſagt? Es iſt die Liebe. Was dauert, wenn alles wechſelt? Es iſt die Liebe. Was bleibt, wenn das Unvollkommene abgeſchafft wird? Es iſt die Liebe. Was zeugt, wenn die Prophetie verſtummt? Es iſt die Liebe. Was läßt nicht ab, wenn die Geſichte aufhören? Es iſt die Liebe. Was erklärt, wenn die dunkle Rede zu Ende iſt? Es iſt die Liebe. Was legt Segen in der Gaben Überfluß? Es iſt die Liebe. Was gibt Gewicht der Rede der Engel? Es

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iſt die Liebe. Was macht der Witwe Scherflein zum Überfluß? Es iſt die Liebe. Was macht des Einfältigen Rede zur Weis⸗ heit? Es iſt die Liebe. Was ändert ſich niemals, wenn alles ſich ändert? Es iſt die Liebe; und nur ſie iſt die Liebe, ſie, die nie⸗ mals etwas anderes wird. Denn auch der Heide pries die Liebe, ihre Schönheit und ihre Macht; aber ſeine Liebe konnte zu etwas anderem werden, das er faſt höher noch pries. Die Liebe war ſchön, ſchöner als alles; aber die Rache war ſüß, ſüßer als alles. Und ſo töricht war der Gedanke des Heiden von der Liebe und dem Göttlichen, ſo ſelbſtſüchtig war alles im Himmel und auf Erden, daß die Macht, die wohlwollend den Menſchen die Freude der Liebe ſchenkte, neidiſch die Rache ſich ſelber vorbehielt, weil ſie das Süßeſte war. Was Wunder, daß die Rache in aller Liebe des Heiden ſich verbarg; daß die Angſt nicht ausgetrieben war, wenn ſie auch vergeſſen war; was Wunder, daß der Feind in der Stille arbeitete, ſelbſt wenn die Liebe am ſicherſten ſchlief, daß der Zorn heimlich auf der Lauer lag und nach Anlaß ſpähte; was Wunder, daß er plötzlich hervorbrach in all ſeiner Wildheit; was Wunder, daß er des Heiden Seele erfüllte, der ſeine verbotene Süße einſaugte und dadurch ſeiner Verwandtſchaft mit dem Göttlichen ſich ver⸗ gewiſſerte! Was Wunder, daß keine Liebe glücklich war, wie kein Menſch im Heidentum es war, ehe die letzte Stunde ge⸗ kommen war, die wieder nur bitter einen Menſchen mit der Vorſtellung narren konnte, daß er glücklich geweſen war! Was Wunder, daß Leid in alle Freude ſich miſchte, daß be⸗

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ſtändig der nächſte Augenblick, ſelbſt im Augenblick der Freude, ängſtigend wie die Geſtalt des Todes vorüberging! Wie ſollte auch ein Heide vermögen, die Welt zu überwinden; aber ver⸗ mochte er dieſes nicht, wie ſollte er denn die Welt gewinnen? Was ändert ſich nie, wenn alles ſich ändert? Es iſt die Liebe, und nur ſie iſt die Liebe, ſie, die niemals etwas anderes wird. Denn auch der fromme Jude gab der Liebe Zeugnis, aber ſeine Liebe war das Kind der Veränderlichkeit und des Wechſels, und er verſtand ſeine Feinde zu haſſen. Überließ er auch die Rache dem Herrn, weil ſie ihm gehört, ſeine Seele war doch nicht unbekannt mit ihrer Süße; denn auch dieſes Bewußtſein iſt ſüß, daß des Herrn Rache ſchrecklicher iſt als alle menſch⸗ liche Rache, daß der Menſch ſeinen Feind verflucht, aber daß der Herr den Gottloſen und des Gottloſen Geſchlecht durch viele Glieder verflucht. Was Wunder, daß die Angſt allzeit ein Auge wach hatte, ſelbſt wenn die Liebe am ſorgloſeſten war; was Wunder, daß der Zorn, ſelbſt wenn die Liebe am wenigſten davon träumte, in aller Stille ſaß und nachrechnete über Ein⸗ nahme und Ausgabe, über Mein und Dein! Was Wunder, daß keine Liebe glücklich war, ehe die letzte Stunde kam, weil erſt dann der Liebe ungewiſſe Forderung eingelöſt war. Was verändert ſich niemals, wenn alles ſich verändert? Es iſt die Liebe. Und nur ſie iſt die Liebe, ſie, die niemals etwas anderes wird; ſie, die alles hingibt und aus dieſem Grund nichts zu fordern hat; ſie, die nichts fordert und deshalb nichts zu verlieren hat; ſie, die ſegnet und ſegnet, wenn ihr geflucht

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wird; ſie, die ihren Nächſten liebt, aber deren Feind auch ihr Mächſter iſt; fie, die die Rache dem Herrn überläßt, weil fie ſich vertröſtet, daß Er noch barmherziger iſt.

Dieſe Liebe iſt es, von der der Apoſtel in unſerem Texte redet, und wie dieſe Liebe viele Male und auf viele Weiſe ein apoſto⸗ liſches Zeugnis empfing, ſo zeugt er wieder hier von ihrer Macht und ſagt: Liebe deckt der Sünden Menge.

Dieſe Worte und dieſes Zeugnis wollen wir betrachten. Doch wie ſollen wir davon reden? Sollen wir ſo reden, daß wir uns nicht Zeit geben, bei den Worten zu verweilen, weil der bloße Laut einen ſtillen Vorwurf enthalte, der eine Sorge wecke, der ein Streben hervorrufe hin nach dem Ziel, nach welchem jeder Menſch zu ſtreben berufen iſt. Sollen wir ſo reden, daß, wenn möglich, der einzelne noch in dieſer Stunde ſich entſchließe, den günſtigen Augenblick zu kaufen; daß das Wort, wenn möglich, den bewege, den es ſtehend und müßig traf, den Lauf zu be⸗ ginnen; den, welchen es auf der Bahn traf, den Lauf zu be⸗ ſchleunigen; den, welchen es im Laufe traf, zu eilen nach dem Vollkommenen. Sollen wir reden wie zu Unvollkommenen! Sollen wir daran erinnern, wie ſelten wohl noch der gefunden ward, der entweder niemals gekannt oder ganz vergeſſen hatte: „die Kinderlehre der Welt“, daß die Rache ſüß iſt; ſollen wir daran erinnern, daß jeder Menſch, wenn er redlich iſt, nur allzu oft ſich ſelbſt ertappt, wie er weitläufig, eindringend, er⸗ fahren jene traurige Wahrheit, daß die Rache ſüß iſt, erklären kann. Sollen wir daran erinnern, wie ſelten wohl noch der war,

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der die Rache dem Herrn überließ in dem Vertrauen, daß Er eine noch mildere Erklärung der Schuld habe, ein noch barm⸗ herziges Urteil über ſie: daß Er größer iſt als eines Menſchen Herz; wie oft dagegen jeder redliche Menſch ſich ſelber geſtehen muß, daß er auf die Rache juſt nicht deshalb verzichtete, weil er ſie dem Herrn überließ. Soll ich daran erinnern, wie ſelten noch der war, der ſo vergab, daß der reumütige Feind wirklich fein Nächſter ward; der, welcher durch feine Vergebung wirklich die Scheidewand hob und von keinem Unterſchied wußte, nicht daß er ſelbſt am frühen Morgen gerufen wurde und der Feind erſt zur elften Stunde, nicht daß er nur fünfzig Groſchen ſchuldig war, der Feind aber fünfhundert. Soll ich daran er⸗ innern, wie ſelten auch der war, der ſo liebte, daß ſein Ohr, wenn es dem Feinde gut ging, kein Wiſpern des Neides ver⸗ nahm, weil ſein Herz Neid nicht kannte; ſo liebte, daß ſein Auge die Vergebung nicht reute, wenn das Glück ſeinen Feind be⸗ günſtigte; der, welcher ſo liebte, daß er, wenn es ſeinem Feinde ſchlecht ging, vergeſſen hatte, daß es ſein Feind war. Sollen wir warnen vor der in den Augen der Menſchen geringeren Schuld, vor einer gewiſſen ſchlauen Verſtändigkeit, die liſtig die Fehler der Menſchen zu entdecken weiß, und welche wohl nicht ihr Wiſſen mißbraucht, um zu richten, aber die doch durch ihre Neu⸗ gierde nicht ſo ſehr den Nächſten kränkt, wie ſich ſelbſt aufhält. Sollen wir jeden ermahnen, nach jener chriſtlichen Liebe zu trachten, weil jeder Menſch doch ſelbſt ſo oft nach Vergebung drängt; ſollen wir jeden Menſchen ermahnen, ſich ſelbſt zu

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richten und darüber zu vergeſſen, andere zu richten; warnen vor dem Richten und Verurteilen, weil doch kein Menſch ganz einen anderen durchſchauen kann, weil es doch zuweilen ſich ereignete, daß des Himmels Zorn nicht den verzehrte, über den man ihn herniederrief, ſondern daß der Herr gnädig und mild mit Wohl⸗ gefallen im geheimen auf ihn ſah; ſollen wir jeden ermahnen, nicht im Eifer Zorn auf einen anderen herabzurufen, damit er nicht durch ſeine Unverſöhnlichkeit ſchrecklicheren Zorn über ſich ſelbſt am Tage des Gerichtes ſammle!

Sollen wir ſo reden? Ja, es wäre für uns wohl oft am beſten, daß ſo geredet würde, aber es zu tun iſt ſo ſehr ſchwierig, daß der Redende nicht ſelber in der Rede dazu komme, gegen die Rede zu handeln; dazu komme, andere zu richten. Ja, auch dieſes, in der Rede ſich ſelbſt zu richten, iſt ſo ſehr ſchwierig, daß der Redende nicht in ein neues Mißverſtändnis ſich hülle und dadurch andere ſtöre. Deshalb wählen wir die leichtere Auf⸗ gabe. Wir wollen bei den Worten ſelbſt verweilen, und wie alle andere Liebe in der Welt geprieſen wurde, ſo wollen wir die Liebe zeigen und preiſen, die Macht hat, das Wunderbare zu vollbringen: der Sünden Menge zu decken. Wir wollen reden wie zu Vollkommenen. Wäre da einer, der ſich nicht vollkommen fühlte die Rede macht doch keinen Unterſchied. Wir wollen unſere Seele ruhen laſſen in dem Worte des Apoſtels, das nicht eine trügeriſche poetiſche Wendung iſt, nicht ein dreiſter Aus⸗ bruch, ſondern ein treuer Gedanke, ein vollgültiges Zeugnis,

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das, um verftanden zu werden, wörtlich genommen werden muß

Liebe deckt der Sünden Menge. Liebe macht blind, ſagt ein altes Wort und will damit nicht eine Unvollkommenheit des Liebenden oder einen urſprünglichen Zuſtand in ihm be⸗ zeichnen; denn erſt als die Liebe in ſeiner Seele Platz gewann, erſt da ward er blind, und im Maße wie die Liebe in ihm ſiegte, ward er blinder und blinder. Oder war die Liebe unvoll- kommener geworden, als ſie, nachdem ſie zuerſt ſich ſelbſt be⸗ trogen hatte dadurch, daß ſie nicht ſehen wollte, was ſie doch ſah, zuletzt ſelbſt es nicht mehr ſah? Oder wer verbarg am beſten, der, welcher wußte, daß er etwas verborgen hatte, oder der, welcher ſogar dies vergeſſen hatte? Für den Reinen iſt alles rein, ſagt ein altes Wort und will damit nicht eine Un⸗ vollkommenheit in dem Reinen bezeichnen, die nachträglich ver⸗ ſchwinden ſollte, im Gegenteil, je reiner er wird, um ſo reiner wird alles für ihn. Oder war es eine Unvollkommenheit des Reinen, daß er, nachdem er zuerſt ſich ſelbſt unbeſchmutzt von der Unreinheit erhalten hatte, indem er nicht wiſſen wollte, was er doch wußte, zuletzt nicht einmal mehr etwas davon wußte?

Das beruht nicht bloß auf dem, was man ſieht, ſondern was man ſieht, beruht darauf, wie man es ſieht; denn alles Be⸗ trachten iſt nicht bloß ein Empfangen, ein Entdecken, ſondern zugleich ein Hervorbringen, und inſoweit es dieſes iſt, wird es ja entſcheidend, wie der Betrachtende ſelbſt beſchaffen iſt. Wenn einer dieſes ſieht, ein anderer ein anderes im Selben, ſo entdeckt

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der eine, was der andere deckt. Inſoweit der Gegenſtand der Betrachtung der äußeren Welt angehört, iſt es wohl gleich⸗ gültiger, wie beſchaffen der Betrachtende iſt, oder beſſer, iſt die notwendige Bedingung der Betrachtung etwas für ſein tieferes Weſen Unbeträchtliches; je mehr dagegen der Gegen⸗ ſtand der Betrachtung der Welt des Geiſtes angehört, um ſo wichtiger iſt es, wie er ſelbſt in ſeinem Inneren beſchaffen iſt; denn alles Geiſtige eignet man ſich nur durch Freiheit zu; aber was man durch Freiheit ſich zueignet, das wird auch hervor⸗ gebracht. Der Unterſchied liegt nicht im Außeren, ſondern im Inneren, und von innen geht alles aus, was einen Menſchen unrein und ſeine Betrachtung unrein macht. Das äußere Auge tut nichts zur Sache, aber „von innen heraus geht ein Schalks⸗ auge“. Aber ein Schalksauge entdeckt viel, was die Liebe nicht ſieht; denn ein Schalksauge ſieht ſogar, daß der Herr unrecht tut, wenn er gut iſt. Wenn im Herzen Bosheit wohnt, ſieht das Auge Argernis, aber wenn im Herzen Reinheit wohnt, ſieht das Auge den Finger Gottes; denn die Reinen ſchauen Gott; aber wer Böſes tut, der ſiehet Gott nicht.

Das Innere entſcheidet, was ein Menſch entdeckt, und was er deckt. Wenn im Herzen die Luſt der Sünde wohnt, entdeckt das Auge der Sünden Menge und macht ſie noch mannig⸗ faltiger; denn das Auge iſt des Leibes Licht. Aber wenn das Licht, das in einem Menſchen iſt, Finſternis iſt, wie groß wird dann die Finſternis! Wenn im Herzen die Angſt der Sünde wohnt, entdeckt das Ohr der Sünden Menge und macht ſie

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noch mannigfaltiger, und was hülfe es einem ſolchen Menſchen, daß er blind wäre; denn ein „Schalk ſchlägt die Augen nieder und horchet mit Schalksohren“. Wenn im Herzen Liebe wohnt, iſt das Auge geſchloſſen und entdeckt nicht der Sünde offenbare Tat, noch weniger die verborgene; denn „wer mit Augen winket, wird Mühſal anrichten“, aber der, welcher den Augenwink ver⸗ ſteht, iſt nicht rein. Wenn im Herzen Liebe wohnt, iſt das Ohr verſchloſſen und hört nicht das Wort der Welt, nicht die Bitter⸗ keit des Spottes; denn, wer zu ſeinem Bruder ſagt: Racha, der iſt des Rats ſchuldig, aber der, welcher es hört, wenn es zu ihm geſagt wird, iſt nicht vollkommen in der Liebe. Wenn im Herzen Jähzorn wohnt, iſt der Menſch raſch bereit, der Sünden Menge zu entdecken, da verſteht er herrlich eine halbe Rede, faßt haſtig von ferne das Wort, kaum daß es aus⸗ geſprochen iſt. Wenn im Herzen Liebe wohnt, verſteht ein Menſch langſam, und hört nicht ein haſtiges Wort und verſteht nicht deſſen Wiederholung, weil er ihm einen guten Platz gibt und einen guten Sinn, verſteht nicht die lange Rede der Welt oder des Spottes, weil er noch auf ein Wort wartet, das der Rede Sinn geben ſoll. Wenn im Herzen Furcht wohnt, ent⸗ deckt der Menſch leicht der Sünden Menge, Trug und Betrug und Treuloſigkeit und Ränke. Aber die Liebe, die der Sünden Menge deckt, ward nie betrogen. Wenn im Herzen Geiz wohnt, wenn man mit einem Auge gibt und mit ſieben Augen ſiehet, was man dafür kriege, entdeckt man leicht der Sünden Menge. Aber wenn im Herzen Liebe wohnt, wird das Wort niemals

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betrogen; denn die Liebe, wenn ſie gibt, ſieht nicht nach der Gabe, ſondern ihr Auge achtet auf den Herrn. Wenn im Herzen Mißgunſt wohnt, hat das Auge die Macht, das Unreine ſelbſt im Reinen hervorzulocken, aber wenn im Herzen Liebe wohnt, hat das Auge die Macht, das Gute im Unreinen hervorzulieben; aber dieſes Auge ſieht nicht das Unreine, ſondern das Reine, das es liebt und hervorliebt durch die Liebe. Ja, es gibt eine Macht dieſer Welt, die in ihrer Sprache das Gute in das Böſe überſetzt, aber es gibt eine Macht von oben, die das Böſe in das Gute überſetzt, es iſt die Liebe, welche der Sünden Menge deckt. Wenn im Herzen Haß wohnt, liegt die Sünde vor der Türe der Menſchen und die Mannigfaltigkeit der Begierden liegt vor ihm; aber wenn im Herzen Liebe wohnt, iſt die Sünde weit weg geflohen, und er erblickt ſie nicht einmal. Wenn im Herzen Hader, Neid, Zorn, Zank und Zwietracht wohnen, braucht man da lange zu gehen, um der Sünden Menge zu entdecken, oder braucht man lange zu leben, um ſie in ſeinem Umkreis hervor⸗ zubringen; aber wenn im Herzen Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuſchheit wohnen, was Wunder, daß ein Menſch, ſelbſt wenn er mitten in der Sünden Menge ſtände, ein Fremder bliebe, ein Aus⸗ länder, der nur ſehr wenig auf des Landes Brauch ſich verſtände, wenn ihm eine Erklärung abverlangt würde; wie ſollte der nicht eine Deckung ſein für der Sünden Menge!

Oder iſt es nicht ſo, ſollen wir klug ſagen: die Menge der Sünden in der Welt iſt und bleibt ja gleich groß, ob nun die

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Liebe fie entdeckt oder nicht; ſollen wir das apoftolifche Wort und mit ihm die Liebe, welche beſchrieben wird, als eine zierliche Redensart dahinſtehen laſſen, die die Prüfung der Forſchung nicht beſtehen könnte? Aber verſtand denn wirklich jene Ver⸗ ſtändigkeit die Liebe ebenſo gut, wie ſie der Sünden Menge ver⸗ ſtand?! Oder wollte ſie das Gegenteil einräumen, daß der Sün⸗ den Menge ebenſo groß blieb, ob nun der Verſtand ſie entdeckte oder nicht, und nicht eher die eigene Schlauheit, die Verborgen⸗ heit der Sünden zu entdecken und zu erforſchen, anpreiſen? Aber da blieb es ja gleich wahr, daß der Verſtand der Sünden Menge entdeckte, und daß die Liebe ſie deckte; und das eine war nicht wahrer als das andere. Oder gab es noch eine dritte Weiſe, auf welche man, ohne verſtändig wiſſend oder liebend unwiſſend um ſie zu werden, wiſſend um ſie wurde; wäre ein ſolches Wiſſen nicht ein unmenſchliches Wiſſen? Es iſt nicht bloß ein rheto⸗ riſcher Ausdruck, daß die Liebe der Sünden Menge deckt, ſon⸗ dern es iſt in Wahrheit ſo, und dies iſt die Macht der chriſtlichen Liebe, die nicht groß iſt durch auffallende Tat, wie andere Liebe es iſt, ſondern größer in ihrer ſtillen Wunderbarkeit.

Glücklich der Menſch, der die Welt in ihrer Vollkommenheit ſah, als alles noch gut war; glücklich der Menſch, der mit Gott Zeuge der Herrlichkeit der Schöpfung war; ſeliger die Seele, die Gottes Mitarbeiter in der Liebe war; ſelig die Liebe, die der Sünden Menge deckt.

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Liebe deckt der Sünden Menge. Der Sünden Menge, das iſt ein furchtbares Wort und erinnert leicht an eine andere Verbindung, in der es nach dem Sprachgebrauch häufig vorkommt, der Geſchöpfe Menge, wobei wir an die zahl⸗ loſe Schar der Geſchöpfe denken, an das unzählige Gewimmel von lebenden Weſen, deren Zahl keiner angeben kann, weil keine Zahl groß genug iſt, und weil kein Augenblick iſt, da man zu zählen beginnen kann; denn in jedem Augenblick werden un⸗ zählige geboren. Verhält es ſich nicht ebenſo mit der Sünden Menge; denn wie es heißt, daß, wer da hat, dem wird gegeben, daß er die Fülle habe, ſo iſt auch die Sünde fruchtbar, und eine Sünde gebiert viele, und ihre Menge wird größer und größer. Wenn das Auge der Liebe nicht geſchloſſen wäre, wenn es nicht ſelbſt durch ſeine Betrachtung die Menge deckte, wie wollte es da wagen, der Macht der Sünde Einhalt tun zu wollen! So deckt die Liebe eben dadurch der Sünden Menge, daß ſie von vornherein ſie gedeckt hat.

Ein alter Weiſer hat geſagt: „Laß ab vom Hader, ſo unter⸗ bleiben viel Sünden.“ Aber wer die Sünden verringert, er deckt ja der Sünden Menge, und er deckt ſie doppelt, indem er ſelbſt nicht ſündigt und einen anderen daran hindert. Und doch, wer vom Hader abläßt, er hindert ja einen Menſchen nur einen Augenblick am Sündigen, vielleicht wird derſelbe Menſch nach einer anderen Seite ſich wenden und Hader ſuchen, aber der, welcher einen Sünder vom Irrweg abwendet, von ihm ſagt der Apoſtel Jakobus, er decke der Sünden Menge.

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Iſt es aber möglich, richtig zu erzählen, wie die Liebe der Sünden Menge deckt, oder iſt ſie nicht noch mannigfaltiger als der Sünde Mannigfaltigkeit iſt? Wenn ſie das zerſtoßene Rohr ſieht, ſo weiß ſie der Sünden Menge zu decken, damit das Rohr nicht zerbreche unter der Laſt. Wenn ſie den glimmenden Docht ſieht, ſo weiß ſie der Sünden Menge zu decken, damit das Licht nicht auslöſche. Wenn ſie über der Sünden Menge geſiegt hat, ſo weiß ſie wieder ihre Menge zu decken, ſo bereitet ſie alles zum feſtlichen Empfang, wie der Vater des verlorenen Sohnes, ſo ſteht ſie mit offenen Armen und erwartet den Ver⸗ irrten, hat alles vergeſſen und bringt ihn ſelber dazu, alles zu vergeſſen, indem ſie wieder der Sünden Menge deckt; denn die Liebe weint auch nicht über der Sünden Menge, wenn es ſo wäre, ſo ſähe ſie ja ſie ſelbſt, aber ſie deckt die Menge. Und wenn die Sünde ihr Widerſtand leiſtet, ſo wird ſie noch mannig⸗ faltiger, nie müde, in ungleichem Joch mit ihr zu ziehen; nicht müde, alles zu glauben, alles zu hoffen, alles zu dulden. Wenn die Sünde gegen die Liebe ſich verhärtet, und wünſcht, ſie loszu⸗ werden, wenn ſie Wohlwollen mit Scheltworten bezahlt und Hohn und Spott, ſo vergilt die Liebe nicht Scheltwort mit Scheltwort, ſo ſegnet ſie und flucht nicht. Wenn die Sünde neidiſch die Liebe haßt, wenn ſie in ihrer Bosheit die Liebe dazu bringen will, felbft zu fündigen, fo findet fie nicht Trug in ihrem Mund, ſondern Bitte und Ermahnung. Aber wenn Bitten und Ermahnungen die Sünde nur erhitzen und neuen Anlaß zu der Sünden Menge geben, ſo iſt die Liebe ſtumm, aber nicht minder

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treu, treu wie ein Weib rettet ſie, tut es wie ein Weib „ohne Wort“. Die Sünde meinte erreicht zu haben, daß ſie bald auf dem Weg getrennt ſein würden, aber ſiehe, die Liebe blieb. Und die Sünde will die Liebe von ſich ſtoßen, ſie zwingt ſie, eine Meile zu gehen, aber ſiehe, die Liebe ging zwei Meilen; ſie ſchlug der Liebe rechte Wange, aber ſiehe, die Liebe kehrte ihr die andere auch zu; ſie nahm der Liebe Kleid, aber ſiehe, die Liebe gab den Mantel dazu. Schon fühlt die Sünde ihre Ohnmacht, ſie kann nicht aushalten mit ihr, ſo will ſie ſich losreißen, da kränkt ſie die Liebe ſo tief wie möglich; denn mehr als ſiebenmal, denkt ſie, kann ſelbſt die Liebe nicht vergeben. Aber ſiehe, die Liebe konnte ſiebzigmal ſiebenmal vergeben, und die Sünde wird raſcher müde, Vergebung zu verſchulden, als die Liebe, ſie zu geben. Ja, wie es eine Macht der Sünde gibt, die Ausdauer genug hat, jedes beſſere Gefühl eines Menſchen auszuzehren, ſo gibt es eine himmliſche Macht, die der Sünden Menge in einem Menſchen aushungert; dieſe Macht iſt die Liebe, die der Sünden Menge deckt. |

Oder ift es fo nicht? Sollen wir vorziehen, eine Klugheit zu preiſen, die noch furchtbarer der Sünden Menge zu ſchildern weiß? Oder ſollen wir lieber dieſe Klugheit fragen, woher ihr ein ſolches Wiſſen kam? Ja, wenn ſie die Liebe davon über⸗ zeugen könnte, daß es ſo ſich verhielte, ſo würde die Liebe wohl niemals anfangen und nichts erreichen. Aber deshalb fängt die Liebe damit an, der Sünden Menge zu decken, und deshalb endet ſie da, wo ſie anfing: ſie deckt der Sünden Menge.

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Selig der Mann, deſſen Sünden gedeckt find, ſeliger die Liebe, die der Sünden Menge deckt!

Liebe deckt der Sünden Menge. Wenn die Liebe in der Welt geſiegt hätte, ſo wäre ja der Sünden Menge gedeckt und alles vollkommen in der Liebe. Wenn die Heerſchar der Liebe in der Welt zahlreich wäre, wenn ſie gleich an Zahl mit der des Feindes wäre, ſo daß ſie Mann gegen Mann ſtreiten könnte ja, wie ſollte die Liebe da nicht ſiegen, da ſie der Stärkſte iſt! Wenn aber die Diener der Liebe eine kleine Schar ſind, wenn jeder nur ein einzelner Mann iſt, ſoll da die Liebe wirklich vermögen, der Sünden Menge zu decken? Oder iſt das apoſtoliſche Wort, inſoweit wir dabei an etwas anderes denken wollen als an die fromme Unwiſſenheit der Liebe und ihren Eifer innerhalb ihrer Grenze iſt das apoſtoliſche Wort nicht in ſolchem Fall eine ſchöne aber doch müßige Rede? Sollen wir das apoſtoliſche Wort als eine begeiſterte Torheit betrachten oder lieber die Klugheit preiſen, die ſagt: der Gang des Lebens folgt beſtimmten Geſetzen, laß die Liebe im Augenblick der Not Tür an Tür mit der Gottloſigkeit wohnen, ſie nützt der Gott⸗ loſigkeit nicht. Würde der Verſtand ebenſo bereit das Gegen⸗ teil ausſagen, daß es nichts zur Sache tue, wenn Gottloſigkeit neben der Liebe wohnt? Will der Verſtand leugnen, daß im Leben oft der Unſchuldige mit dem Schuldigen leiden muß? Laſſet uns den Verſtand fragen. Ein alter Heide, der im Alter⸗ tum als Weiſer genannt und geprieſen wurde, ſegelte mit einem

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Gottloſen auf demſelben Schiff. Als das Schiff in Not kam, erhob der Gottloſe ſeine Stimme, um zu beten; aber der Weiſe ſagte zu ihm: „Sei ſtill, Lieber, wenn der Himmel entdeckt, daß du mit an Bord biſt, geht das Schiff unter.“ So iſt es denn wahr, daß der Schuldige den Untergang des Unſchuldigen ver⸗ anlaſſen kann? Aber ſo iſt ja das Gegenteil auch wahr! So fehlte dem Verſtand vielleicht bloß der Mut, es zu glauben, und während er genug hatte von der troſtloſen Klugheit, die das Elend des Lebens entdeckt, hatte er kein Herz, die Macht der Liebe zu faſſen. Iſt das nicht ſo? Denn der Verſtand macht doch allzeit einen Menſchen nur verzagt und kleinmütig, aber die Liebe gibt Freimut, und darum iſt alle apoſtoliſche Rede frei⸗ mütig. Wenn da an Bord desſelben Schiffes anſtatt eines Gottloſen ein frommer Mann geweſen wäre, ein Apoſtel?! Ge⸗ ſchah das nicht? Es ſegelte ein heidniſches Schiff von Kreta und ſteuerte nach Rom, und das Schiff geriet in Not, viele Tage ſah man weder Sonne noch Sterne, an Bord desſelben Schiffes war ein Apoſtel, und Paulus trat vor und ſagte zu denen, die mit ihm auf dem Schiffe waren: „Ihr Männer, ich ermahne euch, daß ihr unverzagt ſeid, denn keines Leben aus uns wird umkommen.“ Oder ſollte Gottloſigkeit wirklich größere Macht haben als Liebe; ſollte dies, daß ein Gottloſer an Bord war, die Macht haben, die Lage anderer zu verändern, aber ein Apoſtel ſollte keine ſolche Macht haben? Oder ſagt nicht der Herr ſelbſt, daß die Tage der Trübſal verkürzt werden ſollen um der Aus⸗ erwählten willen?

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Liebe deckt der Sünden Menge

Iſt es eine unwürdige Vorſtellung von Gott, zu meinen, daß Liebe ſo der Sünden Menge decke? Vergeſſen wir nicht in unſerer Rede und in unſerer Überlegung, daß Gott im Himmel nicht aufgehalten wird von einer Täuſchung, daß ſein Gedanke lebendig und gegenwärtig iſt, alles durchdringt und eines Menſchen Rat richtet?! Sollte einer das Recht haben, uns zu mahnen, ſobald wir die Liebe preiſen wollen, uns lieber einzuſchränken, um das Wahre zu ſagen, nämlich daß es ſchön und liebenswürdig ſei, daß die Liebe gerne der Sünden Menge decken und den Zorn abwenden wolle, als uns in Übertreibungen zu verirren, indem wir ſagen, daß die Liebe der Sünden Menge deckt? Hat der, welcher ſo redet, nicht vergeſſen, was nicht wir vergeſſen, daß die Liebe für die Sünden anderer bittet; hat er nicht vergeſſen, daß das Gebet des Gerechten viel vermag?!

Als Abraham inſtändig mit dem Herrn ſprach und ihn für Sodom und Gomorra bat, deckte er da nicht der Sünden Menge? Oder iſt es vielleicht ein preiſenswerter Scharfſinn, wenn einer ſagen will, daß er durch ſein Gebet ja ebenſoſehr

an der Sünden Menge erinnerte und das Gericht herbeirief, fo

wie ſein eigenes Leben bereits ein Gericht war, daß, wenn es die Kraft zu einer Bedingung hätte, eher das Gericht noch ſchreck— licher machen müßte? Wie bat Abraham? Laſſet uns menſchlich darüber reden! Riß er nicht den Herrn gleichſam mit hinein in ſeinen Gedankengang, brachte er nicht den Herrn dazu, der Sün⸗ den Menge zu vergeſſen, um die Zahl der Gerechten zu zählen, ob fünfzig, fünfundvierzig, vierzig, dreißig, zwanzig, ja ſogar

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nur zehn Unſchuldige wären. Deckte Abraham da nicht der Sün⸗ den Menge, beweiſt der Untergang der Stadt das Gegenteil oder beweiſt er anderes, als daß nicht einmal zehn Unſchuldige in Sodom waren? Und doch, was war ſelbſt Abraham im Ver⸗ gleich mit einem Apoſtel; was war ſein Freimut im W mit dem eines Apoſtels?

Groß iſt ein Menſch, daß ſein Leben, ſo es gerecht iſt, auch die Engel richten wird; ſeliger die Liebe, die der Sünden Menge

deckt!

Wir haben die Macht der Liebe, der Sünden Menge zu decken, geprieſen, wir haben wie zu Vollkommenen geredet. War einer, der ſich nicht vollkommen fühlte, die Rede machte keinen Unterſchied. Laſſet uns noch einmal bei dieſer Liebe verweilen, um das Bild von ihr zu betrachten, das zur Anſchauung vor die Seele ſich ſtellt. War da einer, der, indem er ſich ſelbſt in dieſem Spiegel betrachtete, von ſeiner Ungleichheit ſich vergewiſſerte, war es der Fall mit allen: die Rede macht keinen Unterſchied.

Als die Schriftgelehrten und die Phariſäer ein Weib in offenbarer Sünde ergriffen hatten, ſtellten ſie ſie in die Mitte des Tempels vor das Angeſicht des Erlöſers; aber Jeſus bückte ſich nieder und ſchrieb mit dem Finger in den Sand. Er, der alles wußte, wußte wohl auch, was die Schriftgelehrten und die Phariſäer wußten, ehe ſie es Ihm ſagten. Die Schriftge⸗ lehrten und die Phariſäer entdeckten raſch ihre Schuld, es war ja auch leicht, da ihre Sünde offenbar war. Sie entdeckten

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zugleich eine andere Sünde, die, deren fie felber ſich ſchuldig machten, indem ſie ränkevoll dem Herrn eine Falle ſtellten. Aber Jeſus bückte ſich nieder und ſchrieb mit dem Finger in den Sand. Warum bückte Er ſich nieder; warum ſchrieb Er mit dem Finger in den Sand? Saß Er da wie ein Richter, der auf die Rede des Anklägers genau achtet, der lauſchend ſich bückt und den Klagepunkt aufzeichnet, daß er ihn nicht vergeſſe und daß er ſtreng richte; war dieſes Weibes Schuld das einzige, das ſchriftlich vom Herrn aufgezeichnet wurde? Oder ſchreibt, wer mit dem Finger in den Sand ſchreibt, ſchreibt er nicht eher, um auszulöſchen und zu vergeſſen? Da ſtand die Sünderin, umringt von vielleicht Schuldigeren, die laut ſie anklagten, aber die Liebe bückte ſich nieder und hörte nicht die Anklage, die über Ihr Haupt in der Luft verwehte, Sie ſchrieb mit dem Finger, um auszulöſchen, was Sie ſelbſt wußte; denn die Sünde ent⸗ deckt der Sünden Menge, aber Liebe deckt der Sünden Menge. Ja, ſelbſt in den Augen der Sünde deckt die Liebe der Sünden Menge; denn durch ein Wort des Herrn verſtummten die Phariſäer und die Schriftgelehrten, und es war kein Ankläger mehr, keiner, der ſie richtete. Aber Jeſus ſagte zu ihr: „Ich ver⸗ damme dich auch nicht, gehe hin und ſündige hinfort nicht mehr; denn die Strafe der Sünde gebiert neue Sünde, aber Liebe deckt der Sünden Menge.“

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Zweiter Teil.

Wie die apoſtoliſche Rede durch ihren Inhalt von aller nur menſchlichen Rede weſentlich verſchieden iſt, ſo iſt ſie es auch auf mancherlei Weiſe durch ihre Form. Um ein einzelnes zu nennen: ſie hält den Hörer nicht auf und lädt ihn nicht ein, zu ruhen; ſie hält den Redner nicht auf und läßt ihn ſelbſt der Arbeit nicht vergeſſen. Die apoſtoliſche Rede iſt bekümmert, feurig, brennend, entflammt, überall und allzeit bewegt von den Kräften des neuen Lebens, rufend, zurufend, winkend, ſtark im Ausbruch, kurz, abgebrochen, erſchütternd, ſelbſt durch⸗ ſchüttert ſo von Furcht und Zittern, wie von Sehnſucht und ſeliger Erwartung, zeugend überall von des Geiſtes kräftiger Unruhe und der tiefen Ungeduld des Herzens. Wie ſollte der, der ſelber läuft, Zeit zu langer Rede bekommen; ſo müßte er ſelbſt ſtille ſtehen! Wie ſollte der, der alles für alle ſein will, Zeit zu weitläufiger Betrachtung bekommen; ſo würde er ja nicht hurtig genug die Waffen des Geiſtes wechſeln können! Wie ſollte der, der mit der Hoffnung vollen Segeln nach dem Voll⸗ kommenen ſteuert, viele Augenblicke zu menſchlicher Ausführ⸗ lichkeit haben! Aber iſt die apoſtoliſche Rede allzeit ungeduldig wie eine Gebärende, ſo ſind es im beſonderen doch zwei Betrach⸗ tungen, die ſie noch mehr entflammen: die Vorſtellung, daß die Nacht vorbei iſt und der Tag angebrochen; daß die Nacht lange genug gedauert hat und es gilt, den Tag zu benützen, und die andere Vorſtellung, daß die Zeit kommt, wo man nicht

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mehr arbeiten kann, daß die Tage gezählt find, daß das Ende nahe iſt, daß aller Dinge Ende ſich nähert.

Auch der vorgeleſene Text zeugt von dieſer apoſtoliſchen Feurigkeit und beginnt mit einem: deshalb, dem im Briefe des Apoſtels die unmittelbar vorhergehenden Worte entſprechen: „Es iſt aber nahe kommen das Ende aller Dinge“, welche Worte nicht bloß jenes deshalb erklären, ſondern auch, was vielleicht, menſchlich geſprochen, im Text eine Erklärung brauchen könnte, der ja zugleich zeigt, wie die apoſtoliſche Un⸗ geduld ſo ſehr verſchieden iſt von der Übereilung eines gereizten Menſchen. Denn ſcheint es nicht eigentümlich, daß an die ſchöne Ermahnung: „Vor allen Dingen aber habt untereinander eine brünſtige Liebe!“ gerade auf die daran geknüpften bedeutungs⸗ vollen Troſtworte: „Liebe deckt der Sünden Menge“ eine ſchein⸗ bar ſo zufällige Ermahnung folgt wie dieſe: „Seid gaſtfrei untereinander ohne Murmeln.“ Und doch beweiſt eben dieſe Mahnung die apoſtoliſche Autorität und Weisheit. Wo gab es wohl einen aufgeregten Mann, der, wenn er dieſe Worte geſagt hätte: „Es iſt aber nahe kommen das Ende aller Dinge“, eine ſolche Ermahnung hinzugefügt hätte?! Sollte es nicht von ſelbſt folgen, daß ſie überflüſſig wäre? Denn würde er nicht, wenn möglich, mit ſeiner Rede bewirken, daß die Häuſer leer wür den, ſo daß kaum einer ſich fände, der gaſtfrei ſein wollte, und wenn es einen ſolchen doch gäbe, er nicht nötig hätte, in Ver⸗ legenheit zu kommen? Aber ſo iſt ein Apoſtel nicht ungeduldig, und ſeine Unruhe iſt höher, als alle menſchliche Beſonnenheit.

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

Der Apoſtel liebt ſeine Gemeinde zu hoch, um ſchwach das Furchtbare zu verſchweigen: daß das Ende aller Dinge ſich nähert, aber auf der anderen Seite weiß er ſofort wieder die Ge⸗ meinde ſo zur Ordnung zu rufen, daß es iſt, als wäre der Schrecken vergeſſen, als wäre Friede und Sicherheit, erwünſchte Gelegenheit, ſelbſt in den geringfügigen Verhältniſſen des Le⸗ bens feine Liebe zum Nächſten zu beweiſen. Die Rede davon, daß das Ende aller Dinge nahe iſt, iſt hier nicht eine unfrucht⸗ bare Gewitterwolke, die hinfährt und alles verwirrt, ſondern eine Angſt, welche die Luft reinigt, und alle milder macht und innerlicher und liebreicher und raſcher, die gelegene Zeit zu kaufen, aber auch ſtark genug, nicht matt zu werden durch den Gedanken, daß die gelegene Zeit vorüber ſei. Der Apoſtel, der redet, iſt nicht in Träumen berauſcht, ſondern nüchtern in ſeinen Gedanken und in ſeiner Rede.

„Aber aller Dinge Ende iſt nah.“ Das iſt ein furchtbares Wort ſelbſt im Mund eines Leichtſinnigen, geſchweige in dem eines Apoſtels. Doch darum fügt Petrus auch ein Troſtwort hinzu, das ſtark iſt, um die Angſt zu überwinden: „Liebe deckt der Sünden Menge“. Oder braucht es das vielleicht nicht? Iſt mit dem Ende aller Dinge alles vorbei? Braucht es ein anderes Verſteck, als das, welches jedem vergönnt wird, dem Gerechten und dem Ungerechten? Iſt der, welcher im Schoße der Erde liegt, nicht gedeckt und wohl verwahrt? Sollte einer ſein, der hier den Apoſtel nicht verſtand, weil er nicht ausdrücklich den Tag nennt, an dem von einer ſolchen Liebe die Rede ſein wird? Oder haben

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Liebe deckt der Sünden Menge

des Schreckens und dann auch des Troſtes Worte ihre De- deutung dadurch verloren, daß das Ende aller Dinge nicht ein⸗ traf, wie es vorausgeſagt war? Iſt ein Apoſtel ein müßiger Mann, dem bloß daran liegt, im allgemeinen das Ende aller Dinge vorauszuſagen, als etwas, das ihn ſelbſt und die Ein⸗ zelnen nichts angeht, außer inſoweit es die Neugierde zufrieden⸗ ſtellen könnte? Oder lag ihm nicht vornehmlich im Sinn, daß mit dem Ende aller Dinge auch ſeine und ſeiner Gemeinde Tage gezählt wären? Aber dies traf ja wirklich den Apoſtel und die Gemeinde; das wiederholt ſich beſtändig im Geſchlecht, und das Nächſte wiederholt ſich auch; denn dem Menſchen iſt geſetzt, einmal zu ſterben, danach aber das Gericht. Aber am Tage des Gerichts wird auch eine Rüſtung gefordert. Dieſe beſchreibt der Apoſtel und ihre Vollkommenheit. Dieſe Rüſtung iſt die Liebe; das einzige, das nicht abgeſchafft werden ſoll, das einzige, das bei einem Menſchen im Leben bleibt und bei ihm im Tode bleibt, und im Gericht ſiegen ſoll. Denn die Liebe iſt nicht wie ein betrügeriſcher Freund, der zuerſt einen Menſchen verführt und dann bei ihm bleibt, um ſeiner zu ſpotten. Nein, die Liebe bleibt bei einem Menſchen; und wenn alles für ihn ſich ver- wirrt, wenn die Gedanken anklagend aufſtehen, wenn die Angſt richtend ihr Haupt erhebt, da droht ihnen die Liebe und ſagt zu ihm: Hab bloß Geduld, ich bleibe bei dir, und zeuge für dich, und mein Zeugnis ſoll doch die Verwirrung überwinden. Ja, ſelbſt wenn die Liebe einen Menſchen irre führte, wenn ſie ſelbſt auch nicht hintennach ihn freiſprechen kann, ſie ſagt doch: Sollte ich

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dich verlaſſen in der Stunde der Not? wenn auch alles dich ver⸗ ließe, wenn du von dir ſelber verlaſſen würdeſt, ich bleibe doch bei dir, ich, die dich irre führte, aber die auch den Troſt für dich hat, daß ich es war, die es tat. Wenn es ſo nicht wäre! Welche Macht vermag einen Menſchen ſo zu bewegen, das Schreckliche zu wagen, wie die Liebe! Welches Entſetzen, wenn ſie nicht zu⸗ gleich verſtände, ſich für ſich ſelbſt zu erklären, verſtändlich für den Einzelnen, wenn auch keine andere Seele es verſtände!

So laſſet uns näher das apoſtoliſche Wort überlegen. Der Apoſtel redet zu Unvollkommenen; wie ſollte auch ein Voll⸗ kommener der Sünden Menge haben, die gedeckt werden müßte! Aber die Un vollkommenen, die Zerknirſchten, fie tröſtet er auch mit dem Gedanken, daß Liebe der Sünden Menge decke. Wir ſollen nicht leichtſinnig das apoſtoliſche Wort verfälſchen, nicht klug uns ſelber betrügen und das Wort hintergehen mit der Meinung, daß der, welcher Liebe hat, vollkommen iſt. Wer ſich nicht in der Menge der Sünden befindet, die gedeckt werden müſſen, auf ihn paßt das Wort nicht; aber, wer ſich nicht tröſten laſſen will, dem nützt das Wort nichts; denn darin liegt der Troſt, daß in demſelben Herzen, in welchem der Sünden Menge iſt, Liebe wohnen kann, und daß dieſe Liebe die Macht hat, der Sünden Menge zu decken.

Doch wie iſt dieſes möglich? Liebe entdeckt ja in einem ſelbſt der Sünden Menge. Gab es nicht oft in der Welt den, der leicht und ſorglos hinlebte mit dem Frohſinn der Jugend, ohne ſich zu überheben aus eigener Vollkommenheit, aber auch ohne ſich

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gebeugt zu fühlen oder aufgehalten von irgendeinem beſchweren⸗ den Bewußtſein, bis die Liebe ihn ergriff, und das Vergangene ihm nicht mehr behagte, weil die Liebe auf ſo mancherlei Weiſe Unvollkommenheit und Schwachheit entdeckt hatte. Ging es dem Verſtändigen beſſer? Er mißbilligte den Leichtſinn der Jugend, er achtete auf ſich ſelbſt, er ſtrebte ſeine Fehler abzulegen, aber durch dieſes Streben gewann er auch eine Selbſtzufriedenheit, welche die Probe des Verſtandes nicht fürchtete, die Ehre nahm von den Menſchen, die die Welt zum Kampf herausforderte da zielte die Liebe auf ihn, und ſiehe! er, der fein Haupt ſtolz ge⸗ tragen hatte, deſſen Blick die Menſchen beherrſcht hatte, er ſchlug jetzt die Augen nieder; denn er hatte der Sünden Menge entdeckt. Und er, der vor dem ſtrengen Urteil des Verſtandes beſtehen konnte, er konnte das milde der Liebe nicht aushalten! Doch dem Gerechten geſchieht ſolches nicht. Er war ſtreng gegen ſich ſelbſt und wünſchte nicht, wie andere zu ſein, er wußte, daß der, welcher ſich ſelber bewahren will, arbeiten und vieles ſich verſagen muß, aber er wußte auch, was er in dieſem Kampf ge⸗ wänne: daß er Erkenntnis der Weisheit gewänne, daß es eine Gerechtigkeit im Himmel gibt; denn er dünkte ſich ſelbſt gerecht. Da ſah die himmliſche Liebe nieder auf ihn, und ſiehe! er, der ſich darauf vertröſtet hatte, jedem das Seine geben zu können, dem Menſchen, was des Menſchen iſt, Gott, was Gottes iſt; er, der ſchon hier im Leben ſich darauf freute, am Tage des Gerichts die Rechenſchaft abzulegen, er hatte nun der Sünden 8 Menge entdeckt, ſo daß er nicht eins auf tauſend erwidern

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konnte. Ja, nicht nur, daß die Liebe ſo in einem Augenblick das Verborgene entdeckte, nein, es war, als vermehrte die Liebe der Sünden Menge in der Zukunft. Was er in ſtolzer Zuverſicht zu ſich ſelbſt leicht überwunden hatte, das fiel ihm nun ſchwer, weil ſeine Seele bekümmert war in Liebe. Wo er zuvor keine Verſuchung geahnt hatte, da ſah ſie nun lockend nach ihm, und er vernahm Furcht und Zittern, das er nie gekannt hatte. Und daß es in Wahrheit ſo ſei, darüber vergewiſſerte er ſich leicht; denn wollte er ſeiner eigenen Gerechtigkeit ſich überlaſſen, ſo verſchwand die Verſuchung.

Aber iſt es möglich, daß dieſelbe Macht, die der Sünden Menge entdeckt; dieſelbe Macht, die, indem ſie die Bekümme⸗ rung der Liebe in eines Menſchen Herz gießt daß dieſelbe Macht ſie decken kann in demſelben Menſchen? Und doch, wäre es gut, daß es nicht ſo wäre? Was iſt Liebe? Iſt ſie ein Traum in der Nacht, in welchen man ſich ſchläft? Iſt ſie eine Betäubung, in der alles vergeſſen iſt? Sollen wir verächtlich von der Liebe denken, daß ſie in dieſem Sinn der Sünden Menge decke? So wäre es beſſer, den Leichtſinn der Jugend zu behalten, oder die Selbſtprüfung des Mannes, oder die eigene Gerechtigkeit des Menſchen. Soll die Weisheit gekauft werden, der Verſtand ge⸗ kauft werden, der Friede des Herzens gekauft werden, des Him⸗ mels Seligkeit gekauft werden, ſoll das Leben mit den Geburts⸗ wehen gekauft werden die Liebe aber ſollte keine Wehen kennen? Liebe iſt kein Traum; ſollten wir ſie aber ſo nennen, ſo wäre es wohl am beſten zu ſagen: ihr erſter Schmerz iſt ein

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unruhiger und angſtvoller Traum, der mit einem ſeligen Er⸗ wachen endet zu der Liebe, die der Sünden Menge deckt. Denn Liebe nimmt alles. Sie nimmt eines Menſchen Vollkommen⸗ heit, und will er hier karg ſein, ſo iſt die Liebe ihm hart; aber ſie nimmt auch ſeine Unvollkommenheit, ſeine Sünde, ſeine Sorge. Sie nimmt ſeine Stärke von ihm! aber auch ſein Leiden, oder welche furchtbaren Leiden deckte nicht die Liebe, als wären ſie nicht da, ſondern nur die Freude der Liebe, einen anderen zu retten? Aber wenn ſie das von ihm nimmt, ſo deckt ſie es ja; wenn ſie alles nimmt, ſo deckt ſie alles! wenn ſie, je nachdem ſie es von ihm nimmt, ihm etwas anderes dafür gibt, ſo deckt ſie ja über allen Verſtand. Die Menſchen haben oft gemeint, daß es andere Mittel gäbe, die wegzunehmen vermöchten und dadurch zu decken, was man gedeckt wünſchen müßte. Indeſſen hat ein alter Heide ſchon geſagt: es hilft einem Menſchen nichts, von der Sorge wegzureiten, ſie ſitzt hinter ihm auf dem Pferd. Dieſe ſeine Worte ſind oft wiederholt worden als ſolche, die einen tiefen Einblick in das menſchliche Herz verraten. Und doch: wenn jener alte Heide, der auf ſeinem Pferd mit der Sorge hinter ſich durch das Leben ritt wenn er nicht nötig gehabt hätte, hinter ſich zu ſehen —; aber das tut die Liebe nicht. Wie ſollte auch das Auge, das liebt, Zeit bekommen, nach dem zu ſehen, was zurückliegt, ſo müßte es ja für dieſen Augenblick ſeinen Gegenſtand fahren laſſen! Wie ſollte das Ohr, das liebt, Zeit bekommen, die Anklage zu hören, ſo müßte es ja für dieſen Augenblick aufhören, auf die Stimme der Liebe zu hören! Und

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wenn das Auge danach ſchielt, wenn das Ohr danach lauſcht, ſo iſt das Herz kleinlich, und dies iſt nicht die Schuld der Liebe, ja, ſie iſt erzürnt darüber; denn der, welcher ſeine eigene Voll⸗ kommenheit bedenken will, liebt nicht, und der, welcher ſeine eigene Unvollkommenheit in Anſchlag bringen will, liebt auch nicht. Ja, wenn er ſich ſelbſt ſo unvollkommen glaubte, daß er auf Grund deſſen von der Liebe ausgeſchloſſen wäre, ſo zeigte er, daß er nicht liebte, denn er ſchlug ſeine Unvollkommen⸗ heit an und brachte ſie in Rechnung, als wäre ſie eine Voll⸗ kommenheit. Aber Liebe nimmt alles. Und der, welcher ſich ausſchließt, will entweder über ſich ſelbſt ſich freuen und nicht über die Liebe ſich freuen; oder er will über ſich ſelbſt trauern und nicht über die Liebe ſich freuen. |

Doch um einen Menſchen fo zu lieben, muß man den Mut haben, lieben zu wollen; denn das iſt das Geheimnis der irdiſchen Liebe, daß ſie ein Gepräge der göttlichen Liebe auf ſich trägt, ohne das ſie eine Torheit wäre oder eine fade Liebelei, wie wenn der eine Menſch ſo vollkommen wäre im Vergleich zum anderen, daß er dieſe Angſt wecken oder imſtande ſein könnte, alles zu nehmen. Um Gott ſo zu lieben, iſt eine demütige Freimütigkeit gefordert; denn die Gottesliebe erwacht in jedes Menſchen Bruſt weinend, wie der zarte Säugling, nicht lächelnd wie das Kind, das die Mutter kennt. Aber wenn die Gottes⸗ liebe den Herrn feſthalten will, ſo erhebt ſich der Feind furcht⸗ bar gegen ſie, und die Macht der Sünde iſt groß, Angſt einzu⸗ jagen. Doch die Liebe ſchließt ihr Auge nicht in der Stunde der

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Gefahr, fie bietet ſich ſelber dar, um, wie ein alter Pſalmen⸗ ſänger ſagt, um „durch die Pfeile der Sünden in des Paradieſes Frieden zu dringen“. Und in je weiterer Ferne ſie die Menge der Pfeile erblickt, deſto furchtbarer wirken ſie, aber je näher ſie vordringt, um ſo weniger ſieht ſie die Pfeile, und wenn ſie alle in ihrer Bruſt aufgefangen hat, verwundet von ihnen allen, ſo ſieht ſie ja nicht mehr die Pfeile, ſondern nur die Liebe und die Seligkeit des Paradieſes.

Als Jeſus eines Tages zu Tiſche ſaß bei einem Phariſäer, trat ein Weib ein in dasſelbe Haus. Ein Weib war kein ge⸗ ladener Gaſt, dieſes am wenigſten von allen; denn die Phariſäer wußten, daß ſie eine Sünderin war. Wenn nichts anderes ſie erſchrecken und aufhalten gekonnt hätte, die ſtolze Verachtung der Phariſäer, ihr ſchweigender Unwille, der Zorn ihrer Heilig- keit hätte ſie wohl abſchrecken können; aber ſie trat hinten zu Seinen Füßen und weinte, und fing an, Seine Füße zu netzen mit Tränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, und küßte Seine Füße und ſalbte ſie mit Salbe. Da war ein Augenblick der Angſt; was ſie einſam gelitten hatte, ihr Gram, die Anklage in ihrer eigenen Bruſt ward noch furchtbarer; denn dieſe verſtand ganz wohl, daß ſie Beifall hatte in der Miene der Phariſäer. Aber fie trat vor, und indem fie den Feind ſchlug, ſchlug ſie ſich ſelbſt zur Ruhe, und da ſie Ruhe gefunden hatte zu den Füßen Chriſti, verlor ſie ſich im Werke der Liebe. Und allwie ſie weinte, vergaß ſie zuletzt, worüber fie anfangs ge- weint hatte: die Tränen der Reue wurden Tränen der An-

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

betung. Ihr wurden viele Sünden vergeben, weil ſie viel liebte. Es gab ſolche in der Welt, die, nachdem ſie ihr Leben im Dienſte der Luſt verloren hatten, zuletzt ſich ſelbſt verloren und kaum mehr ſich ſelbſt erkannten. Das iſt der ſchändliche und entſetz⸗ liche Betrug der Luſt, daß ſie einen Menſchen um ihn ſelber betrügt und ihn nur eine leichtſinnige, vorübergehende Ahnung von dem eigenen Daſein behalten läßt; daß ſie ſich vermißt, Gott um ſein Mitwiſſen im Geſchöpf betrügen zu wollen. Dieſem Weibe ward die Gnade vergönnt, gleichſam ſich aus ſich ſelbſt herauszuweinen und in den Frieden der Liebe ſich zu weinen. Denn dem, welcher viel liebt, wird viel vergeben. Und das iſt der Liebe ſeliger Betrug, „daß der, welchem viel vergeben wird, viel liebt“, ſo daß dies: Viel Vergebung bedürfen zum Ausdruck für die Vollkommenheit der Liebe wird.

Aber wenn auch die Liebe im Angeklagten ſelbſt die Macht hätte, ihm den Anblick der vielen Sünden zu entziehen, ſo daß er verloren in Liebe ſie nicht mehr ſähe, weil die Liebe ſie deckte iſt er damit für immer gerettet? Soll nichts ihn aufhalten auf ſeinem Weg und ihn plötzlich zwingen, zu erinnern, was die Liebe deckte; kommt kein Gericht von außen über einen Menſchen? Hat die Liebe hier wieder dieſelbe Macht, ſo daß nicht einmal der Richter der Sünden Menge entdeckt, weil die Liebe ſie deckt. Laß einen Richter ſich täuſchen, durchdringt er nicht jeden Schleier und macht alles offenbar? Laß einen Richter ſich be⸗ ſtechen laſſen, fordert er nicht unbeugſam, was die Forderung des Gerichts iſt? Läßt das Urteil der Welt ſich täuſchen? Biete

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Liebe deckt der Sünden Menge

ihr dieſe Liebe an, und du fährſt fort, Schuldner zu ſein; bring ihr deines Herzens beſtes Gefühl, und du fährſt fort, Schuldner zu ſein; biete die Tränen der Reue, und das Gericht fordert die eigene Gerechtigkeit. Läßt das Urteil der Liebe ſich beſtechen? Biete ihr Gold, ſie wird dich verachten; biete ihr Macht und Gewalt, ſie verſchmäht dich; biete die Herrlichkeit der Welt, ſie richtet dich, daß du die Herrlichkeit der Welt liebteſt; ver⸗ künde deine wunderbaren Taten, ſie richtet dich, daß du nicht in der Liebe warſt. Denn das Gericht fordert, was des Gerichtes Forderung iſt, und das Urteil der Welt fordert, was der Welt iſt, und dies verbirgt in ihren Augen, was da mangelt; aber das Urteil der Liebe fordert, was der Liebe iſt; denn der, welcher richtet, fordert, aber der, welcher fordert, ſucht, und der, „welcher Sünde zudeckt, ſucht Liebe“; aber der, welcher Liebe findet, deckt der Sünden Menge; denn der, welcher findet, was er ſuchte, deckt ja, was er nicht ſuchte.

Iſt das Wort des Apoſtels nicht ein Troſt, der Freimütigkeit gibt im Gericht; iſt es nicht ein Troſt, gerade wie er gebraucht wird; denn geht er nicht über allen Verſtand! Groß iſt es für den Verſtand, alles zu erinnern; eine Torheit iſt es für ihn, daß die Liebe der Sünden Menge decke. Oder ſollten wir uns dieſes Troſtes berauben, indem wir verſtändig gleichſam die Liebe abweiſen wollen, indem wir fie zer ſtückeln als Entgelt für die einzelnen Sünden, und ſo in den Sünden bleiben? Sollten wir uns von der Liebe ausſchließen; denn, wenn wir in ihr bleiben, wo iſt der, der anklagt? Oder iſt es nicht dieſelbe Liebe

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Sören Kierkegaard Religiöfe Reden

in einem Menſchen, die vor ihm ſelbſt der Sünden Menge deckte, dieſelbe Liebe, die vor der Liebe der Sünden Menge deckte? Ja, ſelbſt wenn die Liebe nicht ganz in einem Menſchen geſiegt hätte, ſelbſt wenn die Angſt entdeckte, was die Liebe nicht Kraft genug hatte, in ihm zu decken, ſo wird doch am Tage des Ge⸗ richts „die Liebe“ der Liebe in ihm zu Hilfe kommen, die Furcht ausjagen und der Sünden Menge decken.

Da Jeſus eines Tages zu Tiſch ſaß bei einem Phariſäer, trat in dasſelbe Haus ein Weib ein; ſie war niedergebeugt; denn ſie hatte viele Sünden. Das Urteil der Welt ſtand lesbar im Antlitz der Phariſäer; ſie ließ ſich nicht täuſchen, ihre Sorge und ihre Tränen verbargen nichts, ſondern offenbarten alles, und da war nichts zu entdecken, als der Sünden Menge. Doch ſie ſuchte nicht das Urteil der Welt, „ſondern ſie trat hinten zu Jeſu Füßen und weinte“. Da entdeckte die Liebe, was die Welt deckte —: die Liebe in ihr; und da ſie in ihr nicht geſiegt hatte, kam die Liebe des Erlöſers ihr zu Hilfe, „daß ſie, der die fünfhundert Pfennig nachgelaſſen wurden, am höchſten liebte“, und Er machte die Liebe in ihr noch mächtiger, der Sünden Menge zu decken, die Liebe, die ſchon da war; denn „ihr wurden ihre vielen Sünden vergeben, weil ſie viel liebte!“

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Selig der Menſch, deſſen Herz mit ihm zeugt, daß er viel liebte; ſelig ein Menſch, wenn Gottes Geiſt, der alles weiß, zeugt, daß er viel liebte; für ihn gibt es Troſt hier und dort; denn Liebe deckt der Sünden Menge.

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Über den Glauben

Gebet Wieder iſt ein Jahr vergangen, himmliſcher Vater! Wir danken Dir dafür, daß es zur Zeit der Gnade gelegt ward, und erſchrecken nicht darüber, daß es auch zur Zeit der Rechenſchaft gelegt werden ſoll; denn wir vertröſten uns auf Deine Barm⸗ herzigkeit. Das neue Jahr ſteht vor uns mit ſeinen For de⸗ rungen; und gehen wir auch gebeugt und bekümmert hinein, weil wir vor uns nicht verheimlichen können und wollen den Gedanken an der Augen Luſt, die betörte; an die Süße der Rache, die verführte; an den Zorn, der uns unverſöhnlich machte; an das kalte Herz, das weit von Dir wegfloh; ſo gehen wir doch auch nicht ganz mit leeren Händen hinein; denn wir wollen auch ſie mit uns nehmen: die Erinnerungen an die bangen Zweifel, die beruhigt wurden; an die ſtillen Bekümmerungen, die gelindert wurden; an den niedergedrückten Sinn, der erhoben wurde; an die frohe Hoffnung, die nicht beſchämt wurde. Ja, wenn wir in ſorgenvollen Augenblicken unſern Sinn ſtärken und aufrichten wollen durch den Gedanken an die großen Männer, Deine erwählten Werkzeuge, die in ſchweren Anfech⸗ tungen, in der Angſt des Herzens den Sinn frei behielten, den

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

Mut ungeſchwächt, den Himmel offen, ſo wollen wir auch dazu unſer Zeugnis legen in der Überzeugung, daß, wenn auch unſer Mut im Vergleich mit dem Jener nur Mißmut iſt, unſere Macht nur Ohnmacht, Du doch derſelbe biſt, derſelbe gewaltige Gott, der die Geiſter prüft im Streit, derſelbe Vater, ohne deſſen Wille nicht ein Sperling zur Erde fällt. Amen.

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Gal. III, 23-29: „Ehedenn aber der Glaube kam, wurden wir unter dem Geſetz verwahret und verſchloſſen auf den Glauben, der da ſollte offenbar werden. Alſo iſt das Geſetz unſer Zuchtmeiſter geweſen auf Chriſtum, daß wir durch den Glauben gerecht würden. Nun aber der Glaube kommen iſt, ſind wir nicht mehr unter dem Zuchtmeiſter. Denn ihr ſeid alle Gottes Kinder durch den Glauben an Chriſtum Jeſum. Denn wieviel euer auf Chriſtum getauft find, die haben Chriſtum angezogen. Hie iſt kein Jude noch Grieche, hie iſt kein Knecht noch Freier, hie iſt kein Mann noch Weib; denn ihr ſeid allzumal einer in Chriſto Jeſu. Seid ihr aber Chriſti, ſo ſeid ihr ja Abrahams Same und nach der Verheißung Erben. |

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Über den Glauben

Das Feſt, das wir heute feiern, hat keinen kirchlichen Namen, und doch iſt ſeine Feier uns nicht weniger willkommen; ſeine Aufforderung zum ſtillen Nachdenken iſt nicht weniger ernſt. Ein Jahr iſt vergangen, ein neues hat begonnen; noch iſt in ihm nichts geſchehen; das Vergangene iſt abgeſchloſſen, das Gegenwärtige iſt nicht, nur das Künftige iſt, welches nicht iſt. Im täglichen Leben pflegen wir einander das eine oder andere Gut zu wünſchen. Je nachdem wir eines Menſchen beſondere Verhältniſſe zu kennen glauben, ſeine Gedanken und ſein Vor⸗ haben, im ſelben Grad meinen wir auch imſtande zu ſein, ihm ein beſtimmtes Gut wünſchen zu können, das gerade für ihn und für ſein Leben paßt. Auch an dieſem Tag unterlaſſen wir es nicht, andern Menſchen unſer Wohlwollen und unſere Teil⸗ nahme zu erweiſen, indem wir ihnen dieſes oder jenes Gut wün⸗ ſchen. Aber da an dieſem Tag der Gedanke an das Künftige und die darin liegende uner forſchliche Möglichkeit recht lebendig für uns wird, iſt unſer Wunſch gerne von allgemeinerer Art, weil wir hoffen, daß des Wunſches größerer Umfang leichter die Mannigfaltigkeit des Künftigen wird faſſen können; weil wir die Schwierigkeit fühlen, im Verhältnis zu dem Unbe⸗ ſtimmten und dem Unbeſtimmbaren etwas Beſtimmtes zu wün⸗ ſchen. Indes wir laſſen dieſe Schwierigkeit unſern Wunſch nicht aufhalten, wir geben dem Gedanken nicht Zeit, des Herzens rätſelvollen und unbeſtimmten Trieb zu beunruhigen, wir folgen einem Wohlwollen, das, wenn es auch mit dem Namen der Liebe geehrt zu werden nicht verdient, doch auch nicht als

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

Leichtſinn herabgeſetzt werden darf. Nur mit Rückſicht auf einen einzelnen Menſchen machen wir vielleicht eine Ausnahme. An ihm hängt unſer Herz feſter, um ſein Wohl ſind wir be⸗ kümmerter. Je mehr dieſes der Fall iſt, um ſo mehr werden wir uns der Schwierigkeit bewußt. Indem der Gedanke in das Künftige ſich vertieft, geht er irr in ſeinem raſtloſen Streben, dem Rätſelvollen eine Erklärung abzuzwingen oder abzulocken; ſpähend haſtet er von einer Möglichkeit zur andern, aber ver⸗ gebens; und unter all dem wird die wünſchende Seele betrübt, die ſitzt und wartet, daß der Gedanke zurückkehren und ſie er⸗ leuchten möge, was mit all ihrer Innerlichkeit ſie wünſchen dürfte. Was andere leicht und ohne Mühe tun, das fällt dieſem Menſchen hart und ſchwer; was er ſelbſt leicht für andere tut, das fällt ihm ſchwer bei dem, den er am höchſten liebt, und die Schwierigkeit wird größer, je höher er liebt. Zuletzt wird er ratlos; er will den Geliebten ſeiner Macht nicht entſchlüpfen laſſen, ihn nicht der Gewalt der Zukunft überlaſſen, und doch muß er es; er will ihn begleiten mit allen guten Wünſchen, und nun hat er nicht einen einzigen.

Wenn eines Menſchen bekümmerte Seele, gleich einem Ge⸗ fangenen, in dieſe Schwierigkeit ſich verſtrickt fühlte, ſo würde er wohl auch auf die Zeugniſſe ſich beſinnen, die er an heiligen Orten gehört hatte, er würde vielleicht auch dorthin gehen, um wieder zu überlegen und nachzuforſchen, ob es doch nicht einen Wunſch gebe, der ſo ſicher ſei, daß er ſeiner ganzen Seele Inner⸗ lichkeit in ihn legen dürfe, ohne einen Teil von ihr zurück⸗

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zubehalten für einen andern Wunſch, der für den Geliebten auch von Wichtigkeit wäre; ſo ſicher, daß eher zu befürchten wäre, daß er nicht Innerlichkeit genug hätte, um das zu wün⸗ ſchen, was gewünſcht werden ſollte; einen Wunſch, den mit neuen Wünſchen, daß er auch dauern möchte, zu begleiten er nicht nötig hätte; einen Wunſch, der nicht ränkevoll fortdauerte, wann man doch aufgehört hatte, ihn zu wünſchen; einen Wunſch, der nicht ein einzelnes Ding anginge, damit er nicht ein anderes einzelnes Ding vergeſſen hätte, das ſpäter ſtörend eingreifen könnte; einen Wunſch, der nicht das Gegenwärtige anginge, ſondern auf das Künftige paßte, ſo wie dieſes ja der Anlaß zu ſeinem Wunſch war. Gäbe es einen ſolchen Wunſch, ſo wäre jener Menſch frei und froh, froh durch ſeinen Wunſch, froher dadurch, daß er ihn dem andern wünſchen konnte.

Und ſo wird an dieſen heiligen Orten von vielen guten Dingen geredet. Hier wird geredet von den Gütern der Welt, von Geſundheit, frohen Tagen, Reichtum, Macht, Glück, einem herrlichen Gedächtnis; und hier wird gewarnt vor ihnen; denn die, welche ſie haben, werden gewarnt, daß ſie nicht glauben an ſie; die, welche ſie nicht haben, werden gewarnt, daß ihr Herz nicht nach ihnen dränge. Vom Glauben aber wird eine andere Sprache geführt. Es wird geſagt, daß er das höchſte Gut ſei, das ſchönſte, das teuerſte, aller Seligkeit Reichtum, nicht zu meſſen mit etwas anderem und nicht zu erſtatten. Iſt er nun ſo verſchieden von den andern Gütern, daß er das höchſte iſt, aber im übrigen von derſelben Art wie jene, flüchtig und unſtet,

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nur einzelnen Auserwählten zugeteilt, ſelten für das ganze Leben? Wäre es ſo, dann wäre es unerklärlich, daß an den heiligen Orten allzeit vom Glauben geredet wird, daß er wieder und wieder geprieſen und gerühmt wird. Der, welcher reden ſollte, müßte entweder im Beſitz dieſes Gutes ſein oder es ent⸗ behren. Wenn er es beſäße, ſo würde er wohl ſagen: „Ich ge⸗ ſtehe gerne, daß es das Herrlichſte von allem iſt, aber es preiſen vor den andern! Nein, das kann ich nicht, das hieße, es denen noch ſchwerer machen, die es nicht haben; außerdem iſt ein ge⸗ heimer Schmerz an dieſes Gut geknüpft, der mich einſamer macht, als die ſchwerſten Leiden.“ Und das wäre edel und gütig von ihm gedacht. Aber der, der es nicht hätte, er könnte es nicht rühmen. So würde das Gegenteil von dem geſchehen, was ge⸗ ſchieht; der Glaube wäre das einzige Gut, das niemals an dieſen Orten genannt würde; denn es wäre zu groß, als daß man davor warnen könnte, zu herrlich, als daß man es preiſen dürfte, aus Furcht, die könnten zur Stelle ſein, die es nicht beſitzen und es nicht bekommen konnten. Nun iſt aber der Glaube von einer andern Beſchaffenheit; er iſt nicht bloß das höchſte Gut, ſon⸗ dern er iſt ein Gut, deſſen alle teilhaftig werden können; und der, der ſich ſeines Beſitzes erfreut, er freut ſich zugleich über der Menſchen zahlloſes Geſchlecht; denn was ich beſitze, ſagt er, das beſitzt jeder Menſch, oder kann es beſitzen. Der, welcher einem andern Menſchen es wünſcht, er wünſcht es ſich ſelbſt; der, welcher es ſich ſelbſt wünſcht, wünſcht es jedem Menſchen; denn das, wodurch ein anderer Menſch es hat, iſt nicht das,

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wodurch er verſchieden iſt von ihm, ſondern das, wodurch er eins iſt mit ihm; das, wodurch er es beſitzt, iſt nicht das, wo⸗ durch er verſchieden iſt von andern, ſondern das, wodurch er ganz eins iſt mit allen.

Hier wäre alſo ein ſolcher Wunſch, wie ihn jener ratloſe Menſch ſuchte; er könnte einem andern Menſchen ihn wünſchen von ganzem Herzen, mit all ſeiner Macht, mit der ganzen Seele, und dürfte dabeibleiben, es inner licher und innerlicher zu wün⸗ ſchen, wie feine Liebe innerlicher würde. So würde er es alſo wünſchen.

Wenn nun ein Menſch wäre, der zu einem andern ginge und zu ihm ſagte: „Oft habe ich den Glauben preiſen gehört als das herrlichſte Gut; ich fühle wohl, ich beſitze ihn nicht; meines Lebens Verwirrung, mein zerſtreuter Sinn, meine vielen Be⸗ kümmerungen und ſo vieles andere ſtören mich, aber dieſes weiß ich, daß ich nur einen Wunſch habe, einen einzigen, daß der Glaube mir zuteil werden möge“; wenn es ein gütiger Menſch wäre, zu dem er ginge, der antwortete: „Das iſt ein ſchöner und ein frommer Wunſch, den du nicht loslaſſen ſollſt, ſo wird er wohl erfüllt werden“ würde es ihm da nicht vorkommen, als ſei das eine liebliche Rede, und würde er nicht gerne auf ſie hören, denn wir wollen ja alle gerne den reden hören, der von der Erfüllung unſeres Wunſches redet. Doch die Zeit ging hin, und er kam nicht weiter. So ging er zu einem andern Men⸗ ſchen, betraute auch ihn mit ſeiner Bekümmerung und ſeinem Wunſch. Der ſah ernſt auf ihn und ſagte: „Wie kannſt du ſo

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irre gehen? Dein Wunſch iſt nicht bloß fromm und ſchön, und darf um keinen Preis aufgegeben werden; du biſt ihm weit näher, als du ſelbſt glaubſt; denn es iſt deine Pflicht, du ſollſt den Glauben haben, und wenn du ihn nicht haſt, ſo iſt es deine Schuld und eine Sünde!“ Er würde ſtutzen über dieſe Rede, er würde vielleicht denken: fo iſt wohl der Glaube nicht fo herr⸗ lich, wie er beſchrieben wird, da er ſo leicht erworben wird; das wäre ja auch eine Ungereimtheit. Nach den andern Gütern reiſt man hinaus in die weite Welt; ſie liegen verborgen an fernen Orten, die Menſchen nur mit großen Gefahren zugänglich ſind; oder wenn dieſes nicht der Fall iſt, ſo geht es mit ihrer Ver⸗ teilung wie mit dem Waſſer in dem Teiche Bethesda, von dem wir in der Heiligen Schrift leſen: einmal zuweilen ſtieg ein Engel hernieder und rührte das Waſſer, und der, welcher zuerſt kam ja der, welcher zuerſt kommt, er wird glücklich. Mit dem Glauben dagegen, mit dem höchſten Gut ſollte das nicht der Fall ſein, mit ſeinem Erwerb ſollte keine Schwierigkeit ver⸗ bunden ſein? Indeſſen würde er doch wohl ernſthafter darüber nachdenken, und wenn er dann recht tief ſich beſonnen hätte, ſo ſagte er vielleicht: „Er hatte doch recht, es iſt ſo, es war eine beherzte Rede, in der Sinn und Meinung war, ſo ſoll man reden zu einem Menſchen; denn Wünſche taugen zu nichts.“ So würde er in aller Stille die Bewegungen in ſeinem Innern vornehmen; und jedesmal, wenn ſeine Seele auf einem Wunſche zur Ruhe ſich legen wollte, ſo riefe er ſie an und ſagte: „Du weißt, du ſollſt nicht wünſchen; und dann ging er weiter. Wenn

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feiner, Seele angſt würde, fo riefe er fie an und ſagte: „Wenn du dich ängſtigſt, fo geſchieht es, weil du wünſcheſt; denn Angſt iſt des Wunſches Form, und du weißt, du ſollſt nicht wün⸗ chen’! dann ging er weiter. Wenn er der Verzweiflung nahe wäre, wenn er ſagte: „Ich kann nicht; alle andern Menſchen können, nur ich kann nicht. Oh, daß ich nie jene Rede gehört hätte, daß man mich ungeſtört meinen Gang hätte gehen laſſen mit meinem Leid und mit meinem Wunſch;“ ſo riefe er ſeine Seele an und ſagte: „Nun biſt du heimtückiſch; denn du ſagſt, daß du wünſcheſt, und tuſt, als wäre von etwas Außerem die Rede, das man wünſchen kann, während du weißt, daß es etwas Inneres iſt, das man nur wollen kann; du betrügſt dich ſelbſt; denn du ſagſt: alle andern Menſchen können, nur ich nicht, und doch weißt du, daß das, wodurch die andern Menſchen es können, das iſt, wodurch ſie ganz eins ſind mit dir, ſo daß, wenn es wirklich Wahrheit wäre, daß du es nicht kannſt, die andern es auch nicht können. So verrätſt du nicht bloß deine eigene Sache, ſondern, ſo weit es bei dir ſteht, die Sache aller Men⸗ ſchen; und indem du demütig von ihrer Zahl dich ausſchließeſt, mordeſt du argliſtig ihre Kraft!! dann ging er weiter. Wenn er ſo langſam längere Zeit hindurch unter dem Zuchtmeiſter auferzogen worden war, ſo war er vielleicht zum Glauben ge⸗ langt. „War auferzogen worden“, wie wenn es ein anderer Menſch wäre, der es getan hätte. Doch dieſes iſt nicht der Fall; das iſt nur ein Mißverſtändnis, nur ein Anſchein. Ein Menſch kann viel für einen andern tun, aber ihm den Glauben geben

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kann er nicht. Wir hören in der Welt vielerlei Rede. Der eine ſagt: „Meine Bildung, ſie iſt mein eigenes Werk; ich ſchulde keinem Menſchen etwas“, und er meint, ſeinen Stolz darein ſetzen zu dürfen. Ein anderer ſagt: „Jener ausgezeichnete Meiſter war mein Lehrer, und ich rechne es mir zur Ehre an, mich ſeinen Schüler nennen zu dürfen“, und er meint, ſeinen Stolz darein ſetzen zu dürfen. Wir wollen nicht entſcheiden, wieweit ſeine Rede berechtigt iſt; aber damit Sinn in ihr ſei, kann ſie ja doch nur auf die vorzüglich Begabten angewendet werden; die, welche entweder urſprünglich ſich ſelbſt genug waren, oder doch ſo begünſtigt, daß ſie Schüler der Ausge⸗ zeichneten werden konnten. Wir dagegen, wir, die zu unbe⸗ deutend waren, um Schüler zu werden, was ſollen denn wir ſagen? Wenn ein Mann ſagte: „Als die Menſchen mich ver⸗ ſchmähten, da ging ich zu Gott, Er ward mein Lehrmeiſter, und dieſes iſt meine Seligkeit, meine Freude, mein Stolz“, ſollte das weniger ſchön ſein? Und doch kann jeder Menſch das ſagen, darf das ſagen; kann es in Wahrheit ſagen, und wenn er es nicht in Wahrheit ſagt, ſo iſt es nicht, weil der Gedanke nicht wahr iſt, ſondern weil er ihn verdreht. Jeder Menſch darf es ſagen. Ob ſeine Stirne flachgedrückt iſt wie die des Tieres faſt, oder ſtolzer ſich wölbt als der Himmel; ob ſein Arm ausgeſtreckt iſt, über Länder und Reiche zu gebieten, oder notdürftige Gaben einzuſammeln, die vom Tiſche des Reichen fallen; ob ſeinem Wink von Tauſenden gehorcht wird, oder nicht eine Seele iſt, die auf ihn achtet; ob die Beredſamkeit auf ſeinen Lippen blüht,

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oder nur unverſtändliche Laute über ſie kommen; ob er der kraftvolle Mann iſt, der dem Sturme trotzt, oder das wehrloſe Weib, das nur Schutz ſucht gegen das Unwetter das tut nichts zur Sache, gar nichts. Jeder Menſch darf es ſagen, wenn er den Glauben beſitzt, denn dieſe Herrlichkeit iſt des Glaubens Herrlichkeit. Und den kennſt du, du wirſt nicht bange, wenn er genannt wird, als ob er dadurch von dir genommen würde, als ob du erſt im Augenblick des Abſchieds ſeine Seligkeit zu ſchmecken bekämeſt. Oder kennſt du ihn nicht? Ach! ſo biſt du ja unglücklich. Du könnteſt auch nicht trauern und ſagen: „Der Geber der guten Gaben ging an meiner Türe vorüber;“ du könnteſt nicht trauern und ſagen: „Stürme und Unwetter nahmen ihn von mir; denn der Geber der guten Gaben, er ging nicht an deiner Türe vorüber; Stürme und Unwetter nahmen ihn nicht von dir, denn das können ſie nicht.“

So gab es alſo einen Wunſch, ganz wie jener ratloſe Menſch ihn ſuchte; er war nicht länger in Not. Indes, da zeigte ſich eine neue Schwierigkeit; denn indem er es wünſchen wollte, ward ihm klar, daß jenes Gut nicht durch einen Wunſch erlangt wer⸗ den kann; er konnte ſelbſt es nicht bekommen, indem er es wünſchte, doch dieſes bekümmerte ihn minder ; aber er konnte es auch einem andern nicht geben, indem er es ihm wünſchte; nur indem er ſelbſt es wollte, konnte der andere es ergreifen. So war er denn wieder gezwungen, ihn loszulaſſen, gezwungen, ihn ſich ſelbſt zu überlaſſen, ſein Wunſch war ohnmächtig wie zuvor. Und doch war das ſo nicht ſeine Meinung. Er wollte gerade

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alles für ihn tun; denn wenn ich einem Menſchen etwas wünſche, ſo verlange ich ſein Mitwirken nicht. So hatte auch jener rat⸗ loſe Menſch es ſich gedacht. Er wollte gleichſam ſagen zu dem, den er liebte: „Sei du bloß ruhig und unbekümmert, du haſt gar nichts zu tun als froh zu ſein, zufrieden und glücklich mit allen den guten Dingen, die ich dir wünſchen will. Ich werde wünſchen, ich werde nicht müde; ich werde den allgütigen Gott bewegen, der die guten Gaben austeilt, ich werde ihn rühren mit meinen Bitten; und ſo ſollſt du das alles zuſammen be⸗ kommen.“ Und ſiehe, indem er die einzelnen guten Dinge nennen wollte, erſchienen ſie ihm ſo zweifelhaft, daß er ſie dem andern nicht wünſchen durfte; da fand er endlich, was er ſuchte, was er ruhig wünſchen durfte, und ſiehe: dieſes ließ ſich nicht wünſchen!

Er war wieder ratlos, wieder bekümmert, wieder gefangen in einer Schwierigkeit. Iſt alſo das ganze Leben nur ein Wider⸗ ſpruch, kann die Liebe ihn nicht erklären, ſondern nur ihn ſchwie⸗ riger geſtalten? Dieſen Gedanken konnte er nicht aushalten, er mußte einen Ausweg ſuchen. Es mußte etwas nicht ſtimmen in ſeiner Liebe. So ſah er ein, daß, wie tief er auch den andern Menſchen geliebt hatte, hatte er doch auf unrichtige Weiſe ge⸗ liebt; denn wenn es möglich geweſen wäre, durch ſeinen Wunſch ihm alle guten Dinge zu verſchaffen, auch das höchſte Gut, den Glauben, ſo hätte er ihn eben dadurch zu einem unvollkommenen Weſen gemacht. Da fand er, daß das Leben ſchön ſei, daß es eine neue Herrlichkeit des Glaubens ſei, daß kein Menſch ihn dem andern geben kann; ſondern daß, was das Höchſte iſt, das

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Edelſte, das Heiligſte im Menſchen, diefes jeder Menſch hat, dieſes das Urſprüngliche iſt in ihm, dieſes jeder Menſch hat, wenn er es haben will; und dieſes iſt das Herrliche am Glauben, daß er nur unter dieſer Bedingung gehabt werden kann, deshalb iſt er das einzige untrügliche Gut, weil er nur gehabt werden kann, indem er beſtändig erworben wird, und nur erworben, indem er beſtändig hervorgebracht wird.

Der raſtloſe Menſch war nun beruhigt; aber vielleicht war eine Veränderung mit ihm ſelbſt vorgegangen, mit dem, für deſſen Wohl er ſo bekümmert war, mit ihrem Verhältnis zu⸗ einander. Sie waren getrennt worden dadurch, daß der eine ſozuſagen in ſeine Rechte eingeſetzt war, der andere in ſeine Grenzen verwieſen. Ihr Leben war bedeutungs voller geworden als zuvor, und doch waren ſie einander wie fremd geworden. Sein Herz, das zuvor ſo reich an Wünſchen war, war nun arm geworden; ſeine Hand, die früher ſo willig war zu helfen, hatte nun gelernt, ruhig zu ſein; denn er wußte, es half nichts. Es war Wahrheit, was er erkannt hatte, aber dieſe Wahrheit hatte ihn nicht glücklich gemacht. So iſt das Leben alſo ein Wider⸗ ſpruch, und die Wahrheit kann ihn nicht löſen, ſondern ihn nur ſchmerzlicher machen; denn je tiefer er ihn erkannte, um ſo mehr fühlte er ſich getrennt, um ſo ohnmächtiger in ſeinem Verhältnis zum andern. Und doch konnte er nicht wünſchen, daß es Unwahr⸗ heit ſei; nicht wünſchen, daß er unwiſſend darum geblieben wäre, unerachtet es ſie doch für alle Ewigkeiten getrennt hatte, ſo daß der Tod ſelbſt ſie nicht ſo hätte trennen können. Dieſen Ge⸗

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danken war er nicht imſtande auszuhalten, er mußte eine Er⸗ klärung ſuchen, und da ſah er ein, daß ſein Verhältnis zu ihm gerade jetzt ſeine wahre Bedeutung erlangt hatte. Wenn ich, ſagte er, mit meinem Wunſch oder mit meinen Gaben ihm das höchſte Gut ſchenken könnte, ſo könnte ich es auch von ihm nehmen, wenn er dieſes auch nicht zu befürchten hätte, ja! was ſchlimmer iſt, wenn ich es könnte, ſo würde ich im ſelben Augen⸗ blick, wo ich es ihm gäbe, es ihm nehmen; denn dadurch, daß ich ihm das Höchſte gab, nahm ich ihm das Höchſte; denn das Höchſte war, daß er nur ſelbſt es ſich geben konnte. Deshalb will ich Gott danken, daß es nicht ſo iſt; meine Liebe hat nur ihren Kummer verloren und die Freude gewonnen; denn ich weiß es, daß ich mit all meiner Anſtrengung doch nicht imſtande wäre, ihm das Gut ſo ſicher zu bewahren, wie er ſelbſt es bewahren wird; er ſoll mir dafür auch nicht danken, nicht weil ich ihn davon befreie, ſondern weil er mir gar nichts ſchuldet. Sollte ich jetzt nun weniger froh ſein über ihn, weniger froh darüber, daß er das teuerſte aller Güter beſitzt. O nein, ich will noch froher ſein; denn wenn er es mir ſchuldete, würde es unſer Ver⸗ hältnis ſtören. Und wenn er nicht im Beſitz davon iſt, ſo kann ich ihm ja behilflich ſein; denn ich will ſeinen Gedanken be⸗ gleiten und ihn zwingen einzuſehen, daß es das höchſte Gut iſt, und ich will ihn hindern, zu entſchlüpfen in irgendein Verſteck, daß es dunkel vor ihm werde, ob er es ergreifen kann oder nicht; denn ich will mit ihm jede Mißlichkeit durchdringen, bis er, wenn er nicht im Beſitz davon iſt, nur einen einzigen Ausdruck

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hat, der fein Unglück erklärt, den nämlich, daß er nicht will; das kann er nicht aushalten, ſo wird er es erwerben. Auf der andern Seite will ich die Herrlichkeit des Glaubens vor ihm preiſen, und indem ich vorausſetze, daß er ihn beſitzt, bringe ich ihn dazu, ihn beſitzen zu wollen. So heute, am erſten Tage des Jahres, da der Gedanke an das Künftige mit ſeiner mannig⸗ faltigen Möglichkeit lockt, will ich ihm zeigen, daß er im Glauben im Beſitz der einzigen Macht iſt, die das Künftige beſiegen kann, ich will zu ihm reden von der Erwartung des Glaubens.

Wenn wir von der Erwartung des Glaubens reden, ſo reden wir auch von Erwartung im allgemeinen; wenn wir von Er⸗ wartung reden, ſo halten wir es für natürlich, zu denen zu reden, die etwas erwarten. Aber die, welche erwarten, ſie ſind ja die Frohen und die Glücklichen. Sind ſie es, zu denen an den heiligen Orten zunächſt geredet werden ſoll, und nicht eher die Unglücklichen, die, welche ſchon die Rechnung und mit dem Leben abgeſchloſſen haben und nichts erwarten? Gewiß ſollte zu ihnen geredet werden, wenn unſere Stimme es vermöchte. Es ſollte geſagt werden, daß es eine erbärmliche Weisheit iſt, die ſie gefunden haben, daß es bequem genug iſt, ſeinen Sinn zu verhärten; es ſollte ihnen weggeriſſen werden das Kopfkiſſen der Trägheit, auf dem ſie müßig ihr Leben verträumen; es ſollte geſagt werden, daß es eine ſtolze Auszeichnung iſt, die ſie im Leben erworben haben, daß, während alle andern Menſchen,

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wie glücklich oder wie bekümmert ſie in der Welt auch wurden, doch allzeit geneigt ſind, zu bekennen, daß Gott wohl die Rech⸗ nung abſchließen könnte; daß, während alle andern Menſchen geſtehen, daß ſie am Tage des Gerichts nicht imſtande wären, zu antworten, nicht eins auf Tauſend ſie ſich vorbehielten, im Beſitz einer gerechten Forderung ans Leben zu ſein, die nicht eingelöſt worden ſei, einer Forderung, die ſeinerzeit die Rech⸗ nung ſchwierig genug machen würde doch nicht für ſie. So könnte zu ihnen geredet werden; doch wir wollen lieber zu denen reden, die noch etwas erwarten.

Wie die Zahl der Erwartenden wohl immer die größte war in der Welt, ſo kann ihre Erwartung wieder ſo verſchieden ſein, daß es ſehr ſchwer iſt, von ihnen allen zu reden. Doch eines haben alle Erwartenden gemeinſam, daß ſie etwas Künftiges erwarten; denn Erwartung und das Künftige ſind untrenn⸗ bare Gedanken. Mit dem Künftigen beſchäftigt ſich der, der etwas erwartet. Aber mit dieſem ſich zu beſchäftigen, iſt viel⸗ leicht nicht richtig; die Klage, die oft gehört wird, daß die Men⸗ ſchen das Gegenwärtige vergeſſen über dem Künftigen, iſt viel⸗ leicht wohlbegründet. Wir wollen nicht leugnen, daß es der Fall geweſen iſt in der Welt, wenn auch am wenigſten in unſerer Zeit, aber wir wollen auch nicht unterlaſſen, daran zu erinnern, daß es das Große iſt am Menſchen, der Beweis für ſeine gött⸗ liche Herkunft, daß er ſich damit beſchäftigen kann; denn wäre kein Künftiges, ſo wäre auch nichts Vergangenes, und wäre weder Künftiges noch Vergangenes, ſo wäre der Menſch ge⸗

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knechtet wie das Tier, ſein Kopf zur Erde geneigt, ſeine Seele gefangen im Dienſte des Augenblicks. In dieſem Sinn könnte man wohl nicht wünſchen, für das Gegenwärtige zu leben, in dem Sinn hat man es wohl auch nicht gemeint, wenn man es als das Große anbefohlen hat. Aber wo ſollen wir die Grenze ſetzen, wie weit dürfen wir uns mit dem Künftigen beſchäftigen? Die Antwort iſt nicht ſchwer: erſt wenn wir es beſiegt haben, erſt dann können wir zu dem Gegenwärtigen zurückkehren, erſt dann bekommt unſer Leben darin Bedeutung. Doch dieſes iſt ja eine Unmöglichkeit; das Künftige iſt ja alles, das Gegen⸗ wärtige ein Teil nur, wie können wir das Ganze beſiegt haben, ehe wir noch zum erſten Teil davon gekommen ſind; wie können wir von dieſem Sieg zu dem zurückkehren, was vorausging? Iſt dieſes nicht ſo, iſt das eine unzeitige Schwierigkeit, die der Gedanke ſich macht? Keineswegs. Es verhält ſich gerade ſo, wie hier geſagt wurde, denn nicht jede Beſchäftigung mit dem Künf⸗ tigen dürfen wir anpreiſen. Der, welcher es ganz aufgibt, deſſen Leben wird nur in einem unwürdigen Sinn ſtark im Gegen⸗ wärtigen; der, welcher es nicht beſiegt, er hat einen Feind mehr, der ihn ſchwach machen will im Kampf mit dem Gegenwärtigen. Erſt alſo der, der es beſiegt, erſt ſein gegenwärtiges Leben wird ſtark und geſund.

Mit dem Künftigen ſich beſchäftigen können, iſt ein Zeichen des Adels des Menſchen; der Streit mit ihm iſt der am meiſten veredelnde. Der, welcher mit dem Gegenwärtigen ſtreitet, er ſtreitet mit einem einzelnen Ding, gegen das er ſeine ganze

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Macht gebrauchen kann. Wenn deshalb ein Menſch mit nichts anderem zu kämpfen hätte, ſo wäre es möglich, daß er ſiegreich durch das ganze Leben hindurchgehen könnte, ohne doch ſich ſelbſt oder ſeine Kraft kennen zu lernen. Der, welcher mit dem Künf⸗ tigen kämpft, hat einen gefährlicheren Feind, er kann nicht in Unwiſſenheit um ſich ſelbſt bleiben; denn er kämpft mit ſich ſelbſt. Das Künftige iſt nicht, es nimmt ſeine Kraft von ihm ſelbſt, und wenn es ihm dieſe abgeliſtet hat, ſo zeigt es ſich außer ihm als ſein Feind, dem er begegnen ſoll. Ein Menſch ſei nun ſo ſtark, wie er ſein mag, kein Menſch iſt ſtärker, als er ſelbſt. Deshalb ſehen wir oft im Leben die, welche in allen Kämpfen ſiegten, wenn es aber ein künftiger Feind war, mit dem ſie es zu tun hatten, dann ohnmächtig werden; ihr Arm ward gelähmt. Während ſie vielleicht gewohnt waren, alle Welt zum Streite zu fordern, hatten ſie nun einen Feind gefunden, eine Nebelgeſtalt, die imſtande war, ſie zu erſchrecken. Deshalb gingen vielleicht oft die Männer, die Gott dazu berief, im Streit verſucht zu werden, in den Kampf, der den Menſchen furchtbar vorkam, kommend aus einem ſchlimmeren Kampf; ſie lächelten vielleicht zuweilen in der Hitze des Streits, wenn ſie an den unſichtbaren Kampf dachten, der vorhergegangen war. Sie wurden bewundert in der Welt, weil man glaubte, daß ſie im gefährlichſten Kampf geſiegt hätten, und doch war dieſer ihnen nur wie ein Spaß im Vergleich mit dem, der voraus⸗ ging, den kein Menſch ſah. Natürlich war es ja, daß der, welcher ſtärker iſt als die andern, im Kampf mit dieſen ſiegt;

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aber das iſt auch natürlich, daß kein Menſch ſtärker ift, als er ſelbſt. Wenn alſo ein Menſch mit dem Künftigen ſtreitet, ſo lernt er, daß, wie ſtark er auch im übrigen iſt, es einen Feind gibt, der ſtärker iſt, das iſt er ſelbſt; einen Feind, den er nicht durch ſich ſelbſt beſiegen kann: das iſt er ſelbſt.

Indeſſen: warum dieſen Streit mit dem Künftigen als ſo gefährlich ſchildern? „Ob älter oder jünger, haben wir ja doch alle etwas erlebt, das Künftige iſt nicht ganz neu; denn es gibt nichts Neues unter der Sonne; das Künftige iſt das Ver⸗ gangene. Ob älter oder jünger, haben wir ja doch alle Er- fahrung, die wollen wir uns anlegen, wir wollen der Spur der Vermutungen und der Führung der Mutmaßungen folgen, mit der Macht der Schlußfolgerung wollen wir es beſiegen, und ſo bewaffnet gehen wir freudig dem Künftigen entgegen. Und das iſt gut, daß ein Menſch bewaffnet iſt, wenn er in den Kampf geht, noch beſſer, daß er gerade ſo bewaffnet iſt, wie der Kampf es fordert. Wenn ein Mann, der in der Renn⸗ bahn ſtreiten ſoll, eine ſchwere Rüſtung anlegen wollte, ſo wäre er wohl bewaffnet, aber feine Rüſtung würde ihm kaum von Nutzen ſein. Iſt nicht dasſelbe der Fall mit jenen Waffen für den, der mit dem Künftigen ſtreiten ſoll, denn die Erfahrung iſt ein doppelzüngiger Freund, der bald das eine, bald das andere ſagt; und die Mutmaßung iſt ein betrügeriſcher Führer, der einen losläßt, wann man ihn am meiſten braucht; und die Ver⸗ mutung iſt ein umnebelter Blick, der nicht gar weit ſieht; und die Schlußfolgerung iſt eine Schlinge, in der man eher ſich

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ſelbſt fängt als etwas anderes. Außerdem ſind jene Waffen ſchwer zu gebrauchen; denn mit der Mutmaßung geht die Furcht, mit der Vermutung die Angſt, mit dem Schluß die Unruhe, da die er fahrende Seele ja nicht unberührt verblieb unter der Erfahrung. So waren wir gut bewaffnet, indem wir uns die Erfahrung anlegten, aber nicht zu dem Streit, dem wir entgegengehen ſollen, ein Streit mit dem Künftigen; wir ſuchten, dieſes in etwas Gegenwärtiges zu verwandeln, etwas Einzelnes; aber das Künftige iſt nicht ein Einzelnes, ſondern das Ganze.“ |

Wie follen wir dem Künftigen entgegengehen? Wenn der Seefahrer draußen auf dem Meere liegt, wenn alles um ihn wechſelt, wenn die Wogen geboren werden und ſterben, ſo ſtiert er nicht in dieſe hinein; denn ſie wechſeln. Er ſieht hinauf zu den Sternen! und warum? weil ſie treu ſind; wie ſie nun ſtehen, ſo ſtanden ſie für die Väter und ſollen ſtehen für die kommenden Geſchlechter. Wodurch beſiegt man das Wechſelnde? Durch das Ewige. Mit dem Ewigen kann man das Künftige beſiegen, weil das Ewige dem Künftigen zugrunde liegt, deshalb kann man mit jenem dieſes ausſchöpfen. Was iſt aber die ewige Macht im Menſchen? Es iſt der Glaube. Was iſt die Er⸗ wartung des Glaubens? Sieg, oder wie die Schrift ſo ernſt und ſo bewegt uns lehrt, daß alle Dinge denen zum Guten dienen müſſen, die Gott lieben. Aber eine Erwartung des Künf⸗ tigen, die den Sieg erwartet, ſie hat das Künftige beſiegt; der Glaubende iſt deshalb fertig mit dem Künftigen, ehe er am

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Gegenwärtigen beginnt; denn was man beſiegt hat, das kann nicht mehr ſtören, und dieſer Sieg kann einen nur kraftvoller zum gegenwärtigen Tun machen.

Die Erwartung des Glaubens iſt Sieg! Der frohe Sinn, der noch nicht die Widerwärtigkeiten des Lebens ſchmeckte, der nicht erzogen ward in der Schule der Sorgen, nicht gebildet durch die zweideutige Weisheit der Erfahrung, gibt dieſer Er⸗ wartung von ganzem Herzen Beifall; denn er erwartet Sieg in allem, in allen Kämpfen und Anfechtungen, oder beſſer: er erwartet zu ſiegen ohne Kampf. Wir wünſchen nicht die ſtrenge Figur zu ſpielen, die den Jüngling auf ſeinem Weg aufhält, wir wollen lieber auf einen Troſt für ihn bedacht ſein, dann, wenn er gelernt hat, daß dieſe Erwartung, wie ſchön ſie auch war, doch nicht die Erwartung des Glaubens war; lieber der ſein, der ihn zum Streite rufen ſoll, wenn er ſich ohn⸗ mächtig fühlt; lieber der, der ihm den Sieg winken laſſen ſoll, wenn er alles verloren glaubt. Der Bekümmerte aber, der kaum die Träne über den gegenwärtigen Verluſt abgetrocknet hat, er bildet das Künftige anders, und das Künftige iſt ja leicht und flüchtig, bildſamer als Lehm, ſo daß jeder es bildet, je nachdem er ſelbſt gebildet iſt. Der Bekümmerte erwartet nicht Sieg, er hat nur allzu ſchwer ſeinen Verluſt gefühlt; und gehört dies auch einer vergangenen Zeit, er nimmt es doch mit ſich, er erwartet, daß die künftige Zeit zum mindeſten ihm Frieden zu der ſtillen Beſchäftigung mit ſeinem Schmerz ver⸗ gönnen werde. Der erfahrene Mann mißbilligt beider Be⸗

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nehmen. Wenn man im Beſitz von faſt all dem Guten iſt, das man wünſchen konnte, ſo darf man auch darauf vorbereitet ſein, daß die Bekümmerungen des Lebens das Haus der Glücklichen auch beſuchen werden; wenn man alles verloren hat, ſo darf man bedenken, daß die Zeit manch köſtliches Heilmittel für die kranke Seele birgt, daß das Künftige, wie eine liebende Mutter, auch gute Gaben birgt: im Glück ſoll man in einem gewiſſen Grad auf Unglück vorbereitet ſein, im Unglück in einem ge⸗ wiſſen Grad auf Glück. Seine Rede iſt auch nicht vergeblich: denn der Frohe, der nicht leichtſinnig iſt, und der Bekümmerte, der nicht verzweifelt iſt, ſie werden beide gern auf ſeine Worte achten; beide gern ihr Leben nach ſeinem Ratſchlag einrichten. Der Glückliche überſchlägt alſo die Güter, in deren Beſitz er iſt. Einige meint er ohne Schmerz verlieren zu können, andere ſo, daß es ihm doch leicht werden wird, den Schmerz zu verwinden. Nur ein einziges Gut kann er nicht verlieren, ohne ſeine Freude zu verlieren, er kann es nicht verlieren bis zu einem gewiſſen Grad, ohne es ganz und damit ſeine Freude zu verlieren. Er wird alſo vorbereitet ſein, ſeine Güter zu verlieren, und ſo iſt er ja, nach dem Rat des erfahrenen Mannes, auf einen ge⸗ wiſſen Grad von Unglück vorbereitet. Doch der erfahrene Mann ſagte: bis zu einem gewiſſen Grad. Dieſe Worte könnten aber auch für jenes eine Gut gelten, das er nicht verlieren konnte, ohne ſein Glück zu verlieren, nicht bis zu einem gewiſſen Grad verlieren, ohne es ganz zu verlieren. Der erfahrene Mann will ſeine Worte nicht erklären, er wiederholt ſie unverändert, uner⸗

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ſchütterlich; er überläßt die Erklärung und die Anwendung denen, die ſie führen ſollen. So wird der Glückliche, nicht minder der Bekümmerte ratlos. Dieſes Wort: bis zu einem gewiſſen Grad, das die Löſung ſein ſollte, wird die bindende Macht, die ſie umſtrickt, und das Wort lautet fort, hat keine Teilnahme, bekümmert ſich nicht um ihre Anſtrengung, es zu verſtehen, achtet nicht auf ihre Bitten um eine Erklärung. Die Erfahrung, die ſie führen ſollte, gebar den Zweifel; die Rede des erfahrenen Mannes war eine zweifelhafte Rede. Dieer Glaubende dagegen ſagt: ich erwarte Sieg. Dieſe Rede iſt auch nicht vergeblich; denn der Glückliche, der nicht leicht⸗ ſinnig war, der Bekümmerte, der nicht verzweifelt war, ſie wollten beide gerne auf ſeine Rede achten. Die Freude kehrt wieder zurück in den frohen Sinn. Sieg iſt ſeine Erwartung, Sieg in allen Streiten, in allen Anfechtungen, denn daß von Kampf die Rede ſein könnte, das lehrte die Erfahrung. Doch mit des Glaubens Hilfe wartet der Sieg in ihnen allen; nur einen Augenblick hält ſie ſich ſelbſt auf: „Das iſt zu viel,“ ſagt ſie, „das iſt unmöglich, ſo herrlich kann das Leben nicht ſein; wo gab es eine Jugend, die ſo reich war in ihrem höchſten Glück, das iſt mehr als der Jugend froheſte Hoffnung.“ Gewiß iſt das mehr als der Jugend froheſte Hoffnung, und doch iſt es ſo, wenn auch nicht ganz, wie du es meinſt. Du redeſt von vielen Siegen, aber der Glaube erwartet nur einen, oder beſſer: er erwartet Sieg. Wenn da ein Menſch wäre, der gehört hätte, daß es eine Lehre gäbe, die jedem das Nötige zu ſchenken ver⸗

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möchte, und er dann ſagen würde: das iſt unmöglich all das für einen Menſchen Nötige, wie jetzt für mich all das Viele, das mir not tut, ſo würde der, welcher ihn an die Heiligen Schriften verwies, mit Recht von ihnen zeugen dürfen, daß er darin das Mötige finden würde, und doch würde der Suchende finden, daß es ſich nicht ganz ſo verhielte, wie er vermeint hatte. Die Schrift ſagt: „Eines tut not.“ So auch mit dem Glauben, wenn du von vielen Siegen redeſt, ſo biſt du wie der, welcher davon redet, daß Vieles not tut. Nur Eines tut not, und der Glaube erwartet Sieg.

Aber Sieg erwartet er, und deshalb iſt er froh und freudig, und wie ſollte er es nicht ſein, da er Sieg erwartet! Doch ich höre eine Stimme, die auch du kennſt. Sie ſagt: „Darauf iſt gut zuhören, das ſind große Worte und klingende Redensarten, aber der Ernſt des Lebens lehrt in Wahrheit etwas anderes.“ Was lehrte der Ernſt des Lebens dich, der ſo redet? Wohl, er lehrte dich, daß deine Wünſche nicht erfüllt wurden, daß deine Begierden nicht geſättigt wurden, daß deinem Gelüſte nicht gehorcht wurde, deine Sehnſucht nicht geſtillt wurde. Dieſes lehrte er dich, all das, wovon wir gar nicht reden; und zugleich lehrte er dich, mit falſchem Mund den Menſchen zu Hilfe zu kommen, den Glauben und die Zuverſicht aus ihren Herzen zu ſaugen, und dieſes zu tun im heiligen Namen des Ernſtes. Warum lehrte er dich das? Könnte er dich nicht etwas anderes gelehrt haben? Wenn zwei Menſchen verſchiedene Dinge vom Leben lernen, ſo kann es daher kommen, daß ſie Ver⸗

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über den Glauben

ſchiedenes erleben, aber es kann auch daher kommen, daß fie ſelbſt verſchieden waren. Wenn zwei Kinder zuſammen auf⸗ erzogen und immer am Gleichen teilnehmen würden, ſo daß, wenn das eine ausgezeichnet wurde, auch das andere es wurde, wenn das eine zurechtgeſetzt wurde, das andere es auch wurde, wenn das eine geſtraft wurde, das andere es auch wurde, ſo könnten ſie doch ganz verſchiedene Dinge lernen; denn das eine könnte lernen, jedesmal, da es ausgezeichnet wurde, nicht ſtolz zu werden; jedesmal, da es zurechtgeſetzt wurde, unter die Ver⸗ mahnung ſich zu demütigen; jedesmal, da es geſtraft wurde, durch Leiden ſich heilen zu laſſen; das andere konnte lernen, jedesmal, da es ausgezeichnet wurde, ſich zu überheben; jedes⸗ mal, da es zurechtgeſetzt wurde, ſich zu erbittern; jedesmal, da es geſtraft wurde, heimlichen Zorn zu ſammeln. So auch mit dir. Wenn du die Menſchen geliebt hätteſt, ſo hätte der Ernſt des Lebens dich vielleicht gelehrt, nicht laut zu ſein, ſondern zu verſtummen, und wenn du in Meeresnot lagſt und kein Land ſahſt, dann zum mindeſten nicht andere darein einzuweihen; er könnte dich vielleicht gelehrt haben, zu lächeln, ſolange wenig⸗ ſtens, als du glaubteſt, daß einer in deiner Miene eine Er⸗ klärung ſuchte, ein Zeugnis. Das Leben hätte dann vielleicht dir die wehmütige Freude verſchafft, zu ſehen, wie andern glückte, was dir nicht glücken wollte; den Troſt, daß du das Deine dazu getan hatteſt, indem du den Angſtſchrei in deinem Innern erſtickteſt, der ſie ſtören würde. Warum lernteſt du dieſes nicht? Da du dieſes nicht lernteſt, ſo können wir auf

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Sören Kierkegaard Neligidfe Reden

deine Rede nicht achten. Wir richten dich nicht, weil du zweifelſt; denn der Zweifel iſt eine hinterliſtige Leidenſchaft, und es kann wohl ſchwierig ſein, aus ſeinen Schlingen ſich zu reißen. Was wir von dem Zweifelnden fordern, iſt, daß er ſchweigen ſoll. Er vernahm wohl, daß der Zweifel ihn nicht glücklich machte, warum andern anvertrauen, was ſie ebenſo unglücklich machen wird. Und was gewinnt er durch dieſe Mitteilung? Er verliert ſich ſelbſt, anſtatt daß er vielleicht durch ſein Schweigen Ruhe gefunden hätte, indem er ſtill ſeinen einſamen Schmerz zu tragen dem vorzog, laut zu werden, ſich wichtig zu machen in den Augen der Menſchen, indem er ſich mitbewarb um die Ehre und Auszeichnung, nach der ſo viele trachten: zu zweifeln oder doch gezweifelt zu haben. Der Zweifel iſt eine tiefe und hinter⸗ liſtige Leidenſchaft, aber der, deſſen Seele er nicht ſo innerlich ergriff, daß er ſtumm wurde, der lügt ſich dieſe Leidenſchaft bloß zu; was er ſagt, iſt deshalb nicht bloß Unwahrheit an und für ſich, ſondern vor allem in ſeinem Mund. Siehe, darum achten wir ihn nicht.

Des Glaubens Erwartung iſt Sieg. Der Zweifel, der von außen kommt, ſtört ihn nicht; denn der beſchämt ſich ſelbſt durch ſein Reden. Doch der Zweifel iſt verſchlagen, auf ſeinen ver⸗ borgenen Wegen ſchleicht er ſich um einen Menſchen, und wenn der Glaube Sieg erwartet, ſo flüſtert er, daß dieſe Erwartung eine Täuſchung ſei. „Eine Erwartung, der man nicht Zeit und Ort beſtimmt, iſt nur eine Täuſchung; ſo kann man immer fort⸗ fahren zu warten; eine ſolche Erwartung iſt ein Kreis, in den

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die Seele verhext iſt, aus dem fie nicht entſchlüpfen kann.“ Ge⸗ wiß iſt die Seele in der Erwartung des Glaubens verhindert, gleichſam aus ſich ſelbſt in das Mannigfaltige zu fallen; ſie bleibt in ſich ſelbſt; aber das wäre das größte Übel, das einem Menſchen widerfahren könnte, wenn er aus dieſem Kreislauf herausfiele. Daraus folgt doch keineswegs, daß die Erwartung des Glaubens eine Täuſchung ſei. Ja der, welcher etwas Ein⸗ zelnes erwartet, deſſen Erwartung kann getäuſcht werden, aber ſo geht es nicht dem Glaubenden. Wenn die Welt ihre ſcharfe Prüfung beginnt, wenn die Stürme des Lebens der Jugend üppige Erwartungen knicken, wenn das Daſein, das ſo lieb und mild ſchien, in einen unbarmherzigen Eigentümer ſich ver⸗ wandelt, der alles zurückverlangt, alles, was er ſo gab, daß er es nehmen kann, ſo ſieht der Glaubende wohl mit Wehmut und Schmerz auf ſich und das Leben, aber er ſagt doch: „Da iſt eine Erwartung, die die ganze Welt nicht von mir nehmen kann, das iſt die Erwartung des Glaubens, und ſie iſt Sieg. Ich bin nicht getäuſcht, denn was die Welt mir zu verſprechen ſchien, das habe ich doch nicht geglaubt, daß ſie es halten werde; meine Erwartung war nicht zur Welt, ſondern zu Gott. Dieſe Er⸗ wartung iſt nicht getäuſcht; ſelbſt in dieſem Augenblick fühle ich ihren Sieg herrlicher und froher als allen Schmerz des Verluſtes. Verlöre ich dieſe Erwartung, ſo wäre alles verloren. Noch habe ich geſiegt, geſiegt durch meine Erwartung, und meine Erwartung iſt Sieg.“ Ging es nicht ſo zu im Leben? Wenn da ein Menſch wäre, zu dem du dich ſo ſtark hingezogen fühlteſt,

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daß du ſagen durfteſt: „Ich glaube ihm;“ gut, wenn dann alles nach Wunſch ging, oder wenn nicht ganz nach Wunſch, doch ſo, daß du es leicht in Übereinftimmung mit deinen Vorſtellungen bringen konnteſt, ſo glaubteſt du ihm ſo, wie auch andere ihm glaubten; aber wenn das Unerklärliche geſchah, das Unbegreif⸗ liche, da fielen die andern ab; oder beſſer (laß uns die Sprache nicht verwirren), da zeigen ſie, daß ſie ihm niemals geglaubt hatten. Nicht ſo du. Du fühlteſt, daß es nicht dieſer Umſtand war, auf den du deinen Glauben gegründet hatteſt, daß du er⸗ klären konnteſt, was da geſchah; denn ſo wäre er ja gegründet auf deine Einſicht, und weit entfernt, Hingebung zu ſein, eher Selbſtvertrauen. Es ſchien dir, daß es eine Schmach für dich wäre, wenn du ihn losließeſt; denn wie du vermeint hatteſt, daß dieſe Worte in deinem Mund: „Ich glaube ihm“, etwas anderes zu bedeuten haben, als wenn die andern ſie ſagten, ſo fühlteſt du, daß die Veränderung unmöglich dich dazu bringen könnte, dasſelbe zu tun wie die andern, es ſei denn, daß dein Glaube urſprünglich nicht mehr zu bedeuten hatte. Du hörteſt alſo nicht auf zu glauben. Doch tateſt du vielleicht unrecht darin; nicht im Glauben; nicht, ſo zu glauben, ſondern: einem Men⸗ ſchen ſo zu glauben. Vielleicht war das Unerklärliche leicht er⸗ klärt; vielleicht gab es eine traurige Gewißheit, die ſo ſtark zeugte, daß dein Glaube nur eine ſchöne Einbildung war, die du beſſer aufgeben ſollteſt. Wir wiſſen es nicht. Doch dieſes wiſſen wir, daß, wenn du über dieſem Glauben vergäßeſt, daß es einen höheren Glauben gibt, er trotz ſeiner Schönheit doch

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nur zu deinem Verderben wäre. Wenn du dagegen Gott glaubteſt, wie ſollte dein Glaube je in eine ſchöne Einbildung verwandelt werden? Sollte Er verändert werden können, bei welchem keine Veränderung iſt, noch Wechſel von Licht und Finſternis? Sollte Er nicht treu ſein, durch den jeder Menſch, der es iſt, treu iſt; Er nicht ohne Trug, durch den du ſelbſt den Glauben hatteſt? ſollte da je eine Erklärung kommen, die anderes erklären könnte, als daß Er ehrlich iſt und Sein Ver⸗ ſprechen hält? Und doch ſehen wir, daß die Menſchen dieſes vergeſſen.

Wenn alles ihnen glückt, wenn ſie gute Tage ſehen, wenn ſie auf wunderliche Weiſe im Einverſtändnis mit allem um ſie herum ſich fühlen, da glauben fie, und in ihrer Freude vergeſſen ſie wohl nicht, allzeit Gott zu danken; denn jeder Menſch will gerne für das Gute dankbar ſein, das er empfängt, aber jedes Menſchen Herz iſt auch ſchwach genug, ſo gerne ſelbſt beſtimmen zu wollen, was das Gute iſt. Wenn alles ſich verändert, wenn das Leid die Freude ablöſt, fallen ſie ab, verlieren ſie den Glau⸗ ben, oder beſſer, denn laßt uns nicht die Sprache verwirren, dann zeigen ſie, daß ſie ihn niemals gehabt haben. So tateſt du nicht. Wenn du dich ſelbſt dabei ertappteſt, daß du dich verändert hatteſt dadurch, daß alles um dich verändert wurde, ſo ſagteſt du: „Ich geſtehe, nun ſehe ich ein, daß, was ich meinen Glauben nannte, nur eine Einbildung war. Was das Höchſte iſt, das ein Menſch im Verhältnis zu einem andern tun kann: ihm glauben, was noch höher und ſchöner ift, ſeliger, als daß die Sprache es be-

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LIBRARY ST. MARY'S COLLEGE

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ſchreiben kann: Gott glauben, das habe ich vermeſſen mir ſelbſt eingebildet zu tun: zu all meiner übrigen Freude habe ich auch dieſe gefügt; und doch war mein Glaube, wie ich nun ſehe, nur eine flüchtige Rührung, ein Widerſchein meines irdiſchen Glückes; aber ich will mich nicht erbauen mit vermeſſener und ſinnloſer Rede, nicht ſagen, daß ich den Glauben verloren habe, nicht die Schuld auf Welt und Menſchen laden, oder ſogar Gott anklagen.“ So ſuchteſt du dich ſelbſt aufzuhalten, wenn du im Leid irre gehen wollteſt; du verhärteteſt nicht deinen Sinn, du warſt nicht töricht genug, dir einbilden zu wollen, daß, wenn das Einzelne nicht geſchehen wäre, du den Glauben bewahrt hätteſt, oder erbärmlich genug, Gemeinſchaft mit ſolcher Weisheit ſuchen zu wollen. Siehe, deshalb gewannſt du, wenn auch langſam, wieder den Weg zu der Erwartung des Glaubens. Wenn dann alles dir mißglückte, wenn, was du langſam aufbauteſt, in einem Augenblick hingeweht ward, und du wieder mit Mühe von vorne anfangen mußteſt; wenn dein Arm matt war, dein Gang ſchwankend, ſo hieltſt du feſt an der Erwartung des Glaubens, welche Sieg iſt. Verkündeteſt du dieſes auch nicht für andere, daß ſie deſſen nicht ſpotten ſollten, weil du in all deinem Elend noch Sieg erwarteteſt: in deinem innerſten Herzen verbargſt du doch deine Erwartung. „Die frohen Tage können wohl meinen Glauben verſchönen,“ ſagteſt du, „ich ſchmücke ihn mit dem Kranze der Freude, aber ihn beweiſen können ſie nicht; die ſchweren Zeiten können die Tränen in mein Auge bringen und das Leid in meinen Sinn, aber des

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Glaubens mich berauben können ſie nicht.“ Und wenn auch das Unglück nicht aufhörte, ſo ward deine Seele doch mild. „Das iſt doch ſchön,“ ſagteſt du, „daß Gott ſo in den ſichtbaren Dingen ſich für mich nicht zeigen will; wir trennen uns, um uns doch wieder zu begegnen; ich könnte nicht wünſchen, immer ein Kind zu bleiben, das jeden Tag Beweiſe verlangt, Zeichen und Wunder. Führe ich fort, ein Kind zu ſein, ſo könnte ich doch nicht mit aller Macht und von meiner ganzen Seele lieben. Nun ſind wir getrennt, wir ſehen uns nicht täglich, nur heim⸗ lich begegnen wir uns im ſiegreichen Augenblick der gläubigen Erwartung.“

Die Erwartung des Glaubens iſt Sieg, und dieſe Er- wartung kann nicht getäuſcht werden außer dadurch, daß man ſelbſt ſich täuſcht, indem man der Erwartung ſich beraubt, ſo wie der, der töricht meinte, daß er den Glauben verloren habe, oder töricht meinte, daß etwas Einzelnes ihn von ihm genommen habe, oder ſuchte, ſich ſelbſt in der Vorſtellung zu betören, daß es etwas Einzelnes gäbe, das die Macht hätte, einen Menſchen des Glaubens zu berauben Zufriedenheit fand in dem eiteln Gedanken, daß gerade dieſes ihm zugeſtoßen ſei, Freude darin, andere durch die Verſicherung zu ängſtigen, daß es ſo etwas gebe, das ſeinen Spott mit dem Edelſten im Menſchen triebe, und das den berechtigte, der darin verſucht ward, ſeinen Spott mit anderen zu treiben.

Indes ſagt vielleicht der eine oder andere: „Dieſe Rede hat wohl Zuſammenhang und iſt in Übereinſtimmung mit ſich

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ſelbſt; aber man kommt mit ihr nicht weiter und inſoweit iſt ſie doch eine törichte und nichtsſagende Rede.“ Man kommt nicht weiter. Sollte ein Menſch wünſchen können, weiter zu kommen, als zu ſiegen, ſo müßte er ja den Sieg verlieren? Sollte das ſo töricht und nichtsſagend ſein, daß ein Menſch recht ſich ſelbſt bewußt wurde, ob er den Glauben habe oder nicht? Aber wenn ich ſage: „Ich glaube,“ ſo kann es nur allzu⸗ oft dunkel für mich ſein, was ich damit meine. Vielleicht irre ich, vielleicht bilde ich mir nur eine Vorſtellung vom Künftigen, vielleicht wünſche, hoffe ich, vielleicht ſehne ich mich nach etwas, verlange, begehre, vielleicht bin ich des Künftigen gewiß, und indem ich dieſes tue, kann es mir vorkommen, daß ich glaube, unerachtet ich es doch nicht tue. Wenn ich dagegen mir ſelbſt die Frage vorlege: erwarteſt du Sieg, ſo wird jede Unklarheit ſchwieriger; ſo ſehe ich ein, daß nicht bloß der nicht glaubt, der gar nichts erwartet, ſondern auch der, der etwas Einzelnes erwartet, oder ſeine Erwartung auf etwas Einzelnes gründet. Und ſollte dieſes nicht von Wichtigkeit ſein, da ja erſt der, der mit dem Künftigen fertig geworden iſt, ganz und ungeteilt im Gegenwärtigen ſein kann; aber fertig mit dem Künftigen wird man nur dadurch, daß man es beſiegt, aber dieſes tut nur der Glaube, denn ſeine Erwartung iſt Sieg. Jedesmal, wenn ich meine Seele ertappe, daß ſie den Sieg nicht erwartet, ſo weiß ich, daß ich nicht glaube; wenn ich das weiß, dann weiß ich auch, was ich zu tun habe; denn iſt es auch keineswegs eine leichte Sache, zu glauben, die erſte Bedingung, daß ich dazu kommen

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kann, iſt doch die, daß ich mir bewußt werde, ob ich es tue oder nicht. |

Deshalb gehen wir fo oft irre, weil wir eine Über⸗ zeugung für unſere Erwartung ſuchen, anſtatt des Glaubens Überzeugung davon, daß wir glauben. Der Glaubende fordert keinen Beweis für ſeine Erwartung; „denn,“ ſagt er, „wenn ich etwas dafür halten müßte, ſo würde es, indem es meine Er⸗ wartung bewieſe, zugleich ſie widerlegen. Nicht iſt meine Seele fühllos für die Freude des Einzelnen oder den Schmerz, aber Gott ſei gelobt, ſo iſt es nicht, daß das Einzelne die Erwartung des Glaubens beweiſen oder widerlegen kann. Gott ſei gelobt! Die Zeit kann ſie weder beweiſen noch widerlegen; denn der Glaube erwartet eine Ewigkeit. Und heute am erſten Tage des Jahres, da der Gedanke an das Künftige mir ſich aufnötigt, will ich meine Seele nicht ermatten mit allerhand Erwartung, nicht ſie zerſtreuen in mannigfaltigen Vorſtellungen; ich will ſie in ſich ſelbſt ſammeln und geſund und froh, wenn möglich, dem Künftigen entgegengehen. Das bringe, was es bringen mag und ſoll, manche Erwartung werde getäuſcht, manche er⸗ füllt, ſo wird das wohl kommen, was die Erfahrung mich ge⸗ lehrt hat, aber es gibt eine Erwartung, die nicht getäuſcht wer⸗ den ſoll, das hat nicht die zeitliche Erfahrung mich gelehrt, aber auch nie die Macht gehabt, es zu leugnen, das iſt die Erwartung des Glaubens, und dieſe iſt Sieg.“ | |

Es enden mehrere der heiligen Gebete, die in den Kirchen vorgeleſen werden: „und fo endlich felig werden.“ Der Ältere

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unter uns, der faſt am Ziele ſteht, er ſchaut in Gedanken hin über den zurückgelegten Weg, er erinnert den Gang der Be⸗ gebenheiten, die bleichen Geſtalten werden wieder lebendig, er wird überwältigt von des Erlebten mannigfachem Inhalt, er iſt müde und ſagt: und ſo endlich ſelig werden. Der Jüngere, der noch am Anfang des Weges ſteht, er ſchaut in Gedanken über die lange Bahn, in Gedanken erlebt er, was kommen ſoll! die ſchmerzliche Entbehrung, die ſtillen Bekümmerungen, die wehmütige Sehnſucht, die bangen Anfechtungen, er iſt müde in Gedanken und ſagt: und ſo endlich ſelig werden. Das wäre eine große Gabe, wenn ein Menſch recht dieſes Wort ge⸗ brauchen könnte; doch dieſes lernt kein Menſch vom andern, ſondern jeder im beſondern nur von und durch Gott. Deshalb wollen wir Dir anbefehlen, Vater im Himmel! unſern Sinn und unſern Gedanken, daß unſere Seele nie ſo ſich feſſeln laſſe von des Lebens Freuden oder ſeinen Sorgen, daß ſie dieſes löſende Wort vergeſſe; aber daß es auch nicht zu oft Ungeduld und innere Unruhe ſei, die es auf unſere Lippen bringe, ſo daß, wenn dieſes Wort wie ein treuer Freund uns in des Lebens vielen Umſtänden begleitet hat, uns ſich angepaßt hat, ohne doch ſich ſelbſt untreu zu werden, unſer Troſt geweſen iſt, unſere Hoffnung, unſere Freude, unſer Jubel; uns hoch und be⸗ geiſternd, ſanft und leiſe geklungen hat; zu uns mahnend und fordernd, aufmunternd und einladend geredet hat unſere Seele in ihrer letzten Stunde auf dieſem Wort gleichſam von dieſer Welt weg dorthin getragen werde, wo wir ſeine volle

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Über den Glauben

Bedeutung faſſen ſollen, ſo wie es derſelbe Gott iſt, der, nach⸗ dem Er uns mit Seiner Hand durch die Welt geführt hat, dieſe zurückzieht, Seinen Arm öffnet, um in ihm die ſehnſüchtige Seele zu empfangen. Amen!

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Die Bekräftigung im inneren Menfchen

Gebet

Vater im Himmel! Du hältſt alle guten Gaben in Deiner Hand. Dein Überfluß iſt reicher, als daß menſchlicher Verſtand ihn faſſe, Du biſt willig zu geben, und Deine Güte iſt größer, als daß eines Menſchen Herz ſie verſtehe; denn Du erfüllſt jede Bitte und gibſt, um was wir bitten, oder gibſt noch Beſſeres, als was wir bitten. So gib Du denn jedem ſeinen zugewieſenen Teil, wie es Dir wohlgefällt; aber gib Du auch jedem die Über- zeugung, daß alles von Dir kommt, damit nicht die Freude uns von Dir reiße in der Vergeſſenheit der Luſt, damit nicht das Leid die Scheidewand ſetze zwiſchen Dich und uns; ſondern daß wir in der Freude hinſuchen zu Dir und im Leide bei Dir bleiben, damit, wann unſere Tage gezählt ſind, und der äußere Menſch verdorben iſt, der Tod nicht kalt und furchtbar in ſeinem eigenen Namen komme, ſondern mild und freundlich mit Gruß und Botſchaft, mit Zeugnis von Dir, unſerem Vater, der Du im Himmel biſt! Amen! c

Ep.: Epheſ. 3, 13 bis Schluß. In der Hauptſtadt der Welt, im ſtolzen Rom, wo aller Glanz der Welt und alle Herrlichkeit vereinigt waren; wo alles

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Die Bekräftigung im inneren Menſchen

aufgetrieben ward, womit menſchliche Klugheit und Wildheit

in der Angſt der Verzweiflung den Augenblick verſuchen, was | er ausfindig mache, um den ſinnlichen Menſchen in Erſtaunen zu ſetzen; wo jeder Tag Zeuge des Merkwürdigen war, des Ent⸗ ſetzlichen und der nächſte Tag es vergeſſen hatte beim Anblick des noch Merkwürdigeren, des noch Entſetzlicheren; im ruhm⸗ reichen Rom, wohin jeder, der in irgendeiner Weiſe der Menge Aufmerkſamkeit feſſeln zu können glaubte, als zu ſeinem rechten Schauplatz haſtete, alles im voraus zu ſeinem Empfang vor⸗ bereitete, um, wiewohl berauſcht in Selbſtvertrauen, ſchlau doch den knapp zugemeſſenen, den beneideten, den glücklichen Augen⸗ blick zu benützen dort lebte der Apoſtel Paulus als Ge⸗ fangener, dort ſchrieb er den Brief, aus dem unſer Text ge⸗ nommen iſt. Als Gefangener ward er dorthin gebracht, von nie⸗ mand faſt gekannt, und doch brachte er mit ſich eine Lehre, von welcher er zeugte, daß ſie göttliche Wahrheit ſei, ihm mitgeteilt durch eine beſondere Offenbarung, und die unerſchütterliche Überzeugung, daß dieſe Lehre über die ganze Welt ſiegen ſollte. Wäre er ein Aufrührer geweſen, der das Volk erhitzte und den Tyrannen erbeben machte; wäre er gefangen nach Rom geführt worden, damit der Herrſcher ſeine Rache an ſeinem Leiden ſättigen könnte, ihn mit den ausgeſuchteſten Qualen martern laſſen könnte ja! dann wäre doch Wahrſcheinlichkeit dafür, daß fein Schickſal eine kurze Zeit jeden erſchüttert hätte, in deſſen Bruſt menſchliches Gefühl noch nicht ausgeſtorben war; daß er einen Augenblick durch ſeinen Schrecken die wollüſtige

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und neugierige Menge erregt hätte ja vielleicht wäre der Thron des Tyrannen geſtürzt worden! Doch ſo ward Paulus nicht behandelt. Er war zu unbedeutend, als daß Rom ihn fürchten mußte, ſeine Torheit zu unſchuldig, um die Macht gegen ihn zu wappnen. Wer war er auch? Ein Mann, der einem verachteten Volke angehörte; ein Mann, der nicht einmal dem mehr angehörte, ſondern von ihm als ein Argernis ausgeſtoßen war ein Jude, der Chriſt geworden war, der einſamſte, der verlaſſenſte, der unſchädlichſte Mann im ganzen Rom. Wie ein ſolcher ward er auch behandelt. Sein Gefängnis war mild, nur war er Gefangener; und dem, der jene ſiegreiche Überzeugung mit ſich brachte, war nun als Wirkungsplatz die Einſamkeit des Gefängniſſes angewieſen, und der Kriegsmann, der täglich zu ſeiner Bewachung geſtellt wurde. In der Hauptſtadt der Welt, im lärmenden Rom, wo nichts der zügelloſen Macht der Zeit widerſtehen konnte, die alles verſchlang, ſo hurtig wie es aufkam, die alles ſpurlos mit ihrer Vergeſſenheit auslöſchte dort lebte der Apoſtel Paulus, ein unbedeutender Mann, im einſamen Gefängnis, ſtill und zurückgezogen, aber während alles außen um ihn in Nichtigkeit hinfährt, ſchneller als ein Schatten, ſtand die Überzeugung feſt für ihn, daß die Lehre, die er be⸗ kannte, über die ganze Welt ſiegen würde über die ganze Welt, von der er nun abgeſondert war. Wenn ein Menſch, der ſchuldig leidet, ſeine Strafe mit Geduld trägt, ſo hat er kein Lob davon, aber wenn er unſchuldig mit Geduld leidet, ſo hat er Lob. Das iſt ſchön zu bedenken, lieblich zu hören, gut

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zu bekennen; aber es iſt ſchwer, es zu tun. Doch der, in deſſen Herz die Furcht Gottes und Frömmigkeit iſt, wird mit Gottes Hilfe ſeine Seele in Demut beſcheiden, bis ſie wieder freudig in Gott wird und ſtill im Herrn; ſo wird er in Geduld ſich retten, wenn es auch ſchwer zu tragen war, daß ſeine Erwartung wie ein Traum hinſchwand, daß er, der die ganze Welt gewinnen wollte, ſelbſt damit endete, Gefangener zu ſein; daß er nicht einmal im Streit unterlag, ſondern wie eine Täuſchung auf⸗ gezehrt ward. Wenn da ſolche waren, die ihr Vertrauen auf ihn geſetzt und auf ihn gehofft hatten, ſo wird er ſich ihrer er⸗ innern, und ſeine Seele wird nicht unbekannt ſein mit der ſchmerzlichen Bekümmerung, ob auch ſie ihn verlaſſen wollen; von ſeinem Gefängnis wird er ihnen vielleicht ſchreiben: „Ver⸗ laßt mich nicht jetzt, da ich von allen verlaſſen bin, bewahret euer Vertrauen zu mir wie vordem, vergeſſet mich nicht jetzt, da ich von allen vergeſſen bin.“ Vielleicht würde er ihre Herzen bewegen, vielleicht würde ein Einzelner zu ihm kommen, und wenn dies erlaubt würde, den Gefangenen beſuchen, mit ihm trauern, ihn tröſten und mit ihm ſich erbauen. Es iſt ſchön, davon zu reden, der Gedanke allein ſchon bewegt jedes beſſeren Menſchen Herz. Doch Paulus war ein Apoſtel. Wenn auch be⸗ trübt, war er doch allzeit freudig; wenn auch arm, machte er all⸗ zeit viele reich; wenn er auch nichts hatte, beſaß er doch alles. Von ſeiner Gefangenſchaft ſchreibt er der fernen Gemeinde: „Darum bitte ich, daß Ihr nicht müde werdet um meiner Trüb⸗ ſale willen, die ich für Euch leide, welche Euch eine Ehre ſind.“

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Er, der ſelbſt Troſt zu brauchen ſcheinen könnte, er iſt hurtig, ſozuſagen in gutem Einverſtändnis mit dem Herrn, freudig in der Trübſal, mutig in der Gefahr, nicht beſchäftigt mit ſeinem eigenen Leiden, ſondern bekümmert um die Gemeinde; und nur inſoweit bedenkt er ſeine Trübſal, als ſie die Gemeinde veran⸗ laſſen könnte, zu verzagen.

Wenn ein Menſch Friede und Ruhe in ſeinem Unglück ge⸗ funden hätte, würde vielleicht das Leid, daß andere über ſeiner Widerwärtigkeit die Freimütigkeit und den Glauben verlieren könnten, in ihm neue Unruhe wecken. Doch ſoll die Gottesfurcht in ihm ſiegen, und er ſoll vertrauensvoll die Geliebten in Gottes Hand befehlen. Es rührt das Herz, davon zu reden, jeder beſſere Menſch fühlt, daß dieſe ſtille Hingebung wohl des Strebens wert iſt. Doch Paulus war ein Apoſtel, er ſchreibt aus ſeiner Gefangenſchaft: „Dieſe meine Trübſale, die ich für Euch leide, ſind Eure Ehre.“

Der, welcher eine Lehre den Menſchen anzubefehlen hat und ſtrebt, ſie zu gewinnen, hat ja ein Zeugnis, auf das er getroſt den Einzelnen hinweiſt. Aber wenn dieſes Zeugnis trügt, ſieht er wohl ein, daß die Macht von ihm genommen iſt, und wiewohl es ſehr ſchwer iſt, verſöhnt er ſich doch mit Gott in ſeinem Herzen; und trauert wohl wie die, welche der Bräutigam ver⸗ ließ und die Freude, aber auch wie der, der nicht ins Ungewiſſe lief, der nicht vergaß, daß höher als die Rettung anderer die Rettung der eigenen Seele iſt, den unruhigen Sinn dem Ge⸗ horſam des Glaubens zu unterwerfen, die irrenden Gedanken

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mit der Macht der Überzeugung in den Banden der Liebe zu halten. Es iſt wohltuend, davon zu reden, und jeder redliche Menſch bekennt, daß es ſelig iſt, ſo ſein eigenes Haus zu be⸗ ſtellen, wenn man ausgedient hat beim großen Werk und über das Geringere geſetzt wird. Aber Paulus! Lebte er in der Gunſt der Mächtigen, daß ſie ſeine Lehre anbefehlen könnte? Nein, er war gefangen. Huldigten die Weiſen ſeiner Lehre, daß ihr Anſehen für die Wahrheit bürgen könnte? Nein, ſie war ihnen eine Torheit. Vermochte ſeine Lehre hurtig den Ein⸗ zelnen in den Beſitz einer übernatürlichen Macht zu ſetzen, bot ſie ſich den Menſchen feil durch Gaukelwerk? Nein, ſie mußte langſam erworben werden, in Prüfungen angeeignet werden, die mit dem Verzicht auf alles begannen. Hatte Paulus irgend⸗ ein Zeugnis? Ja, er hatte das menſchliche Zeugnis gegen ſich, und dazu hatte er noch die Bekümmerung, daß die Gemeinde verzagen würde, oder was ſchlimmer war, an ihm ſich ärgerte; denn das Argernis liegt niemals näher, als wenn Wahrheit unterdrückt wird, wenn Unſchuld leidet, wenn Ungerechtigkeit ihres Sieges ſicher iſt, wenn Gewalt Glück hat, wenn Un⸗ wiſſenheit nicht einmal nötig hat, Gewalt gegen das Gute zu gebrauchen, ſondern ſorglos und unbekümmert unwiſſend darum bleibt, daß es da iſt. Aber verzagt Paulus, vom Zeugnis ver⸗ laſſen? Keineswegs. Als er kein anderes Zeugnis hatte, ſich darauf zu berufen, berief er ſich auf feine Trübſale. Iſt dieſes nicht wie ein Wunder? Wenn Paulus nicht anders kräftig be⸗ wieſen hätte, daß er wundertätige Macht beſitze, iſt dieſes nicht

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ein Beweis? Trübſale in ein Zeugnis für der Lehre Wahrheit verwandeln, Schande in Ehre für ſich und die glaubende Ge⸗ meinde verwandeln; die verlorene Sache in eine Ehrenſache ver⸗ wandeln, die die ganze begeiſternde Macht des Zeugniſſes hat, iſt das nicht gleich wie den Lahmen zum Gehen bringen und den Stummen redend machen!

Was gab Paulus die Macht dazu? Er hatte ſelbſt ein Zeugnis; er war kein zweifelnder Mann, der in ſeinem Innerſten die ſtarken Gedanken doch widerrief. Ein Zeugnis hatte er höher als alles in der Welt, ein Zeugnis, das ſtärker zeugte, je mehr die Welt gegen ihn war. War er ein ſchwacher Mann? Nein, er war mächtig. War er wankend? Nein, er war feſt; denn er war machtvoll bekräftigt durch den Geiſt Gottes im inneren Menſchen.

Was der Apoſtel ſelbſt war, wofür ſein ganzes Leben den Be⸗ weis führt, das wünſcht er jedem Einzelnen in der Gemeinde. Wenn auch die Bedingungen jener Zeit andere waren, wenn auch Kampf und Streit es notwendiger machten, aber vielleicht auch ſchwieriger, dieſe Bekräftigung im inneren Menſchen zu gewin⸗ nen, es bleibt doch zu allen Zeiten und unter allen Umſtänden das einzige, das einem Menſchen nottut: ſeine Seele in der in⸗ neren Bekräftigung zu retten; denn jeder Menſch, zu jeder Zeit, hat ja doch ſeinen Streit und ſeine Anfechtung, ſeine Not, feine Einſamkeit, in der er verſucht wird, feine Angſt und Ohnmacht, wenn das Zeugnis fehlt. So will ich tiefer überlegen

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Nur eine gedankenloſe Seele kann alles um ſich wechſeln laſ ſen, ſich ſelbſt den unſteten, launenvollen Verwandlungen des Lebens als Beute hingeben, ohne Angſt zu bekommen vor einer ſolchen Welt, ohne ſich um ſich ſelbſt zu bekümmern. Wie un⸗ wür dig und widerwärtig iſt ein ſolches Leben, wie weit iſt ein ſolcher entfernt von der hohen Beſtimmung des Menſchen, zu zeugen, der Herr der Schöpfung zu ſein. Denn ſoll der Menſch herrſchen, muß es eine Ordnung in der Welt geben; es wäre ja anders nur ein Spott über ihn, ihn als Herrſcher über wilde Mächte zu ſetzen, die keinem Geſetze gehorchen. Und wenn er herrſchen ſoll, muß ein Geſetz in ihm ſelber ſein, denn anders könnte er unmöglich herrſchen; er würde entweder ſtörend ein⸗ greifen, oder es bliebe einem Zufall überlaſſen, ob er weiſe herrſchte oder nicht. Wäre es ſo, da wäre der Menſch ſo weit entfernt, der Herr der Schöpfung zu ſein, daß dieſe eher wün⸗ ſchen müßte, daß er gar nicht da wäre. Sobald deshalb bloß ein Menſch zu einer verſtändigeren Betrachtung des Lebens ſich ſammelt, ſucht er ſich von einem Zuſammenhang in allem zu vergewiſſern, und als Herr der Schöpfung legt er dieſer ſo⸗ zuſagen die Frage vor, nötigt ihr eine Erklärung ab, fordert ein Zeugnis.

Nur der, welcher ſeine Seele den weltlichen Begierden hin⸗ gab; der, welcher die glänzende Knechtſchaft der Luſt wählte und nicht vermochte, ſich von ihrer leichtſinnigen oder ſchwer⸗ mütigen Angſt freizumachen, nur der begnügt ſich, die Schöp⸗ fung ihr Zeugnis ablegen zu laſſen, daß er ſchlau und klug

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ſie im Dienſte des Augenblicks benützen kann. Und der Menſch iſt der Herr der Schöpfung, deshalb gehorcht ſie ſogar der un⸗ würdigen Herrſchaft. Wie traurig iſt ſolche Verlorenheit, die doch nicht glaubt, gedankenlos hinzuleben, ſondern eher, alles zu verſtehen, und in des Herzens Verwirrung meint, alles zum eigenen Vorteil zu wenden. Wenn er am Himmel die Abend⸗ röte ſieht, ſo ſagt er: „Es wird morgen ein ſchöner Tag wer⸗ den“, aber ſieht er am Morgen den Himmel rot und trübe, ſo ſagt er: „Es wird heute ein Unwetter geben“; denn über des Himmels Geſtalt, über Wind und Wetter weiß er zu urteilen. Darum ſagt er: „Heute oder morgen wollen wir gehen in die oder die Stadt, und wollen ein Jahr da liegen und Handel treiben und gewinnen.!“ Wenn er feinen Boden mit Verſtand anbaut, ſo rechnet er, daß er ihm vielfältig geben wird. Sein Auge ergötzt ſich am Anblick der reichen Saat, die er ſelbſt vielleicht gedankenlos die geſegnete Frucht nannte. Er baut raſch ſeine Scheunen größer; denn es iſt ihm leicht, voraus⸗ zuſehen, daß die alten dieſen Überfluß nicht faſſen werden. Da iſt er ſicher und froh, preiſt das Daſein, und legt ſich zum Schlafe; doch da heißt es: „Du Narr, dieſe Nacht wird man deine Seele von dir fordern.“ Seine Seele von ihm, iſt es nicht zu viel verlangt, ob er es wohl verſtände? Es iſt nicht die Rede von der reichen Ernte, oder von den neulich er⸗ richteten Scheunen, aber wenn er nun über alledem vergeſſen hätte daß er eine Seele hat. Indes der, welcher bloß mit wenig Ernſt das Leben betrachtet, ſieht leicht, daß er nicht

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alſo Herr iſt, daß er nicht zugleich Diener iſt; daß der Menſch nicht bloß dadurch vom Tiere verſchieden iſt, daß er verſtändiger iſt als dieſes.

Nur der, welcher feig jede tiefere Erklärung flieht; der, welcher nicht den Mut hat, die Verantwortung des Herrn auf ſich zu nehmen, indem er ſich der Verpflichtung des Dieners unterwirft; nicht Demut hat, gehorchen zu wollen, um herrſchen zu lernen, und beſtändig nur herrſchen zu wollen, inſoweit er ſelbſt gehorcht nur er füllt die Zeit mit unaufhörlichen Über- legungen aus, die ihn doch nicht weiter führen, ſondern eher zur Zer ſtreuung dienen, in welcher feine Seele, fein Vermögen zu faſſen und zu wollen, verſchwindet wie ein Dampf und ausge⸗ löſcht wird wie eine Flamme. Wie traurig iſt ſolche Selbſt⸗ verzehrung, wie weit iſt ein Solcher davon entfernt, durch ſein Leben zu zeugen, in ſeinem Leben auszudrücken des Menſchen erhabene Beſtimmung: Gottes Mitarbeiter zu ſein.

Durch jede tiefere Beſinnung, die ihn älter macht als den Augenblick und ihn das Ewige ergreifen läßt, vergewiſſert ſich der Menſch davon, daß er ein wirkliches Verhältnis zu einer Welt hat, und daß alſo dieſes Verhältnis nicht ein bloßes Wiſſen von dieſer Welt und von ſich ſelbſt als einem Teil ihrer ſein kann, da ein ſolches Wiſſen kein Verhältnis iſt, eben weil er ſelbſt in dieſem Wiſſen gleichgültig gegen dieſe Welt iſt und dieſe Welt gleichgültig gegen ſein Wiſſen von ihr. Erſt in dem Augenblick, da die Bekümmerung in ſeiner Seele er⸗ wacht, was die Welt für ihn zu bedeuten habe, und er für

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ie Welt, was all das in ihm, wodurch er ſelbſt zur Welt gehört, für ihn zu bedeuten habe und er darin für die Welt, erſt da verkündigt ſich der innere Menſch in dieſer Bek ümme⸗ rung. Dieſe Bekümmerung wird nicht geſtillt durch ein näheres oder umfaſſenderes Wiſſen, ſie begehrt eine andere Art von Wiſſen, ein Wiſſen, das in keinem Augenblick dabei bleibt, Wiſſen zu ſein, ſondern im Augenblick des Beſitzes in ein Han⸗ deln ſich verwandelt; denn anders wird es nicht beſeſſen. Dieſe Bekümmerung verlangt auch eine Erklärung, ein Zeugnis, aber von einer andern Art. Wenn ein Menſch in ſeinem Wiſſen alles wiſſen könnte, aber nichts wüßte vom Verhältnis dieſes Wiſſens zu ihm, ſo hätte er wohl in ſeinem Streben, vom Verhältnis ſeines Wiſſens zu deſſen Gegenſtand ſich zu ver⸗ gewiſſern, ein Zeugnis verlangt, aber er hätte nicht gefaßt, daß es ein ganz anderes Zeugnis braucht: ſo wäre die Bekümmerung in ſeiner Seele noch nicht erwacht. Sobald dieſe erwacht, wird ſein Wiſſen als troſtlos ſich erweiſen, weil all das Wiſſen, in welchem ein Menſch vor ſich ſelber verſchwindet, ebenſo jede Erklärung, die durch ein ſolches Wiſſen zuſtande kommt, zwei⸗ deutig iſt, bald dies, bald jenes erklärt und das Gegenteil be⸗ deuten kann, ebenſo jedes Zeugnis dieſer Art, gerade wenn es zeugt, voll Trug und Rätſel iſt und nur Angſt gebiert. Wie ſollte auch ein Menſch in dieſem Wiſſen ſich davon ver⸗ gewiſſern, ob Glück Gottes Gnade iſt, ſo daß er an ihm ſich freuen, ſicher ſich ihm hingeben darf, oder ob es des Himmels Zorn iſt, und trügeriſch nur den Abgrund der Verlorenheit vor

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ihm verbirgt, daß ſein Untergang um ſo ſchrecklicher ſei? Wie ſollte ein Menſch in dieſem Wiſſen ſich davon vergewiſſern, ob Unglück des Himmels Strafe iſt, daß er von ihm ſich zer⸗ malmen laſſen kann, oder daß es Gottes Liebe iſt, die ihn in Prüfungen liebt, daß er freudig und zuverſichtlich in der Not der Verſuchung an die Liebe denken muß? Wie ſollte ein Menſch durch ein ſolches Wiſſen ſich davon vergewiſſern, ob er in der Welt hochgeſtellt und ihm viel anvertraut wurde, weil Gott in ihm ſein auserwähltes Werkzeug liebte, oder dies ge⸗ ſchah, weil er zum Sprichwort für die Menſchen werden ſollte, eine Warnung, ein Schreck für andere? Denn ſein Wiſſen kann ihn wohl davon vergewiſſern, daß alles ihm glücke, daß alles ihm ſich füge, daß alles geſchehe, wie er es will, daß alles ihm gegeben werde, worauf er zeigt, daß er hoch betraut ſei wie keiner aber mehr kann dieſes Wiſſen ihn nicht lehren. Und dieſe Erklärung iſt ſehr zweideutig, und dieſes Wiſſen iſt ohne Troſt.

In jener Bekümmerung verkündigt ſich der innere Menſch und verlangt eine Erklärung, ein Zeugnis, das die Bedeutung des Ganzen für ihn und ſeine eigene Bedeutung erklärt, indem es ihn ſelbſt in dem Gott erklärt, der alles in Seiner ewigen Weis⸗ heit zuſammenhält, und den Menſchen zum Herrn der Schöpfung machte dadurch, daß er Gottes Knecht wurde, und für ihn ſich er⸗ klärte dadurch, daß Er ihn zu Seinem Mitarbeiter machte, und durch jede Erklärung, die Er einem Menſchen gibt, ihn beſtärkt im inneren Menſchen. In jener Bekümmerung verkündigt ſich

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der innere Menſch, der nicht bekümmert iſt um die ganze Welt, ſondern nur um Gott und um ſich ſelbſt, und um die Erklärung, die ihm die Beziehung verftändlich macht, und um das Zeugnis, das ihn in der Beziehung bekräftigt. Dieſe Bekümmerung hört keinen Augenblick auf; denn das Wiſſen, das er gewinnt, iſt kein gleichgültiges Wiſſen. Wenn nämlich ein Menſch meinte, gleichſam ein für allemal dieſe Sache zu entſcheiden und dann fertig zu ſein, ſo wäre der innere Menſch in ihm nur totgeboren und verſchwände wieder. Aber wenn er in Wahr⸗ heit bekümmert iſt, wird alles durch Gott zur Bekräftigung im inneren Menſchen dienen; denn Gott iſt treu und läßt Sich nicht ohne Zeugnis. Aber Gott iſt Geiſt und kann deshalb ein Zeugnis geben nur im Geiſt: im inneren Menſchen.

So wird Glück einem ſolchen Menſchen zur Bekräftigung im inneren Menſchen dienen. Oft hört man die Menſchen ſagen, daß das Leben ſo trugvoll ſei, und wie verſchieden auch die Hoffnungen und Wünſche der Ein⸗ zelnen waren, ſo einigten ſich doch ſo ſehr viele in der Entſchei⸗ dung, daß die ſchöne Forderung der Erwartungen niemals ſich erfüllte, wenn auch nur allzu viele zuerſt ſich ſelber betrogen da⸗ durch, daß ſie Troſt ſuchten in der Einbildung, daß ſie einmal in Wahrheit große Erwartungen genährt hätten. So klagen ſie über die Welt, daß ſie das Land des Elends ſei; über die Zeit, daß ſie eitel Mühe und verlorene Arbeit ſei, die den Menſchen dem Ziel ſeines Wunſches nicht näher führe; über die Menſchen, daß ſie treulos ſeien, oder doch träge, lau, ſelbſt⸗

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ſüchtig; über ſich ſelbſt auf dieſelbe Weiſe wie über andere Dinge im Leben, daß ſie nicht als das ſich erwieſen, was ſie einmal zu ſein ſchienen; über die Ordnung aller Dinge hier auf Er den, daß all das eitle und äußere Weſen Fortgang habe, daß alle Tat gekrönt werde, deren Kraft Wortſchwall iſt; das Ge⸗ fühl geprieſen, deſſen Stärke in Redensarten iſt; die Not Teil⸗ nahme finde, deren Beweis im Schreien liegt; aber daß das redliche Streben nur Undank und Verkennung gewinne, daß das ſtille innerliche Gefühl nur Mißverſtändnis begegne, das tiefe, einſame Leid nur Kränkung finde. Selten hört man eine ernſtere Stimme, die jeden ermahnt, des Lebens Unterweiſung anzunehmen und in der Schule der Widerwärtigkeiten ſich erziehen zu laſſen, eine erprobte Rede, die mit allem Nachdruck fragt: „Sollte ein Reicher gerettet werden, ſollte der Mächtige auf dem engen Pfade gehen, ſollte der Glückliche ſich ſelbſt ver⸗ leugnen, ſollte der Gelehrte und Kluge die verachtete Wahrheit annehmen?“ Doch dieſe Rede wird nicht beachtet, ſondern die Klage fährt fort zu tönen, daß nicht bloß der Einzelne im Leben Unglück habe, ſondern daß das ganze Leben nur Unglück ſei, und daß dies das ganze Daſein zu einer finſteren Rede mache, welche keiner verſtehen kann. Aber Glück das iſt leicht zu verſtehen. Und doch: Hiob war ein alter Mann und war alt geworden in der Furcht Gottes, er opferte Brandopfer für jedes ſeiner Kinder, ſo oft ſie zum Mahle gingen. „Aber Glück iſt leicht zu verſtehen!“ und doch kann nicht einmal der Glückliche ſelbſt es verſtehen. Sieh ihn an, den Glück⸗

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lichen, welchem in allem fügſam zu ſein das Glück ſich zur Freude machte. Er arbeitet nicht und doch iſt er herrlich wie Salomo, ſein Leben iſt Tanz, ſein Gedanke berauſcht im Traum der Wünſche, und jeder Traum wird erfüllt, ſein Auge iſt hurtiger geſättigt, als es begehrt, ſein Herz birgt keinen geheimen Ge⸗ danken, ſein Sehnen hat keine Grenze kennengelernt. Aber wenn du ihn fragen wollteſt: „Woher kommt all dieſes?“, ſo würde er wohl leichtſinnig antworten: „Ich weiß es ſelber nicht.“ Dieſe Antwort möchte ihn wohl ſogar ergötzen in ſeinem Leichtſinn wie ein Scherz, der mit zum übrigen paßte, aber er würde nicht faſſen oder bloß ahnen, was er eigentlich ſagte, und wie er ſelbſt ſich richtete. Die bürgerliche Obrigkeit wacht darüber, daß jeder behalte, was ihm mit Recht gehört. Wenn ſie einen Menſchen entdeckt, deſſen Überfluß und Reichtum alle in Ver⸗ wunderung ſetzen, fordert ſie eine Erklärung von ihm, woher er es habe. Und kann er es nicht erklären, wirft ſie einen Ver⸗ dacht auf ihn, daß er nicht auf ehrliche Weiſe es erhielt, daß er nicht im rechtmäßigen Beſitz davon ſei, daß er vielleicht ein Diͤeb ſei. Die menſchliche Gerechtigkeit iſt nur ein ſehr unvoll⸗ kommenes Gleichnis der göttlichen. Dieſe hat ein wachſames Auge auf jeden Menſchen. Wenn ein Menſch auf die Frage, woher er das alles habe, keine andere Antwort hat, als daß er ſelbſt es nicht wiſſe, richtet ſie ihn, und bleibt bei ihm wie ein Verdacht gegen ihn, daß er nicht in rechtmäßigem Beſitz davon ſei! Dieſer Verdacht iſt nicht ein Diener der Gerechtig⸗ keit, ſondern die Gerechtigkeit ſelbſt; iſt die, welche anklagt und

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richtet und ihm das Urteil verkündet und ſeine Seele im Ge⸗ fängnis bewacht, daß ſie nicht entweiche. Was fordert man denn von dem Glücklichen? Was anderes, als auch eine Be⸗ kräftigung im inneren Menſchen? Aber er hatte keine Be⸗ kümmerung, keinen inneren Menſchen; war er je dageweſen, ſo war er verſchwunden und ausgelöſcht. Der dagegen, in deſſen Seele der innere Menſch ſich verkündigt in jener Be⸗ kümmerung, wird nicht froh, wenn das Glück in allem ihm ſich fügen will. Ein heimliches Grauen bemächtigt ſich ſeiner vor der Macht, die ſo launiſch alles verſchwenden will, er hat Angſt, mit ihr zu tun zu haben, denn es iſt, als forderte ſie zum Erſatz etwas von ihm, das ſo furchtbar iſt, daß er kaum der Angſt davor einen Namen zu geben weiß. Einen weit ge⸗ ringeren Teil will er mit Dankbarkeit annehmen, wenn er bloß wiſſen darf, von wem er kommt. Aber dieſes verlangt die Be⸗ kümmerung in ihm, dieſe Erklärung, dieſes Zeugnis. Ob er auf des Berges Spitze geſtellt würde, um auszuſchauen über die Reiche und Länder der Welt, und ihm geſagt würde: „Das iſt alles dein“, er möchte doch zuerſt wiſſen, wer ihn hinauf⸗ geſtellt habe, wem er zu danken habe. Aber wenn das Glück deſſenungeachtet fortfährt, wie er es ausdrücken müßte, ihn zu verfolgen, wird ſeine Bekümmerung größer und größer; jedoch im Maß, wie ſeine Bekümmerung zunimmt, gewinnt ſeine Seele zuletzt die Bekräftigung im inneren Menſchen. So ward Glück ihm Anlaß, daß die Bekümmerung zunahm, und ſo diente Glück ihm zur Bekräftigung im inneren Menſchen; denn

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der, welcher die ganze Welt beſitzt und Gott dankt, wird be⸗ kräftigt im inneren Menſchen. So wird er ſich ganz anders freuen als jener Glückliche; denn der, welcher, wenn er die Welt hat, wie der iſt, der ſie nicht hat, er hat die Welt; anders wird er gehabt von ihr. So freut er ſich über alle die guten Gaben, aber noch mehr freut er ſich über Gott und mit Gott, der ſie gab. So ergötzt er ſein Auge am Glanz der Erde, freut ſich darüber, daß die Vorratskammern voll ſind, ſo baut er ſeine Scheunen größer, ſo legt er ſich ruhig zum Schlafen, und wenn es heißt: „In dieſer Nacht will ich deine Seele von dir for⸗ dern“, ſo verſteht er dieſe Forderung und iſt hurtig fertig und weiß beſſer Beſcheid um ſeine Seele, die er mit ſich nehmen ſoll, als um all die Herrlichkeit, die er beſaß und nun verläßt, all die Herrlichkeit, an der er ſich freute, und die von Tag zu Tag ihm zur Bekräftigung im inneren Menſchen ward durch Dankſagung.

„Aber Glück iſt ſo leicht zu verſtehen“, und doch kann nicht einmal der Begabte es recht verſtehen. Sieh ihn an, den Be⸗ gabten, den die Natur mit allem Herrlichen ausrüſtete, dem ſie Macht gab und Klugheit und des Geiſtes Kraft und des Herzens Unerſchrockenheit und des Willens Ausdauer. Sieh ihn an! Warum bebt er zuweilen in ſeinem Innerſten, der die ganze Welt zum Beben brachte? Warum erbleicht zuweilen der in feinem Innerſten, der alles durch feine Klugheit beherrſchte? Warum ward der zuweilen ohnmächtig in ſeinem Innerſten, der unerſchrocken alles unter ſeinen Augen hatte? Oder ſollte

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man nicht ſchaudern in einer ſtillen Stunde, ohnmächtig werden in einem freien Augenblick —, die Macht zu haben, und nicht zu wiſſen, wozu man ſie hat. Die bürgerliche Gerechtigkeit wacht darüber, daß jeder innerhalb ſeiner Grenzen bleibt, daß jeder Einzelne dem Ganzen dienen muß. Wenn ſie einen Mann entdeckt, deſſen Macht die Aufmerkſamkeit aller weckt, fordert ſie eine Erklärung von ihm, wozu er ſie brauche, und kann er die nicht geben, fällt ein Verdacht auf ihn, daß er kein guter Bürger ſei, ſondern vielleicht ein Friedensſtörer. Die menſchliche Gerechtigkeit iſt nur ein Gleichnis der göttlichen. Dieſe geht auch zu dem Einzelnen, und ihre Unterſuchung iſt ſtrenger. Trifft ſie einen Menſchen, der auf die Frage, wozu er ſie habe, nichts anderes antworten kann, als daß er ſelbſt es nicht recht wiſſe, ſo bleibt die Gerechtigkeit bei ihm wie ein Verdacht auf ihn. Sie nimmt vielleicht nicht die Macht von ihm; denn möglicherweiſe hat er ſie noch nicht mißbraucht, aber ſie wird zu einer Angſt in ſeiner Seele, die wacht, wann er es am wenigſten erwartet. Was fehlt denn einem ſolchen Men⸗ ſchen? Was anderes, als eine Bekräftigung im inneren Men⸗ ſchen? Aber der, in deſſen Seele der innere Menſch ſich verkündigt in jener Bekümmerung, wird nicht froh, wenn er entdeckt, daß er die Macht hat. Er wird unruhig, faſt bange vor ſich ſelber. Mit Angſt vergewiſſert er ſich davon, wieviel er vermag. Aber wenn er deſſenungeachtet die Macht nicht los⸗ werden kann, wird ſeine Bekümmerung und ſeine Herzensangſt größer und größer, bis dieſe Bekümmerung die Bekräftigung

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im inneren Menfchen gebiert. So weiß er nicht bloß, daß er die Macht hat, fondern er weiß auch, was jener Begünſtigte nicht wußte, wem die Ehre zukommt und wem ſie mit Recht gehört. So freut er ſich darüber, daß jedes Unternehmen glückt, ſo ſehnt er ſich, das Ziel ſeines Strebens zu erreichen, aber noch mehr freut er ſich doch über Gott, und noch mehr ſehnt er ſich nach dem Augenblick, da er mit ſeinem Gott ſich darüber freuen wird, daß es geglückt iſt. So umfaßt ſeine Seele die ganze Welt, und ſeine Pläne gehen weit um die Länder, aber wenn es in der Stille der Nacht heißt: „Tu Rechnung von deinem Haushalten!“, ſo weiß er, was dieſer Befehl zu bedeuten hat, er weiß, wo er die Rechenſchaft liegen hat, und ob auch Mängel in ihr ſind, er verläßt getroſt die Welt der Gedanken und Ge⸗ ſchäfte, in welcher er doch nicht ſo ſeine Seele hatte, verläßt die kunſtreich verwickelte und weit ausgeſtreckte Arbeit, die ihm Tag für Tag Anlaß geweſen war zur Bekräftigung im inneren Menſchen. |

„Aber Glück ift fo leicht zu verſtehen“ und doch wird es zuweilen auch nicht einmal von einem Menſchen verſtanden, der mit Widerwärtigkeiten vertraut iſt. Sieh ihn an! Er hatte ge⸗ lernt, daß es Not im Leben gibt, er hatte in ſchweren Schick⸗ ſalen ſich ſelbſt geſtanden, wie ſchwach und ohnmächtig doch ein Menſch mit ſeinen eigenen Kräften ſei. Dennoch gab er den Mut nicht auf; er verzagte nicht, er fuhr fort zu arbeiten. Ob er etwas erreichte dadurch, ob er vorwärts oder rückwärts kam, ob er ſich bewegte oder ſtille ſtand, das wußte er nicht; denn

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es hatte eine Finſternis um ihn ſich ausgebreitet und es war wie eine beſtändige Nacht. Dennoch ſtrengte er ſeine letzten Kräfte an. Siehe! da ging die Sonne des Glückes wieder auf, beleuchtete alles, verklärte alles, vergewiſſerte ihn, daß er ſehr weit gekommen war, daß es gewonnen war, wofür er gearbeitet hatte. So brach er in Freude aus: „So mußte es kommen; denn eines Menſchen Anſtrengung iſt nicht eine unfruchtbare und be⸗ deutungsloſe Mühe.“ So hatte er alles verſcherzt und bekam keine Bekräftigung im inneren Menſchen. Er hatte vergeſſen das Bekenntnis der Stunde der Not, vergeſſen, daß die Er- füllung nicht ſicherer iſt, weil ſie gekommen iſt, als ſie war, da er geſtand, daß er nicht darauf rechnen könne, ſie mit eigenen Kräften zu erreichen. Unglück hatte er verſtanden, aber Glück konnte er nicht verſtehen. So ging der innere Menſch gleichſam aus in ſeiner Seele. Oder wenn die Gerechtigkeit ihn beſuchte und eine Erklärung von ihm verlangte, ob ihr ſeine Antwort wohl genügen könnte? Er hatte den Herrn beſſer in der Feuer⸗ ſäule verſtehen gekonnt, die ein einzelnes Mal in der Nacht leuchtete, aber als es Tag ward, konnte er den Blick nicht auf die Wolkenſäule richten. Der dagegen, in deſſen Seele der innere Menſch ſich verkündigt in jener Bekümmerung, gewann, als der Tag der Freude über die Finſternis ſiegte, eine volle Bekräftigung im inneren Menſchen; denn die Freude nehmen ohne dieſe Bekümmerung um das Zeugnis, hieße einer Täu⸗ ſchung ſich hingeben. Aber das Zeugnis empfing er mit froher Dankbarkeit, weil es zu dem kam, den es nicht ſchlafend fand.

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Und der innere Menſch nahm zu Tag für Tag an Wohlgefallen vor Gott. Und wenn der Herr einmal den Knecht wegrief, ſo kannte er den Weg und verließ alles, und nahm nur die Zeugniſſe mit ſich, in denen er ſeine Seligkeit gehabt hatte.

„Aber Glück iſt ſo leicht zu verſtehen“, und doch verſteht oft auch der Unglückliche es nicht, oder weiß recht, wovon er redet. Zu dem Glücklichen redet man getroſt; denn wenn das Geſagte ihm nicht behagt, ſo kann er ja an ſeinem Glücke ſich freuen und des Redenden ſpotten. Mit dem Unglücklichen iſt es eine andere Sache, daß nicht die Rede, wenn ſie ihm nicht zuſagt, eine neue Plage werde; daß er nicht, wenn er meint, daß der Redende ſelbſt nichts erfahren hat, noch ungeduldiger werde und es als eine neue Kränkung empfinde, daß der ihn tröſten will, der ſein Leiden nicht kennt. Aber wer auch dies geſagt hat, es bleibt doch wahr, daß der Unglückliche oft nicht verſteht, was Glück iſt. Und wer verſteht es doch in einem andern Sinn beſſer als eben der Unglückliche? Denn wer verſtände beſſer von der Luſt des Reichtums zu reden als der, welcher von Broſamen lebt, wer ſchilderte Macht und Gewalt glühender als der, welcher in Knechtſchaft ſeufzte, wer ſchilderte der Men⸗ ſchen Vereinigung hinreißender als der, welcher einſam blieb im Leben? Aber der, welcher zu ſchildern verſtand, verſtand doch vielleicht nicht immer ſich ſelbſt; aber der, welcher nicht ſich ſelbſt verſtand, wie ſollte er in tieferem Sinne faſſen, was außer ihm iſt? Wenn er dagegen ſich ſelbſt verſtand, oder ſich ſelbſt zu verſtehen ſuchte, wenn er in Wahrheit bekümmert war,

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ſich ſelbſt zu verſtehen, wenn der innere Menſch in ihm ſich verkündigte in jener Bekümmerung: ſo wird er das Glück ver⸗ ſtehen, wird er die Bedeutung deſſen verſtehen, daß ihm es ver⸗ weigert ward, ſo wird er nicht mit Bildern der Einbildung umgehen und nicht mit Träumen ſich ſtärken, ſondern in ſeinem Unglück bekümmert ſein um ſich ſelbſt. So wird einem ſolchen Menſchen Unglück zur Bekräftigung im inneren Menſchen dienen. Und wie ſollte es nicht? Der innere Menſch verkündigt ſich ja in jener Bekümmerung, und Unglück läßt ja gerade das Außere, das Sinnliche, das Hand⸗ greifliche verſchwinden und ſich verwirren; aber ruft es darum zugleich immer das Innere ins Leben? Und Widerwärtigkeit macht ja jeden Menſchen bekümmert, aber macht ſie ihn immer bekümmert um Gott? Bekräftigte nicht das Leben öfter die Wahrheit des ernſten Wortes, das von demſelben ertönt, der vor Glück warnte, und deshalb mit tiefer Bedeutung ertönt: „daß auch Widerwärtigkeiten Verſuchungen ſind.“ Sieh ihn an, den Bekümmertenl Sieh näher hin auf ihn, du erkennſt ihn faſt nicht wieder ſeit der Zeit, da er ſo froh ging, ſo ſtark, ſo zuverſichtlich ins Leben. Seine Beſtimmung im Leben war ihm ſo deutlich und ſo wünſchenswürdig, ſein Denken kannte ſein Streben, und ſein Herz hing daran, ſeine Kraft arbeitete getreulich und die Hoffnung verhieß ihm eine glückliche Er⸗ füllung. Denn es gibt eine Hoffnung, die des Himmels väter⸗ liche Gabe für das Kind iſt, eine Hoffnung, die mit dem Kind aufwächſt, mit welcher der Jüngling in das Leben hinausgeht.

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Dieſe Hoffnung ſteht ihm für alles ein. Wer gab ihm auch dieſe Hoffnung, wenn nicht der Herr im Himmel; ſollte fie nun nicht gültig ſein in der weiten Welt, in allen den Reichen und Landen, die dem himmliſchen König gehören, der ſie ihm gab! Doch geſchah es nicht alſo, und bald hatten Widerwärtig⸗ keiten die ſchöne Hoffnung dem Stärkeren entwunden, dem Schwächeren abgenarrt. So verwirrte alles ſich für ihn. Es gab keinen Herrſcher mehr im Himmel, die weite Welt war ein Tummelplatz für des Lebens wilden Lärm, da war kein Ohr, das die Verwirrung zur Harmonie ſammelte, keine Hand, die lenkend eingriff. Wie auch ein Menſch im Leben ſich tröſten konnte, die Hoffnung, meinte er, war verloren, und die Hoff⸗ nung blieb verloren. So ward ſeine Seele bekümmert. Und je mehr er in die Geſetzloſigkeit ſtierte, in der alles ſich aufzu⸗ löſen ſchien, um ſo mehr Macht gewann ſie über ihn, bis ſie ganz ihn betörte, bis ſeinen Gedanken ſchwindelte, er ſelbſt hinabſtürzte und in Verzweiflung ſich verlor. Oder wenn die Bekümmerung auch nicht fo eine ver führeriſche Macht über ihn bekam, ſeine Seele blieb doch ohne Teilnahme und allem fremd. Er ſah darauf, wie die andern, aber ſein Auge las beſtändig eine unſichtbare Schrift in allem, daß es Leere ſei und Täu⸗ ſchung. Oder er zog von den Menſchen ſich zurück und ermattete meuchelmörderiſch ſeine Seele in Bekümmerungen, in düſteren Gedanken, im unfruchtbaren Dienſt unruhiger Stimmungen. Was mangelte einem ſolchen Menſchen, was war das, was er nicht gewann, als er alles verlor, was anderes als die Be⸗

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kräftigung im inneren Menſchen? Der dagegen, in deſſen Seele jene Bekümmerung war, ehe die Bekümmerung ihn er⸗ reichte, die von außen kommt; der, deſſen Seele die Freude niemals ſo zufrieden ſtellte, daß ſie nicht die Bekümmerung um das Zeugnis doch behielt, aber die äußere Bekümmerung auch nicht fo überwältigte, daß die Möglichkeit der Freude ver- ſchwand, ſolange er noch um das Zeugnis ſich bekümmerte für ihn ward die Bekümmerung, die von außen kam, nach und nach ein Freund. Sie vereinigte ſich mit der Bekümmerung in ihm, ſie verhinderte ihn, fehlzuſehen auf das Leben, ſie half ihm dazu, die Seele in Bekümmerung ſinken und ſinken zu laſſen, bis ſie das Zeugnis fand. So wurde er nach und nach leichter und leichter, er warf ſchließlich die irdiſche Laſt der welt⸗ lichen Wünſche ab, und ruhte mit dem Zeugnis in Gott, ſelig durch die Hoffnung, die er gewonnen hatte. Denn es gibt eine Hoffnung, von welcher die Schrift ſagt, daß fie durch Er- fahrung erworben wird. Welche Erfahrung meint nun die Schrift; vielleicht die, in der ein Menſch ſich vergewiſſert, daß er alles bekommt, was er hofft. Die Schrift ſagt, daß dieſe Erfahrung eine Frucht der Anfechtung iſt. Aber eine ſolche Hoffnung kann die Welt ja nicht nehmen, denn ſie wird ja gewonnen in der Not, und gewinnt Stärke durch die Not. Ihm verhalf Unglück zu einer Bekräftigung im inneren Menſchen; denn der, welcher das, was er lernte, aus ſeinem Leiden lernte, und das Gute durch Leiden lernte, gewann nicht bloß die beſte Lehre, ſondern was viel mehr iſt den beſten Lehrmeiſter,

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und der, welcher von Gott lernt, wird bekräftigt im inneren Menſchen. Wenn er nun auch alles verlor, ſo gewann er doch alles, und Abraham beſaß nur ein Grab in Kanaan, und doch war er Gottes Auserwählter.

Sieh ihn an, den Unter drückten. Er klagt nicht über das Leben, ſondern über die Menſchen, die alles verderben und bitter machen, was Gott gut machte. Sieh ihn näher an! Du erkennſt ihn kaum wieder ſeit der Zeit, da er jung und freudig in das Leben hinausging voller Erwartung, ſeine Miene ſo offen, ſein Herz ſo warm, ſeine Seele ſo raſch bereit, zu jedem Menſchen zu eilen, es gab für ihn nur Freude und Herrlichkeit. Doch ſo blieb das nicht. Bald hatte, wie er meinte, der Betrug der Menſchen ihm ſeinen Glauben abgeliſtet, die Hinterliſt der Menſchen ſeiner Offenherzigkeit geſpottet, der Menſchen Kälte und Selbſtſucht die Begeiſterung in ihm ermattet, der Men⸗ ſchen Neid ſeinen Mut geſtürzt, ſeine Kraft, ſeine Feurigkeit, ſein ſtolzes Streben, ſein herrliches Wirken in dasſelbe Elend wie das, in welchem ſie ſelbſt leben. Wie man das Leben auch aushält, die Menſchen, meinte er, waren verloren. So ver⸗ wirrte ſich alles für ihn; da war kein Gott, der alles zum Guten dachte, ſondern alles war den Menſchen überlaſſen, die alles zum Böſen dachten. Aber je mehr ſeine Seele wieder in den Abgrund der finſteren Leidenſchaften ſtierte, die ſich für ihn vorſtellten, um ſo mehr Macht bekam die Angſt der Ver⸗ ſuchung über ihn, bis er ſelbſt in ſie hinabſtürzte und in Ver⸗ zweiflung ſich verlor. Oder wenn der Schmerz ihn auch nicht

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ſo hinriß, ſo ſtand er doch fühllos im Kreis der Menſchen, er ſah es mit andern ſich wiederholen, was ihm zugeſtoßen war, aber er fühlte keine Teilnahme, was half es auch, da er keinen Troſt zu bieten hatte. Oder er verbarg ſich vor den Menſchen, um in der Einſamkeit der Seele in ſeine troſtloſe Weisheit ſich zu vertiefen, den Gedanken der Verzweiflung in ſeinem ganzen Schrecken zu ergründen. Oder er ward gebeugt wie ein Rohr, ſiechte hin in einer langſam zehrenden Wehmut, eine Angſtigung für ihn ſelbſt und für jeden, der Zeuge war, wie er ausgelöſcht wurde. Aber der, in deſſen Seele der innere Menſch ſich verkündigte in jener Bekümmerung, von der wir reden; der, deſſen Seele keines Menſchen Liebe ſo ausfüllte, daß das Zeugnis ihm aus dem Sinn kam, fand wohl niemals die Menſchen ſo, wie jener Beleidigte, und doch fand er ſie vielleicht anders, als er gehofft und gewünſcht hatte. Aber ſelbſt wenn das Furchtbare geſchah, wenn die Menſchen gegen ihn aufſtanden wie Gewalttäter oder ihn verließen wie Betrüger, wenn der Feind ihn verfolgte, der Freund ihn verriet, wenn der Neid ſeinen Füßen Fallen legte, was vermochten ſie doch über ihn? Sie konnten feine Bekümmerung vermehren, fie konnten ihm dazu helfen, aus ſeiner Seele jedes Gefühl zu reißen, mit dem er der Schöpfung ſo angehörte, daß er in ihm nicht zugleich dem Schöpfer angehörte. Aber ſie konnten nicht verhindern, daß die Bekümmerung um Gott, die in ſeiner Seele war, tiefer und innerlicher ihren Gegenſtand ſuchte. Und der, welcher Gott ſucht, findet allzeit, und der, welcher einen Men⸗

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ſchen nötigt zu ſuchen, hilft ihm zu finden. So ſuchte ſeine Seele in der Bekümmerung innerlicher und innerlicher, bis ſie das Zeugnis fand; denn der, welcher Gott liebt, wird bekräftigt im inneren Menſchen, und der, welcher die Menſchen liebte und nur durch dieſe Liebe gleichſam lernte, Gott zu lieben, deſſen Erziehung war doch nur unvollkommen; aber der, welcher Gott liebte, und in dieſer Liebe die Menſchen lieben lernte, ward be⸗ kräftigt im inneren Menſchen. Verweigerte der Menſch ihm ſeine Liebe, ſo half er ihm, die Gottes zu finden, die ſeliger iſt, als was in eines Menſchen Herzen aufkam; verweigerte der Freund ihm ſeinen Troſt, ſo half er ihm, den Gottes zu finden, der über alle Maßen iſt; verweigerte die Welt ihm ihren Beifall, ſo half ſie ihm, den Gottes zu ſuchen, der über allen Verſtand geht. Sieh ihn an, den Ver ſuchten, der ge⸗ prüft ward in der Not der Anfechtung. Vielleicht ſahſt du ihn ſeltener; denn die Anfechtung kommt ja nicht allzeit mit ſicht⸗ baren Zeichen. Es war nicht, was wir eigentlich Unglück nennen, worin er geprüft ward; die Menſchen verließen ihn nicht, im Gegenteil, in äußerer Hinſicht war alles freundlich und ſchön. Dennoch ſaß ſeine Seele in Not, und wie dieſe nicht im Außeren lag, ſo konnte er auch nicht der Menſchen Troſt finden. Außer⸗ lich glückte ihm alles, und dennoch war ſeine Seele in Angſt, ohne Zuverſicht und Freimut. Er ſuchte nicht Frieden und Ruhe im Äußeren, und doch war fein Herz ohne Unterlaß beſchwert. So erlag der innere Menſch in ihm, es war ihm, als wäre das äußere Glück nur da, um das innerliche Leiden einzufrieden,

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daß er nicht einmal in den Widerwärtigkeiten der Welt Linde⸗ rung finden ſollte; es war ihm, als wäre Gott ſelbſt es, der Seine gewaltige Hand auf ihn legte, als wäre er ein Kind des Zornes, und doch konnte er nicht näher verſtehen oder ſich er⸗ klären wie. So empörte ſein Innerſtes ſich in ihm, ſo tat er, was in einer alten Erbauungsſchrift ſteht, ſo „rühmte er ſich deſſen, daß er verloren ſei“, und daß Gott ſelbſt es ſei, der ihn in die Verlorenheit geſtürzt habe. So verſteinerte der innere Menſch in ihm. Aber der, in deſſen Seele der innere Menſch ſich verkündigte in jener Bekümmerung, von der wir reden, er ließ dennoch nicht die Bekümmerung los. Wenn er auch die Erklärung nicht fand, er fand doch die Erklärung, er ſolle auf die Erklärung warten. Er fand doch die Erklärung, daß Gott prüfte, er fand doch den Troſt, daß, wenn Gott prüft, die Zeit wohl ſehr lang wird, aber daß Gott alles wieder ein⸗ holen kann, denn für Ihn iſt ein Tag wie tauſend Jahre. So ward er ſtiller in ſeiner Not. Er floh nicht den Schmerz der Anfechtung, er ward ihm ein vertrauter, ein vermummter Freund, wenn er auch nicht faßte wie, wenn er auch vergebens ſeinen Gedanken anſtrengte, um ſein Rätſel zu erklären. Aber all wie ſeine Bekümmerung zunahm, aber auch zunahm an Stille und Demut, ſo daß er, wieviel er auch litt, allzeit lieber bei der Anfechtung zu bleiben wählte als irgendwo anders in der Welt, brach auch zuletzt das Zeugnis hervor in der vollen Gewißheit des Glaubens; denn der, welcher Gott gegen den Verſtand glaubt, wird bekräftigt im inneren Menſchen. Ihm

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diente die Anfechtung zu einer Bekräftigung im inneren Men⸗ ſchen, er lernte das Schönſte von allem, das Seligſte, daß Gott ihn liebte; denn wen Gott prüft, den liebt er.

So dient denn Glück und Unglück einem ſolchen Menſchen zur Bekräftigung im inneren Menſchen. Aber die Bekräftigung kann kein Menſch ſelbſt ſich geben, und der, welcher ein Zeugnis empfängt, iſt ja nicht der, welcher es gibt. Hieran erinnert Paulus auch in unſerem Text: „Denn das Zeugnis ſelbſt iſt eine Gabe von Gott, von dem alle gute und alle voll⸗ kommene Gabe kommt, die herrlichſte von allen, eine Gabe vom Vater im Himmel, nach dem alle Vaterſchaft genannt wird im Himmel und auf Erden.“ Das ſind Worte des Apoſtels, und dieſer Vaterſchaft Gottes ſchreibt er die Bekräftigung im inneren Menſchen zu, und ſchreibt ſie ihr ſo zu, daß Gottes Liebe, gerade in dieſer Außerung, in der Bekräftigung im inneren Menſchen, als Vaterliebe ſich beweiſt. Wir nennen Gott einen Vater, der Menſch ruht froh und zuverſichtlich in dieſer Benennung als der ſchönſten, der erhebendſten, aber auch als der wahrſten und bezeichnendſten, und doch iſt dieſer Ausdruck ja ein bildlicher, hergeholt vom irdiſchen Leben, wenn auch vom Schönſten, das das Erdenleben hat. Aber wenn der Ausdruck ein bildlicher iſt, ein übertragener, reicht er wirklich bis zum Himmel, um zu bezeichnen, was er bezeichnen ſoll, oder verflüchtigt er ſich nicht, je höher er ſteigt, wie ein irdiſches Sehnen, das doch allzeit nur dunkel redet? Ja, für den, der auf das Äußere ſieht, wird der Ausdruck ein uneigentlicher und

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unwirklicher; denn wenn er meint, Gott gebe die guten Gaben, wie ein Vater es tut, aber doch ſo, daß die Gaben es ſind, die gleichſam beweiſen, daß Gott unſer Vater iſt, ſo urteilt er äußerlich, und für ihn wird die Wahrheit ſelbſt uneigentlich. Aber der innere Menſch ſieht nicht auf die Gaben, ſondern auf den Geber; die menſchliche Scheidung zwiſchen dem, was man Gabe nennen müßte, und dem, was die Sprache nicht geneigt iſt ſo zu nennen, verſchwindet für ihn im Weſentlichen, im Geber; Freude und Leid, Glück und Unglück, Not und Sieg ſind für ihn Gaben; denn ihm iſt der Geber das Wichtigſte. Der innere Menſch verſteht das und iſt deſſen gewiß, daß Gott ein Vater im Himmel iſt, und daß dieſer Ausdruck nicht ein bildlich un vollkommener iſt, ſondern der eigentlichſte und wahrſte, weil Er nicht bloß die Gaben gibt, ſondern Sich ſelbſt mit, wie kein Menſch es vermag, der nur in einem Gefühl oder in einer Stimmung in der Gabe zur Stelle ſein kann, nicht weſentlich, nicht der ganzen Gabe Inhalt bis zum mindeſten durchdringen, nicht ganz in der ganzen Gabe, noch weniger ganz im geringſten Teile ihrer zur Stelle ſein kann. Schien es dir deshalb auch einmal, daß, indem der Gedanke aus dem väter⸗ lichen Heim hinauswanderte, er ſich verirrte draußen in der Welt, um ſich zur Vorſtellung von Ihm zu erheben, von Ihm, dem allmächtigen Gott, dem Schöpfer Himmels und der Erde als dem gemeinſamen Vater aller, daß dir doch etwas verloren ginge, die Verliebtheit nämlich, die dir in dem väter⸗ lichen Hauſe zuteil wurde, weil du nur das Kind warſt und er

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dein irdiſcher Vater, nur dein Vater, ſo wollen wir nicht leugnen, daß es dir ſo ſcheinen konnte, daß der Vergleich doch nicht ganz paßte. Aber wenn du dann zu ihm kamſt, deinem irdiſchen Vater, froh über alle Maßen, weil du die ganze Welt gewonnen hatteſt, und du ihn wohl froh fandeſt; denn wie ſollte er auch nicht ſich freuen mit dem Frohen, im beſonderen mit dem Frohen, der ihm teurer war als alles, aber doch, gerade weil er dich liebte, nur froh wie aufs Ungewiſſe, daß nicht, was du gewonnen hatteſt, dir zum Verderben gereichen ſollte; und du dagegen froh, weil du die ganze Welt gewonnen hatteſt, zu Ihm kamſt, deinem himmliſchen Vater, und Er ganz mit dir teilnahm an deiner Freude, weil gerade dies, daß du mit Ihm dich freuteſt, ein untrüglicher Beweis war, daß, was du gewonnen hatteſt, dir zum Guten dienen müßte oder wenn du traurig und weinend zu ihm kamſt, deinem irdiſchen Vater, und du ihn wohl weinend fandeſt; denn wie ſollte er nicht weinen mit dem Weinenden, im beſonderen mit dem Weinenden, den er höher liebte als alles, aber du dich doch nicht recht ver⸗ ſtändlich machen konnteſt für ihn, ſo daß er mehr trauerte, weil du trauerteſt, als über das trauerte, worüber du trauerteſt; und du dagegen traurig, in deiner Seele Bekümmerung zu Ihm kamſt, deinem himmliſchen Vater, welcher der einzige iſt, der Ohren hat zu hören, was im Verborgenen geſprochen wird, und Väterlichkeit, es recht zu verſtehen oder wenn du be⸗ kümmert und niedergebeugt zu ihm kamſt, deinem irdiſchen Vater und ihn ſchwach fandeſt, wankend, ohne Troſt für dich,

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und nur dein Schmerz ſich mehrte durch ſein Leid; und du da⸗ gegen zerknirſcht und vernichtet zu Ihm kamſt, deinem himm⸗ liſchen Vater und Ihn ſtark fandeſt, und ſtärker, je ſchwächer du wareſt, willig zu helfen und allzeit williger, je größer die Not war... mein Zuhörer! da paßt der Vergleich auch nicht mehr ganz. Da haſt du gefühlt, daß, nicht weil du einen Vater haſt, oder weil die Menſchen Väter haben, daß es nicht deshalb iſt, daß Gott der Vater im Himmel genannt wird, ſondern daß es iſt, wie der Apoſtel ſagt: nach Ihm wird alle Vater⸗ ſchaft genannt im Himmel und auf Erden; fo daß, wenn du auch den liebreichſten Vater hätteſt, den es unter Menſchen gegeben hat, auch er nur, trotz ſeinem beſten Willen ein Stief⸗ vater wäre, ein Schatten, ein Abglanz, ein Gleichnis, ein Bild, eine dunkle Rede von der Vaterſchaft, nach welcher alle Vater⸗ ſchaft genannt iſt im Himmel und auf Erden. Oh, mein Zu⸗ hörer! haſt du dieſe Seligkeit gefaßt, oder beſſer, hat meine Rede dich daran erinnert, was du beſſer und innerlicher und voller und ſeliger beſitzeſt, als ich es beſchreiben kann; oder beſſer: hat meine Rede nichts geſtört in dem, was du beſitzeſt, denn was iſt doch ſeliger als dieſer Gedanke, den kein Glück, keine Begünſtigung, keine Bekümmerung, keine Kränkung, keine Anfechtung, nicht Gegenwärtiges, nicht Zukünftiges einem Menſchen entreißen, ſondern nur dazu dienen kann, zu ſtärken und zu kräftigen.

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Das Erſte, ſagen die Menſchen, iſt doch das Schönſte, und das Herz hängt daran: der erſte Menſch, der ihn zur Stunde grüßte, als er unter die Lebenden gezählt ward; der erſte Him⸗ mel, der über die Stelle ſich wölbte, wo er geboren ward; die erſte Sprache, welche die der Mutter heißt; das erſte Volk, welches das der Väter heißt; der erſte Unterricht, der feine Seele ausweitete; die erſten Gleichaltrigen, die ihn verſtanden; der erſte Gedanke, der begeiſterte; die erſte Liebe, die ihn glücklich machte ſelig der Mann, der in Wahrheit ſagen konnte: „Gott im Himmel war meine erſte Liebe“; ſelig der Mann, deſſen Leben eine geſegnete Bekräftigung dieſer Liebe war, ſelig der Mann, der, wenn er auch fehlgriff im Leben und das Außere nahm anſtatt das Innere, wenn ſeine Seele auch auf vielerlei Weiſe in die Welt verwickelt ward, doch wieder ſich erneuerte im inneren Menſchen, indem er zurückkehrte zu ſeinem Gott, be⸗ kräftigt im inneren Menſchen.

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Hiob Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn ſei gelobt.

„Da ſtand Hiob auf, und zerriß ſein Kleid, und raufte fein Haupt und fiel auf die Erde, und betete an, und ſprach: Ich bin nacket von meiner Mutter Leibe kommen, nacket werde ich wieder dahinfahren. Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen; der Name des Herrn ſei gelobt!“

Nicht bloß den nennen wir einen Lehrer der Menſchen, der durch eine beſonders glückliche Gunſt, oder mit unermüdlicher Mühe und durchgreifender Ausdauer die eine oder andere Wahrheit entdeckte oder ergründete, das Erworbene als eine Lehre hinterließ, welche die folgenden Geſchlechter zu verſtehen und in dieſem Verſtehen ſich zuzueignen ſtreben; ſondern auch den, vielleicht in noch ſtrengerem Sinn, nennen wir einen Lehrer der Menſchheit, der nicht nur Lehre anderen zu übergeben hatte, ſondern dem Geſchlecht ſich ſelbſt als ein Vorbild hinter⸗ ließ, ſein Leben als eine Führung für jeden Menſchen, ſeinen

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Namen als eine Bürgſchaft für die Vielen, ſeine Tat als eine Aufmunterung für die Verſuchten. Ein ſolcher Lehrer und Führer der Menſchheit iſt Hiob, deſſen Bedeutung keineswegs in dem liegt, was er geſagt hat, ſondern in dem, was er getan hat. Wohl hat er eine Ausſage hinterlaſſen, die durch ihre Kürze und Schönheit zum Sprichwort geworden iſt, bewahrt von Ge⸗ ſchlecht zu Geſchlecht, und keiner hat vermeſſen etwas hinzu⸗ gefügt oder etwas weggenommen; aber die Ausſage ſelbſt iſt nicht der Führer, und Hiobs Bedeutung liegt nicht darin, daß er ſie ſagte, ſondern darin, daß er nach ihr handelte. Das Wort ſelbſt iſt wohl ſchön und der Überlegung wert, aber wenn ein anderer es geſagt hätte, oder wenn Hiob ein anderer geweſen wäre, oder wenn er es bei einer anderen Gelegenheit geſagt hätte, ſo wäre auch das Wort ſelbſt ein anderes geworden, be⸗ deutungsvoll, wenn anders es dies war, als ausgeſagtes, aber nicht bedeutungsvoll dadurch, daß er handelte, indem er es aus⸗ ſagte, daß die Ausſage ſelbſt eine Tat war. Wenn Hiob ſein ganzes Leben angewendet hätte, um dieſes Wort einzuſchär fen, wenn er es als die Summe und Vollendung deſſen betrachtet hätte, was ein Menſch vom Leben lernen ſoll, wenn er es be⸗ ſtändig bloß von ſich weg gelehrt hätte, aber niemals ſelbſt es verſucht, niemals ſelbſt gehandelt, indem er es ausſagte, ſo wäre Hiob ein anderer, ſeine Bedeutung eine andere. Es würde Hiobs Name vergeſſen ſein, oder es würde doch gleichgültig ſein, ob man ihn wüßte, die Hauptſache wäre der Inhalt des Wortes, die Gedankenfülle, die in ihm läge. Wenn das Ge⸗

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ſchlecht das Wort angenommen hätte, jo wäre es dieſes, was das eine Geſchlecht dem andern übergäbe; während es jetzt da⸗ gegen Hiob ſelbſt iſt, der das Geſchlecht begleitet. Wenn das eine Geſchlecht ausgedient, ſein Werk vollbracht, ſeinen Streit ausgekämpft hat, ſo hat Hiob es begleitet; wenn das neue Ge⸗ ſchlecht mit ſeinen unüber ſchaubaren Reihen und jeder Einzelne in dieſen auf ſeinem Platze fertig ſteht, um die Wanderung zu beginnen, ſo iſt Hiob wieder zur Stelle, nimmt ſeinen Platz ein, welcher ein Außenpoſten der Menſchheit iſt. Sieht das Ge⸗ ſchlecht nur frohe Tage in glücklichen Zeiten, fo folgt Hiob ge⸗ treu mit, und wenn der Einzelne doch im Gedanken das Furcht⸗ bare erlebt, geängſtigt wird durch die Vorſtellung, was das Leben an Entſetzen und Not bergen kann, daß niemand weiß, wann die Stunde der Verzweiflung für ihn ſchlägt, ſo ſucht ſein bekümmerter Gedanke hin zu Hiob, ruht in ihm, beruhigt ſich durch ihn; denn er folgt getreulich mit und tröſtet wohl nicht ſo, als hätte er ein für allemal gelitten, was nie wieder erlitten werden ſollte, aber tröſtet wie der, der zeugt, daß das Furchtbare erlitten worden iſt, daß der Schrecken erlebt worden iſt, daß der Kampf der Verzweiflung gekämpft worden iſt, Gott zur Ehre, ihm zur Rettung, andern zu Nutz und Freude. In frohen Tagen, in glücklichen Zeiten geht Hiob an der Seite des Geſchlechts und ſichert ihm ſeine Freude, bekämpft den angſt⸗ vollen Traum, daß ein plötzlicher Schrecken einen Menſchen überfallen ſollte und Macht haben, ſeine Seele zu morden als ſeine gewiſſe Beute. Nur der Leichtſinnige könnte wünſchen,

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daß Hiob nicht mit wäre, daß ſein ehrwürdiger Name ihn nicht daran erinnern ſollte, was er zu vergeſſen ſucht: daß es Schrecken gibt im Leben und Angſt; nur der Selbſtſüchtige könnte wünſchen, daß Hiob nicht da wäre, damit die Vor⸗ ſtellung von ſeinem Leiden mit ihrem ſtrengen Ernſt ſeine ge⸗ brechliche Freude nicht ſtören ſollte, ihn aufſchrecken aus ſeiner in Verhärtung und Verlorenheit berauſchten Sicherheit. In ſturmvollen Zeiten, wenn der Grund des Daſeins wankt, wenn der Augenblick bebt in angſtvoller Erwartung deſſen, was kommen ſoll, wenn jede Erklärung verſtummt beim Anblick des wilden Aufruhrs, wenn das Innerſte des Menſchen ſich windet in Verzweiflung und in der Seele Bitterkeit zum Himmel ſchreit, ſo geht Hiob noch zur Seite des Geſchlechts und bürgt dafür, daß ein Sieg iſt, bürgt dafür, daß, wenn auch der Ein⸗ zelne im Streite verliert, doch ein Gott iſt, der, wie Er jede Verſuchung menſchlich macht, ſelbſt wenn ein Menſch in der Verſuchung nicht beſtände, doch ihren Ausgang ſo machen wird, daß wir ihn ertragen können, ja, herrlicher als irgendeine menſchliche Erwartung. Nur der Trotzige könnte wünſchen, daß Hiob nicht da wäre, damit er ſeine Seele ganz von der letzten Liebe freimachen könnte, die doch noch im Klageſchrei der Ver⸗ | zweiflung zurückblieb, damit er klagen, ja, das Leben fo ver- fluchen könnte, daß nicht einmal ein Mitlaut von Glauben und Zuverſicht und Demut in ſeiner Rede wäre, damit er in ſeinem Trotz den Schrei erſticken könnte, daß es nicht einmal ſcheinen ſollte, als wäre da einer, den er herausforderte. Nur der Weich⸗

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ling könnte wünſchen, daß Hiob nicht da wäre; damit er je eher je lieber jeden Gedanken fahren laſſen, jede Bewegung in der widerwärtigſten Ohnmacht aufgeben, ſich ſelbſt in der elendeſten und erbärmlichſten Vergeſſenheit auslöſchen könnte.

Das Wort, das, wenn es genannt wird, ſofort an Hiob er⸗ innert, das Wort, das, wenn Hiobs Name genannt wird, ſofort lebendig und in jedermanns Gedanken gegenwärtig wird, iſt ein einfältiges und ſimples Wort, verdeckt keine heimliche Weis⸗ heit in ſich, die von den Tiefſinnigen erforſcht werden müßte. Wenn das Kind dieſes Wort lernt, wenn es ihm anvertraut wird als eine Mitgift, von der es nicht faßt, wozu es ſie ge⸗ brauchen ſoll, ſo verſteht es das Wort, verſteht weſentlich das⸗ ſelbe dabei wie der Weiſeſte. Jedoch verſteht das Kind es nicht, oder beſſer: es verſteht Hiob nicht, denn was es nicht faßt, iſt all die Not und das Elend, in dem Hiob geprüft wurde. Davon kann das Kind nur eine dunkle Ahnung haben; und doch, wohl dem Kind, welches das Wort verſtand, und den Ein⸗ druck bekam von dem, was es nicht faßte, daß es das Furcht⸗ barſte von allem ſei, und, ehe Sorge und Widerwärtigkeit ſeinen Gedanken verſchlagen machen konnten, die überzeugende und kindlich lebendige Entſcheidung beſaß, daß es in Wahrheit das Furchtbarſte ſei. Wenn der Jüngling ſeinen Gedanken dieſem Worte zuwendet, ſo verſteht er es, und verſteht weſentlich das⸗ ſelbe dabei, wie das Kind und wie der Weiſeſte. Jedoch verſteht er es vielleicht nicht, oder beſſer: er verſteht nicht Hiob, woher all die Not und das Elend kommen ſollte, worin Hiob ge⸗

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prüft ward; und doch, wohl dem Jüngling, der das Wort ver⸗ ſtand, und demütig unter das ſich beugte, was er nicht ver⸗ ſtand, ehe Trübſal ſeinen Gedanken eigenſinnig machte, als ent⸗ deckte er, was keiner zuvor gekannt hätte. Wenn der Altere das Wort überlegt, ſo verſteht er es und verſteht weſentlich dasſelbe dabei, wie das Kind und wie der Weiſeſte. Er verſteht auch die Not und den Kummer, in welchem Hiob geprüft ward, und doch verſteht er vielleicht nicht Hiob, denn er kann nicht verſtehen, wie Hiob imſtande war, es zu ſagen; und doch, wohl dem Manne, der das Wort verſtand und bewundernd feſthielt, was er nicht verſtand, ehe Kummer und Not ihn mißtrauiſch machten, auch gegen Hiob. Wenn der Geprüfte, der den guten Streit ſtritt, indem er des Wortes gedachte, es nennt, ſo ver⸗ ſteht er das Wort und verſteht weſentlich das ſelbe dabei, wie das Kind und wie der Weiſeſte, er verſteht Hiobs Elend, er verſteht, wie Hiob es ſagen konnte. Er verſteht das Wort, er erklärt es, wenn er auch nie darüber redete, herrlicher als der, der ein ganzes Leben brauchte, um dieſes Wort allein zu erklären.

Nur der Verſuchte, der das Wort prüfte, indem er ſelbſt geprüft ward, nur er erklärt das Wort richtig, nur einen ſolchen Schüler, nur einen ſolchen Erklärer wünſcht Hiob, nur er lernt von ihm, was zu lernen iſt, das Schönſte und das Seligſte, im Verhältnis zu dem alle andere Kunſt oder Weisheit ſehr un⸗ weſentlich iſt. Darum nennen wir Hiob recht eigentlich einen Lehrer der Menſchheit, nicht einzelner Menſchen, weil er vor

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jeden ſich ſtellt als ein Vorbild, jedem mit feinem herrlichen Beiſpiel winkt, jeden in ſeinen ſchönen Worten anruft. Wäh⸗ rend wohl zuweilen der Einfältigere, der weniger Begabte, oder der von Zeit und Umſtänden minder Begünſtigte, wenn nicht in Neid, ſo doch in bekümmertem Mißmut Gabe und Gelegen⸗ heit ſich wünſchte, um faſſen und ſich darein vertiefen zu können, was die Weiſen und Gelehrten zu verſchiedenen Zeiten ergründet haben, eine Begierde in ſeiner Seele fühlte, ſelbſt auch andere belehren zu können und nicht immer bloß ſelbſt die Belehrung entgegenzunehmen, ſo verſucht Hiob ihn nicht alſo. Was ſollte auch die menſchliche Weisheit hier helfen; ſollte ſie vielleicht ſuchen, das verſtändlicher zu machen, was der Einfältigſte und das Kind leicht verſtanden und ebenſogut verſtanden wie der Weiſeſte? Was ſollte die Kunſt der Beredſamkeit und die Macht des Wortes hier helfen; ſollten ſie imſtande ſein, in dem Reden⸗ den oder in irgendeinem andern Menſchen hervorzubringen, was der Einfältigſte ebenſogut vermag wie der Weiſeſte die Tat! Sollte nicht eher die menſchliche Weisheit alles ſchwieriger machen, ſollte die Kunſt der Überredung, die doch in all ihrer Herrlichkeit niemals auf einmal das Verſchiedene auszuſagen vermag, das auf einmal in eines Menſchen Herzen wohnt, nicht eher die Kraft der Handlung betäuben und ſie einſchlummern laſſen in weitläufiger Überlegung! Aber ob dieſes nun auch feſtſteht und als Folge davon der Einzelne es zu vermeiden ſtrebt, mit ſeiner Rede ſtörend zwiſchen den Streitenden und das ſchöne Vorbild einzudringen, das jedem Menſchen gleich

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nahe iſt, daß er nicht, indem er ihm die Weisheit mehrt, auch den Gram mehre, und darauf achtet, daß er nicht ſich ſelbſt in prächtigen Worten menſchlicher Überredung fange, welche un⸗ fruchtbar find, fo folgt daraus doch keineswegs, daß die Über- legung und die Entwicklung nicht ihre Bedeutung haben ſollten. Wenn der Überlegende das Wort vorher nicht kennte, ſo wäre es ihm ja allzeit von Nutzen, daß er es kennen lernte; wenn er das Wort wohl kennte, aber in ſeinem Leben keinen Anlaß ge⸗ habt hätte, es zu prüfen, ſo wäre es ihm ja von Nutzen, wenn er verſtehen lernte, was er einmal vielleicht brauchen ſollte; wenn er das Wort geprüft, aber es betrogen hätte, wenn er auch meinte, daß es das Wort war, das ihn betrogen hatte, ſo wäre es ja von Nutzen, wenn er es noch einmal überlegte, ehe er in der Unruhe des Streites und in der Eile des Kampfes wieder die Flucht von dem Worte weg ergriff. Vielleicht könnte die Überlegung einmal ihre Bedeutung für ihn bekommen, es könnte vielleicht geſchehen, daß die Überlegung lebendig und gegenwärtig in ſeiner Seele bliebe, gerade wenn er ſie brauchte, um die verwirrten Gedanken des unruhigen Herzens zu durch⸗ dringen, es könnte vielleicht geſchehen, daß, was die Über⸗ legung ſtückweiſe verſtand, ſich ſammelte, auf einmal wieder⸗ geboren im Augenblick der Entſcheidung; daß, was die Über⸗ legung in Vergänglichkeit ſäte, auferſtand am Tage der Not im unvergänglichen Leben der Tat.

Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's ge⸗ nommen, der Name des Herrn fei gelobt!

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In einem Lande gegen Morgen wohnte ein Mann, ſein Name war Hiob, er beſaß geſegnete Länder, zahlloſe Herden und fruchtbare Felder, „ſeine Rede hat die Gefallenen aufge⸗ richtet, und die bebenden Knie hat er gekräftigt“, in ſeinem Zelt war ſelig zu wohnen wie in des Himmels Schoß, und in dieſem Zelt wohnte er mit ſieben Söhnen und drei Töchtern, und bei ihm in dieſem Zelt wohnte „Gottes Geheimnis“. Und Hiob war ein alter Mann ; feine Freude im Leben war die Freude der Kinder, über die er wachte, daß ſie ihnen nicht zum Ver⸗ derben gereichen ſollte. Als er eines Tages allein an ſeinem Herde ſaß, während ſeine Kinder zum Feſt in des erſtgeborenen Bruders Hauſe verſammelt waren, als er Brandopfer geopfert hatte für jedes beſonders, da beſchickte er auch ſein Herz zur Freude im Gedanken an die der Kinder. Wie er daſaß in der Freude ſtiller Sicherheit, da kam ein Bote, und ehe der aus⸗ geredet hatte, kam ein anderer Bote, und während dieſer noch redete, kam der dritte Bote, aber der vierte kam von ſeinen Söhnen und Töchtern, daß das Haus eingeſtürzt ſei und ſie alle begraben habe. „Da ſtand Hiob auf und zerriß ſein Kleid, und raufte ſein Haupt, und fiel auf die Erde und betete an.“ Sein Leid brauchte nicht viele Worte, ja, er ſagte auch nicht ein einziges, nur ſeine Geſtalt zeugte, daß ſein Herz gebrochen ſei. Könnte man es anders wünſchen, oder hatte der, der ſeine Ehre dareinſetzt, nicht trauern zu können am Tage des Leides, nicht ſeine Scham darin gehabt, auch nicht ſich freuen zu können am Tage der Freude? Oder iſt der Anblick einer ſolchen Unveränder⸗

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lichkeit nicht unerfreulich und unerquicklich, ja empörend, wenn es auch erſchütternd iſt, den ehrwürdigen Greis, der eben noch in der Freude des Herrn mit ſeinem väterlichen Antlitz ſaß, nun hingeworfen auf der Erde mit zerriſſenem Kleid und zer⸗ rauftem Haupte zu ſehen! Als er nun ſo ohne Verzweiflung mit menſchlichem Gefühl dem Leide ſich hingegeben hatte, war er hurtig zu richten zwiſchen Gott und ſich, und die Worte ſeines Urteils ſind dieſe: „Ich bin nacket von meiner Mutter Leibe kommen, nacket werde ich wieder dahinfahren.“ Hiermit war der Streit entſchieden, und jede Forderung, die vom Herrn etwas verlangen wollte, was er nicht geben will, oder etwas zu behalten begehrt, als wäre es nicht gegeben, war in ſeiner Seele zum Schweigen gebracht. Dann folgt das Bekenntnis dieſes Mannes, den nicht das Leid allein zur Erde geworfen hatte, ſondern auch die Anbetung: „Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, der Name des Herrn ſei ge- lobt!“

Was hier zuerſt die Überlegung anhält, iſt, daß Hiob ſagte: „Der Herr hat's gegeben.“ Hat dieſes Wort mit dem Anlaß ſelbſt denn etwas zu tun; enthält es nicht etwas anderes, als was in der Begebenheit ſelbſt lag? Wenn ein Mann in einem Augenblick alles verlöre, was ihm teuer war, und das Teuerſte von allem verlöre, ſo wird der Verluſt vielleicht ihn ſo über⸗ wältigen, daß er nicht einmal damit ſich tröſtet, ihn auszuſagen, ob er auch in ſeinem Innerſten mit Gott ſich bewußt bleibt, daß er alles verloren hat. Oder er wird den Verluſt mit ſeinem

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zermalmenden Gewicht auf ſeiner Seele nicht ruhen laſſen, ſon⸗ dern er wird ihn gleichſam von ſich wälzen und in des Herzens Bewegung ſagen: „Der Herr hat's genommen“. Und auch dies iſt wohl des Preiſes und der Nachahmung wert, ſo dem Herrn in Schweigen und Demut zu Füßen zu fallen, auch ein Solcher rettete ſeine Seele im Streit, wenn er auch alle Freude verlor. Aber Hiob! In dem Augenblick, wo der Herr alles nahm, ſagt er nicht zuerſt: „Der Herr hat's genommen“, ſondern er ſagte zuerſt: „Der Herr hat's gegeben“. Das Wort iſt kurz, aber bezeichnet vollſtändig in ſeiner Kürze, was es bezeichnen ſoll, daß Hiobs Seele nicht zermalmt ward in der ſtummen Unter⸗ werfung des Leides, ſondern daß ſein Herz zuerſt ſich ausweitete in Dankbarkeit, daß der Verluſt des Ganzen zuerſt ihn dank⸗ bar machte gegen den Herrn, daß Er ihm all den Segen ge⸗ geben hatte, den Er nun von ihm nahm. Es ging ihm nicht, wie Joſeph vorausſagt, daß in den ſieben teueren Jahren all die Fülle, die in den ſieben fruchtbaren war, wird ganz ver⸗ geſſen werden. Seine Dankbarkeit war wohl eine andere, als in jener nun ſchon gleichſam längſt entſchwundenen Zeit, da er alle gute und alle vollkommene Gabe aus Gottes Hand mit Dankbarkeit annahm; aber doch war ſeine Dankbarkeit auf⸗ richtig, wie ſeine Vorſtellung von Gottes Güte es war, die nun in ſeiner Seele lebendig ward. Nun erinnerte er ſich an alles, was der Herr gegeben hatte, an einzelnes vielleicht ſogar mit größerer Dankbarkeit, als da er es empfing; es war nicht weniger ſchön geworden, weil es weggenommen war, auch nicht

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ſchöner, ſondern noch ſchön wie einſt, ſchön, weil der Herr es gegeben, und was ihm nun ſchöner ſcheinen konnte, war nicht die Gabe, ſondern Gottes Güte. Er gedachte des reichen Wohl⸗ ſtandes, ſein Auge ruhte noch einmal auf den fruchtbaren Fel⸗ dern, und folgte den zahlloſen Herden, er erinnerte ſich, welche Freude es iſt, ſieben Söhne und drei Töchter zu haben, nun brauchte es kein Opfer außer das der Dankbarkeit dafür, daß er ſie gehabt hatte. Er gedachte derer, die ſeiner vielleicht noch mit Dankbarkeit ſich erinnerten, der Vielen, die er unterwieſen hatte, deren laſſe Hände er geſtärket, deren bebende Knie er gekräftiget hatte. Er gedachte der Tage ſeiner Herrlichkeit, da er mächtig und angeſehen im Volke war, da die Jungen ſich ver ſteckten aus Ehrfurcht vor ihm, da die Alten vor ihm auf⸗ ſtanden und ſtehenblieben. Er erinnerte ſich mit Dankbarkeit, daß ſein Schritt nicht ſchwankte auf dem Wege der Gerechtig⸗ keit, daß er den Armen gerettet hatte, der klagte, und die Vater⸗ loſen, die keine Hilfe hatten, und noch in dieſem Augenblick war deshalb „des Verlaſſenen Segen über ihm“, wie vor⸗ dem. Der Herr hat's gegeben, iſt ein kurzes Wort, doch für Hiob bezeichnete es ſo viel; denn Hiobs Gedächtnis war nicht ſo kurz, und ſeine Dankbarkeit nicht vergeßlich. Da ruhte die Dankbarkeit in ſeiner Seele mit ihrer ſtillen Wehmut; er nahm einen milden und freundlichen Abſchied von allem zuſammen, und in dieſem Abſchied verſchwand das alles wie eine ſchöne Erinnerung, ja es ſchien, als wäre es nicht der Herr, der es nahm, ſondern Hiob, der es Ihm zurückgab. Indem deshalb

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Hiob geſagt hatte, der Herr hat's gegeben, war ſein Sinn wohl vorbereitet, Gott auch mit dem nächſten Wort zu ge⸗ fallen: „Der Herr hat's genommen“.

Vielleicht war da der, welcher am Tage des Leides auch ſich erinnerte, daß er frohe Tage geſehen hatte; da ward ſeine Seele noch ungeduldiger. „Hätte er nie die Freude gekannt, würde der Schmerz ihn nie überwältigt haben, denn was iſt doch Schmerz anderes als eine Vorſtellung, die der nicht hat, der nichts anderes kennt, aber nun hatte die Freude gerade ihn gebildet und entwickelt, den Schmerz zu fühlen.“ Da blieb zu ſeinem eigenen Verderben die Freude bei ihm; ſie war niemals verloren, ſondern nur vermißt, und verſuchte ihn im Mangel mehr als je. Was ſeiner Augen Luſt geweſen war, das begehrte das Auge wieder, und die Undankbarkeit in ihm ſtrafte, indem ſie es ſchöner vorgaukelte, als es je geweſen war; woran ſeine Seele ſich erfreut hatte, danach dürſtete er nun, und die Un⸗ dankbarkeit ſtrafte, indem ſie es ihm köſtlicher ausmalte, als es je geweſen war; was er einmal vermocht hatte, das wollte er nun wieder vermögen, und die Undankbarkeit ſtrafte mit Traumbildern, die niemals Wahrheit gehabt hatten. Da ver⸗ dammte er ſeine Seele, lebendig ſich auszuhungern in des Mangels nie geſättigtem Sehnen. Oder es erwachte eine verzehrende Leidenſchaft in ſeiner Seele, daß er nicht einmal die frohen Tage auf die rechte Weiſe genoſſen, noch alle Süße aus ihrer wollüſtigen Fülle geſaugt hätte. Wenn ihm nur eine kleine Stunde noch vergönnt würde, wenn er feine Herrlich⸗

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keit bloß eine kurze Zeit wieder zurückbekäme, daß er an der Freude ſich ſättigen und dadurch Gleichgültigkeit gegen den Schmerz gewinnen könnte. So gab er ſeine Seele einer brennen⸗ den Unruhe hin, er wollte nicht ſich ſelbſt geſtehen, ob der Ge⸗ nuß, den er begehrte, eines Menſchen würdig wäre, ob er nicht eher Gott dafür danken müßte, daß ſeine Seele nicht ſo wild war in der Zeit der Freude, wie ſie jetzt es geworden war; er wollte nicht erſchrecken bei dem Gedanken, daß ſeine Begierde Gelegenheit zur Verlorenheit war; er wollte nicht darüber ſich bekümmern, daß elender als all ſein Elend der Wurm der Be⸗ gierde in ſeiner Seele war, der nicht ſterben wollte. Viel⸗ leicht war da der, welcher im Augenblick des Verluſtes auch ſich erinnerte, was er beſeſſen hatte, aber ſich vermaß, den Ver⸗ luſt verhindern zu wollen, indem er ihn ſich verſtändlich machte. War es auch verloren, ſein trotziger Wille ſollte doch vermögen, es bei ſich zu behalten, als wäre es nicht verloren. Er wollte nicht ſtreben, den Verluſt zu tragen, ſondern er wählte, ſeine Kraft in einem ohnmächtigen Trotz zu verſpielen, ſich ſelbſt zu verlieren in einem wahnwitzigen Beſitz des Verlorenen. Oder er entfloh im ſelben Augenblick feige jeder demütigen Be⸗ ſtrebung, im Verſtändnis mit dem Verluſt zu bleiben. So öffnete die Vergeſſenheit ihren Abgrund nicht ſo ſehr für den Verluſt, als für ihn, und er entging nicht ſo ſehr dem Verluſt in der Vergeſſenheit, als er ſelbſt ſich wegwarf. Oder er ſuchte lügneriſch, das Gute zu betrügen, das ihm einmal geſchenkt worden war, als wäre es niemals ſchön geweſen, hätte ihn

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niemals erfreut, er meinte ſeine Seele zu ſtärken durch elenden Selbſtbetrug, als wäre da Kraft in der Unwahrheit. Oder ſeine Seele ward ganz gedankenlos, und er überzeugte ſich, daß ſein Leben nicht ſo ſchwer ſei, wie er es ſich einbildete, daß ſein Schrecken nicht ſei, wie er beſchrieben wird, nicht ſo ſchwer zu tragen ſei, wenn man, wohl zu merken, wie er es tat, es nicht ſo ſchrecklich fand, ſo zu werden. Ja, wer könnte fertig werden, wenn er davon reden wollte, was oft genug geſchehen iſt, und wohl oft genug in der Welt ſich wiederholen wird; würde nicht weit eher er müde werden, als die Leidenſchaft, mit neuer und neuer Erfindſamkeit das Erklärte und das Ver⸗ ſtandene zu neuer Täuſchung zu verwandeln, in der ſie ſich ſelbſt betrog! Laſſet uns deshalb lieber zu Hiob zurückkehren! Am Tage des Leides, als alles verloren war, dankte er zuerſt Gott, der es gab, betrog weder Gott noch ſich ſelber, und während alles erſchüttert und umgeſtürzt war, blieb er dennoch, was er von Anfang geweſen war, „ſchlecht und recht, gottes fürchtig“. Er bekannte, daß des Herrn Segen gnädig zu ihm geweſen war, er dankte dafür, darum blieb er nun nicht bei ihm zurück wie eine nagende Erinnerung. Er bekannte, daß der Herr ſein Tun reich und über alle Maßen geſegnet hatte, er dankte, darum blieb die Erinnerung nicht wie eine verzehrende Unruhe zurück. Er verbarg nicht vor ſich ſelbſt, daß alles von ihm genommen war, darum blieb der Herr, der es nahm, zurück in ſeiner aufrichtigen Seele. Er floh nicht den Gedanken, daß es verloren war, darum blieb ſeine Seele ſtille, bis des Herrn Erklärung ihn wieder

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beſuchte, und ſeinen Sinn wie das gute Erdreich in Geduld wohl beſtellt fand.

„Der Herr hat's genommen.“ Sagte hier Hiob nicht etwas anderes, als was Wahrheit war, brauchte er nicht einen entfernteren Ausdruck für etwas, das mit einem näheren zu be⸗ zeichnen war? Das Wort iſt kurz und bezeichnet den Verluſt des Ganzen, es fällt uns natürlich, jetzt es ihm nachzuſagen, da die Ausſage ſelbſt ja ein heiliges Sprichwort geworden iſt; aber fällt es uns deshalb allzeit ebenſo natürlich, Hiobs Gedanken damit zu verbinden? Oder waren es nicht die aus Saba, die ſeine friedlichen Herden überfielen und ſeine Knechte nieder⸗ hieben; redete der Bote, der die Nachricht brachte, von etwas anderem? Oder war es nicht der Blitz, der die Schafe ver⸗ zehrte und ihre Hirten, redete der Bote, der die Nachricht brachte, von etwas anderem, wenn er ihn auch das Feuer Gottes nannte? War es nicht ein großer Wind von der Wüſte her, der das Haus umſtieß und ſeine Kinder begrub, nannte der Bote einen andern Täter, oder nannte er einen, der den Sturm ausgeſandt hätte? Dennoch ſagte Hiob: „Der Herr hat's ge⸗ nommen“, und im ſelben Augenblick, wo er die Botſchaft emp⸗ fing, verſtand er, daß der Herr es war, der alles genommen hatte. Wer klärte Hiob hierüber auf, oder war dies ein Zeichen ſeiner Gottesfurcht, daß er ſo alles auf den Herrn wälzte, oder wer berechtigte ihn, es zu tun, und ſind wir nicht frommer, wir, die wir uns zuweilen lange bedenken, ſo zu reden?

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Da war vielleicht der in der Welt, welcher alles verlor. Und er ſetzte ſich hin, zu überlegen, wie es doch zugegangen ſei. Aber das Ganze blieb ihm unerklärlich und dunkel. Seine Freude ver⸗ ſchwand, als wäre ſie ein Traum, und die Bekümmerung blieb bei ihm wie ein Traum, aber wie er aus der Herrlichkeit jener in das Elend dieſer geworfen worden war, das bekam er niemals zu wiſſen; es war nicht der Herr, der es genommen hatte, es war ein Zufall. Oder er überzeugte ſich, daß es der Menſchen Trug und Hinterliſt war, oder ihre offenbare Gewalt, die es ihm entriſſen hatte, wie die aus Saba Hiobs Herden und ihre Wächter niedergehauen hatten. Da empörte ſich ſeine Seele gegen die Menſchen, er meinte, Gott Recht wider fahren zu laſſen, indem er es Ihm nicht vorwarf. Er verſtand ganz wohl, wie es geſchehen war, und die nähere Erklärung, die er beſaß, war, daß dieſe Menſchen es getan hatten, und die ent⸗ ferntere Erklärung war, daß die Menſchen böſe und ihre Herzen verderbt ſeien. Er verſtand, daß die Menſchen ſeine Mächſten ſind, um ihm zu ſchaden, vielleicht hätte er es auf eine ähnliche Weiſe verſtanden, wenn ſie ihm genützt hätten; aber daß der Herr, der fern im Himmel wohnt, ihm näher ſein ſollte als der Menſch, der ihm am nächſten war, ob dieſer Menſch ihm nun Gutes oder Böſes tat, von dieſer Vorſtellung war ſein Gedanke weit entfernt. Oder er verſtand ganz wohl, wie es zugegangen war, und wußte es mit der Beredſamkeit des Ent⸗ ſetzens zu beſchreiben. Denn wie ſollte er nicht verſtehen, daß, wenn das Meer in feiner Wildheit raſt, wenn es aufſteht gegen

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den Himmel, die Menſchen und ihre ſchwachen Hütten hinge⸗ worfen werden wie in einem Spiel, daß, wenn der Sturm in ſeinem Raſen vorwärts ſtürzt, menſchliche Arbeit nur ein Kinderſpiel iſt, daß, wenn die Erde wankt in der Elemente Angſt, und wenn die Berge ſeufzen, die Menſchen und ihre herrlichen Werke wie ein Nichts im Abgrund verſinken. Und dieſe Erklärung genügte ihm, vor allem dazu, ſeine Seele gleichgültig gegen alles zu machen; denn wahr iſt es, daß, was auf Sand gebaut iſt, umzuſtürzen nicht einmal ein Sturm nötig iſt, aber war es deshalb auch wahr, daß ein Menſch nicht anderswo bauen und wohnen und ſeine Seele retten kann! Oder er verſtand, daß er ſelbſt es verſchuldet hatte, daß er nicht klug geweſen war; hätte er zur Zeit richtig gerechnet, wäre es nicht geſchehen. Und dieſe Erklärung erklärte alles, nachdem ſie zuerſt erklärt hatte, daß er ſich ſelbſt verpfuſcht und es ſich unmöglich gemacht hatte, etwas vom Leben zu lernen, und namentlich unmöglich, etwas von Gott zu lernen.

Doch wer könnte fertig werden, wenn er erzählen wollte, was geſchehen iſt, und was wohl oft genug im Leben ſich wieder⸗ holen wird? Würde er nicht eher müde werden, zu reden, als der ſinnliche Menſch, ſich ſelbſt zu betören in ſcheinbaren und täuſchenden und betrügeriſchen Erklärungen? Laſſet uns deshalb uns abkehren von dem, wo nichts zu lernen iſt, außer ſoweit wir nicht im voraus ſchon wußten, daß wir dieſer Welt Unter⸗ richt verſchmähen müßten, und zurückkehren zu ihm, von dem die Wahrheit zu lernen iſt, zu Hiob, und zu ſeinem frommen

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Wort: „Der Herr hat's genommen“. Hiob führte alles zu Gott hin; er hielt ſeine Seele nicht auf und löſchte den Geiſt nicht aus mit Überlegungen und Erklärungen, die doch nur Zweifel gebären und nähren, wenn auch der, welcher in ihnen ruht, es nicht merkt. Im ſelben Augenblick, wo es von ihm genommen war, wußte er, daß es der Herr war, der es genommen hatte, und darum blieb er im Verluſt im Verſtändnis mit dem Herrn, bewahrte im Verluſt die Vertraulichkeit des Herrn; er ſah den | Herrn und darum ſah er nicht die Verzweiflung. Oder ſieht der allein Gottes Hand, der ſieht, daß Er gibt, und nicht auch der, der ſieht, daß Er nimmt? Oder ſieht der allein Gott, der Ihn Sein Antlitz zu ſich wenden ſieht, und ſieht der nicht auch Gott, der Ihn ſich den Rücken kehren ſieht, wie Moſes be⸗ ſtändig ja nur des Herrn Rücken ſah? Aber der, welcher Gott ſieht, hat die Welt überwunden, und darum hat Hiob in ſeinem frommen Wort die Welt überwunden, war in ſeinem frommen Wort größer und ſtärker und mächtiger als die ganze Welt, die hier wohl ihn nicht in Verſuchung führen wollte, ſondern ihn überwinden mit ihrer Macht, ihn dazu bringen, niederzuſinken vor ihrer grenzenloſen Gewalt. Wie ſind doch des Sturmes wilde Boten ſo ſchwach, ja faſt kindiſch, wenn ſie einen Men⸗ ſchen zwingen wollen, vor ihnen zu zittern, indem ſie ihm alles entreißen, aber er antwortet ihnen: „Du biſt es nicht, der es tut, es iſt der Herr, der nimmt!“ Wie iſt der Arm des Gewalttätigen ſo ohnmächtig, des Schlauen Klugheit ſo erbärmlich, wie iſt alle menſchliche Macht nur faſt ein Gegenſtand des Mitleids,

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wenn fie den Schwachen in verzweifelte Unterwerfung ſtürzen wollen, indem ſie ihm alles entreißen, und er dann glaubend ſagt: „Du biſt es nicht, du vermagſt nichts, es iſt der Herr, der es nimmt.“

„Des Herrn Name ſei gelobt!“ Alſo überwand Hiob nicht bloß die Welt, ſondern er tat, was Paulus ſeiner kämp⸗ fenden Gemeinde wünſcht, er ſtand feſt, nachdem er alles überwunden hatte. Ach, da war vielleicht der in der Welt, welcher alles überwand, aber in dem Augenblick fiel, wo er ge⸗ ſiegt hatte. „Des Herrn Name ſei gelobt!“ Alſo blieb der Herr derſelbe, und ſollte Er ſo nicht geprieſen werden, wie allzeit? Oder hatte der Herr wirklich ſich verändert? Oder blieb der Herr nicht in Wahrheit derſelbe, wie Hiob es blieb? Des Herrn Name ſei gelobt! Alſo nahm der Herr nicht alles, denn die Lob⸗ preiſung nahm Er nicht von ihm, und den Frieden im Herzen, den Freimut im Glauben, von dem er ausging, nahm Er ihm nicht weg, ſondern des Herrn Vertraulichkeit war noch bei ihm wie vordem, vielleicht innerlicher als vordem; denn nun gab es ja nichts, das auf irgendeine Weiſe ſeinen Gedanken von ihm wegziehen konnte. Der Herr nahm es alles, da ſammelte Hiob gleichſam alle ſeine Sorge und „warf ſie auf den Herrn“, und da nahm Er auch die von ihm, und nur die Lobpreiſung blieb zurück, und in ihr des Herzens unvergängliche Freude. Denn wohl iſt Hiobs Haus ein Sorgenhaus, wenn je ein Haus das war, aber wo dieſes Wort ertönt: „Des Herrn Name ſei ge⸗

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lobt“, hat doch die Freude auch ihr Heim; und wohl ſteht Hiob vor uns mit des Leides ausdrücklichem Bild in ſeinem Antlitz und in ſeiner Geſtalt, aber der, welcher dieſes Wort ſagt, gibt doch auch der Freude Zeugnis, wie Hiob es tut, wenn ſein Zeug⸗ nis auch nicht an den Frohen ſich wendet, ſondern an den Be⸗ kümmerten, und redet noch verſtändlich zu den Vielen, die Ohren haben zu hören. Denn das Ohr des Bekümmerten iſt auf eigene Weiſe gebildet, und wie das Ohr des Liebenden wohl viele Stimmen hört, aber eigentlich doch nur eine, die nämlich, die geliebt iſt, ſo hört wohl auch das Ohr des Bekümmerten viele Stimmen, aber ſie fahren vorbei und dringen nicht ein in ſein Herz. Wie Glaube und Hoffnung ohne Liebe doch nur ein tönend Erz und eine klingende Schelle ſind, ſo iſt alle die Freude, die in der Welt verkündigt wird, in welcher das Leid nicht mitgehört wird, nur tönend Erz und klingende Schelle, die das Ohr kitzelt, der Seele aber eine Widerwärtigkeit iſt. Aber dieſe Stimme des Troſtes, dieſe Stimme, die in Schmerz bebt und doch Freude verkündet, ſie hört das Ohr des Be⸗ kümmerten, ſie birgt ſein Herz, ſie ſtärkt und leitet ihn, die Freude ſelbſt in der Tiefe des Leides zu finden.

Wir haben von Hiob geredet und ihn zu verſtehen geſucht in ſeinem frommen Wort, ohne daß deshalb die Rede einem ſich aufdrängen wollte; aber ſollte ſie deshalb ganz ohne Be⸗ deutung oder ohne Anwendung ſein, und niemanden etwas an⸗ gehen? Wenn du ſelbſt verſucht würdeſt wie Hiob und wie er

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die Prüfung beſtändeſt, ſo paßte ſie ja gerade auf dich, wenn anders wir richtig von Hiob geredet haben. Wenn du bis jetzt im Leben nicht verſucht worden warſt, ſo paßt ſie ja für dich. Denkſt du vielleicht, daß dieſes Wort nur bei einer ſolchen außerordentlichen Begebenheit wie der, in die Hiob geſtellt war, Anwendung findet, iſt es vielleicht deine Erwartung, daß, wenn eine ſolche dich träfe, der Schrecken ſelbſt dir dieſe Stärke geben, in dir dieſen demütigen Mut entwickeln würde? Hatte nicht Hiob ein Weib, und was leſen wir von ihr? Vielleicht meinſt du, daß der Schrecken ſelbſt nicht dieſe Macht über einen Men⸗ ſchen erlangen kann, wie die tägliche Knechtſchaft in weit ge⸗ ringeren Widerwärtigkeiten. So ſieh du denn zu, daß du nicht der Knecht einer Drangſal wirſt, ebenſowenig wie der eines Menſchen, und lerne von Hiob vor allem, aufrichtig gegen dich zu ſein, daß du dich nicht betrügſt mit eingebildeter Kraft, mit welcher du eingebildete Siege gewinnſt in eingebildetem Streit. Vielleicht ſagſt du, wenn der Herr es doch von mir genommen hätte, aber mir ward nichts gegeben; vielleicht meinſt du, daß dieſes wohl keineswegs ſo furchtbar iſt, wie Hiobs Leiden, aber daß dieſes Wort zehrender ſei, und alſo doch ein ſchwererer Streit. Wir wollen nicht mit dir ſtreiten; denn ſelbſt wenn dein Streit es wäre, wäre doch der Streit darüber unnütz und eine Steigerung der Schwierigkeit. Aber darin biſt du ja doch einig mit uns, daß du von Hiob lernen kannſt, und wenn du gegen dich ſelbſt redlich biſt und die Menſchen liebſt, kannſt du nicht wünſchen, Hiob fahren zu laſſen, um dich hinauszuwagen in

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bisher ungekannte Not und uns andere in Unruhe zu halten, bis wir aus deinem Zeugnis lernen, daß auch in dieſer Schwie- rigkeit Sieg möglich iſt. So lerne du denn von Hiob, zu ſagen: „Des Herrn Mame ſei gelobt“, das paßt ja für dich, wenn das Vorhergehende auch weniger paßte. Oder meinſt du viel⸗ leicht, daß ſolches dir nicht geſchehen könnte? Biſt du ein Weiſer oder ein Verſtändiger, und dies iſt dein Troſt? Hiob war der Lehrer der Vielen. Biſt du jung, und die Jugend deine Sicher— heit? Hiob war auch jung geweſen. Biſt du alt, dem Grabe nahe? Hiob war ein Greis, als das Leid ihn einholte. Biſt du mächtig, iſt dies der Beweis deiner Befreiung? Hiob war an⸗ geſehen im Volk. Iſt Reichtum deine Sicherheit? Hiob beſaß den Segen der Länder. Sind Freunde deine Bürgen? Hiob war von allen geliebt. Vertröſteſt du dich auf Gott? Hiob war des Herrn Vertrauter. Haſt du dieſe Gedanken wohl überlegt, oder fliehſt du ſie nicht eher, daß ſie dir nicht ein Geſtändnis abzwingen ſollen, das du, jetzt vielleicht, eine ſchwermütige Stimmung nennſt. Und doch iſt da kein Verſteck in der weiten Welt gefunden, wo der Kummer dich nicht finden wird, und doch hat nie dieſer Menſch gelebt, der mehr zu ſagen vermöchte als du vermagſt, daß du nicht weißt, wann das Leid dein Haus beſuchen ſoll. So ſei du ernſt gegen dich ſelbſt, hefte dein Auge auf Hiob; wenn er dich auch erſchreckt, das iſt es ja nicht, was er will, wenn du ſelbſt es nicht willſt. Du könnteſt ja doch nicht wünſchen, wenn du ausſchauſt über dein Leben und dir es abgeſchloſſen denkſt, dieſes Bekenntnis abgeben zu müſſen: „Ich

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war der Glückliche, der nicht war wie andere Menſchen, der nichts erlitten hat in der Welt, der jeden Tag für ſich ſelber ſorgen oder beſſer, nur neue Freuden bringen ließ.“ Ein ſolches Bekenntnis, ſelbſt wenn es wahr wäre, würdeſt du dir doch nie wünſchen, ja, es würde deine eigene Beſchämung enthalten; denn wenn du auch geſchont worden wäreſt, wie kein anderer, du würdeſt doch ſagen: „Wohl ward ich ſelbſt nicht verſucht, aber doch ward mein Sinn oft ernſt beim Gedanken an Hiob und bei der Vorſtellung, daß kein Menſch Zeit noch Stunde weiß,

wo die Botſchaften zu ihm kommen ſollen, die eine furchtbarer als die andere.“

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Vater im Himmel! Wohl wiſſen wir, daß das Suchen allzeit ſeine Verheißung hat, wie alſo nicht Dich zu ſuchen, Du aller Verheißungen und aller guten Gaben Geber! Wohl wiſſen wir, daß der Suchende nicht allzeit hinauszuwandern braucht in die Welt, denn je heiliger das iſt, was er ſucht, um ſo näher iſt es ihm, und wenn er nun Dich ſucht, o Gott, Du biſt ihm ja am allernächſten! Aber wir wiſſen auch, daß das Suchen immer ſeine Mühe hat und ſeine Anfechtung, wie alſo nicht ein Schrecken, Dich zu ſuchen, Du Gewaltiger! Wagt ſogar der, welcher in Gedanken ſich vertröſtet auf ſeine Verwandtſchaft, wagt ſogar der ſich mit dem Gedanken nicht ohne Schrecken in jene Entſcheidungen hinaus, wo er durch Zweifel hindurch Deine Spur ſucht in des Daſeins weiſer Ordnung, wo er durch Verzweiflung hindurch Deine Spur ſucht in der erregten Er⸗ eigniſſe Gehorſam unter Deine Vorſehung; ſucht der, den Du Deinen Freund nannteſt, der vor Deinem Antlitz wandert, ſucht doch auch der nicht ohne Beben der Freundſchaft Begegnung mit Dir, Du einziger Gewaltiger; wagt der Betende, der aus ganzem Herzen liebt, wagt doch auch der ſich nicht ohne Angſt in des Gebetes Streit mit ſeinem Gott; läßt ſelbſt der Ster⸗

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bende, für den Du ja das Leben umtauſcheſt, läßt doch auch der nicht ohne Schaudern vom Zeitlichen, wenn Du rufeſt; flieht ſelbſt der Elende, dem die Welt eitel Leiden bringt, flieht doch auch der nicht ohne Schrecken hin zu Dir, Du, der Du nicht ein wenig nur linderſt, ſondern der Du Alles biſt: wie darf da der Sünder Dich ſuchen, gerechter Gott! Aber deshalb ſucht er Dich auch nicht wie jene, ſondern er ſucht Dich in der Sün⸗ den Bekenntnis.

Und hier iſt der Ort dazu, du weißt es, wo; und hier iſt die Gelegenheit, du weißt, wie; und hier iſt der Augenblick, der da heißt: heute noch. Wie ſtille! Denn im Hauſe Gottes iſt Friede, aber zu innerſt innen im Umfriedeten iſt ein Verſteck. Wer dort hingeht, der ſucht Stille; wer dort ſitzt, der iſt in Stille; und wenn auch geredet wird, die Stille wächſt nur. Wie ſtille! Hier iſt keine Gemeinſchaft, jeder iſt für ſich; hier iſt kein Ruf zu vereintem Tun, hier wird jeder einzeln zu ge⸗ ſonderter Verantwortung gerufen; hier iſt keine Einladung zur Gemeinſchaft, jeder iſt allein. Denn der, welcher beichtet, er iſt einſam, einſam wie ein Sterbender. Ob ſie zahlreich am Lager des Sterbenden ſtehen, die Vielen, die ihm lieb und teuer waren und die ihn lieben, oder ob er da liegt, verlaſſen von der Welt, weil er ſie verließ, oder ſie ihn verließ: der Sterbende iſt einſam, ſie ſtreiten beide einſam, und der Gedanke geht irre, Tauſende halten ihn nicht zurück, nicht Zehntauſende, wenn der Einſame den Troſt nicht kennt. Ob Tauſende auf ihn warteten

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und ſich ſehnten nach ihm, der dadurch, daß er beichtet, Stille ſucht, oder ob er, wenn er hier weggeht, der Geringe iſt und der Elende, auf den keiner wartet, und um den keiner ſich kümmert: dieſer Unterſchied iſt nur Scherz, die Wahrheit iſt, die ernſte Wahrheit war: ſie waren beide einſam. Sie helfen ihm nichts, dem Mächtigen, alle ſeine Freunde und die Herrlichkeit der Welt und die weitausladende Bedeutung ſeiner Geſchäfte, es ſei denn, daß ſie ihm die Stille ſtörten, was der größte Schaden iſt; es ſchadet ihm nichts, dem Elenden, verlaſſen zu ſein, wenn es ihm dazu hilft, die Stille zu finden. Es iſt ſchwer für ein Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, und ſchwer für den Welt⸗ lichen, Stille zu finden, er ſei mächtig oder gering, ſchwer, ſie zu finden im Lärm des Lebens, ſchwer, ſie zu finden, wo ſie iſt, ſo er nur ſelbſt nicht den Lärm mit ſich bringt. Wie ſtill und wie ernſt! Und doch iſt hier keiner, der anklagt, wer dürfte Ankläger ſein hier, wo jeder ſchuldig iſt; und doch iſt hier keiner, der richtet, wer dürfte richten, wo jeder an ſeine Rechenſchaft denkt: keiner, der anklagt außer die Gedanken, keiner, der richtet, außer der, der ins Verborgene ſieht und die geheime Beichte hört. Ja, ſelbſt wenn hier geredet wird, biſt du ja der, der mit ſich ſelber redet durch die Stimme des Redenden. Was der Redende gerade zu dir ſagen ſoll, das weißt nur du; wie du die Rede verſteheſt, weiß er nicht, das weißt nur du; ob es dein beſter Freund war, er weiß es doch nicht ſo, wie du es weißt. Und wenn du nicht ſo hörſt, ſo hörſt du nicht richtig, ſo wird ſeine Rede ein Lärmen, das die Stille

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ſtört, und deine Aufmerkſamkeit eine Zerſtreuung, welche die Stille kränkt. Wer dieſe Stille fürchtet, der entziehe ſich ihr, aber er darf nicht leugnen, daß ſie da iſt, da er ſie ja fürchtet. Wer da ſagt, er habe ſie geſucht, aber nicht gefunden, der iſt ein mißgünſtiger Betrüger, der andere ſtören will, denn ſonſt ſchwiege er oder trauerte oder ſagte: „Ich ſuchte ſie nicht richtig, darum fand ich ſie nicht.“ Denn nichts, nichts in der ganzen Welt, nicht, wenn ein Erdbeben der Kirche Pfeiler erſchütterte, und nicht des törichteſten Menſchen verkehrteſte Rede, und nicht des erbärmlichſten Heuchlers Widerlichkeit kann ſie von dir nehmen, aber wohl das weit Geringere einem Anlaß geben, einen Vorwand zu ſuchen. Nein, nichts, außer du ſelber, kann ſie von dir nehmen, ſo wenig wie alle Macht der Welt und alle ihre Weisheit und aller Menſchen vereinte Beſtrebungen ſie dir geben können, ſo wenig wie du ſelbſt ſie hinnehmen und ſie weggeben kannſt. Man bekommt ſie nicht für nichts, aber man kauft ſie nicht für Gold; man nimmt ſie nicht mit Gewalt, aber ſie kommt nicht wie ein Traum, wenn du ſchläfſt; ſie feilſcht nicht um Bedingungen, wäre es auch, daß du der ganzen Menſchheit nützen wollteſt. Ob du alles hingibſt, darum iſt ſie noch nicht erworben, aber erwirbſt du ſie, ſo kannſt du gerne alles beſitzen wie der, der nichts hat. Wer da ſagt: ſie iſt nicht da, dieſe Stille, er lärmt bloß, oder haſt du wohl auch je ſchon gehört, daß einer in der Stille einig ward mit ſich ſelbſt darüber, daß ſie nicht da iſt, wenngleich du wohl große Worte gehört haft und laute Rede und lärmendes Tun, um fie wegzu⸗

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bekommen, um an Stelle des Gewiſſens und der Stille und Gottes richtender Stimme in der Einſamkeit ein Naturecho der Drangſal zu bekommen, einen gemeinſamen Schrei der Ver⸗ wirrung, eine allgemeine Meinung, mit der man, bange vor ſich ſelbſt, in Feigheit nicht allein ſteht. Doch du, mein Zuhörer, fürchteſt du dieſe Stille, wiewohl du dich befleißigſt, ein Ge⸗ wiſſen zu haben, denn ohne Stille iſt dieſes nicht da, und ein gutes Gewiſſen zu haben, ſo halte aus, ſo halte ſie aus; dieſe Stille iſt nicht die des Todes, in der du umkommſt, ſie iſt nicht zum Tode dieſe Krankheit, fie iſt der Übergang zum Leben.

So ſucht denn der Beichtende Gott im Bekenntnis der Sün⸗ den, und die Beichte iſt der Weg und iſt auf dem Wege der Seligkeit eine Raſtſtätte, wo man einhält, wo die Beſinnung den Sinn ſammelt, wo die Rechenſchaft aufgeſtellt wird. Und ſo iſt es doch: richtig, ohne Betrug muß eine Rechenſchaft ſein dann wird Stille, dann wird eines jeden Mund geſtopft, dann wird jeder ſchuldig und kann nicht eins auf tauſend erwidern. Mit Hilfe der Störung wird man minder ſchuldig, vielleicht ſogar gerechtfertigt. Eine klägliche Gerechtigkeit! Denn das iſt nicht ungerecht, daß du einem anderen Menſchen ſeine Schuld vergibſt, wenn er dich darum bittet, oder wenn du doch glaubſt, daß er es wünſche, um Gottes Willen, der es fordert, um deiner ſelbſt willen, damit du nicht geſtört werdeſt; du nimmſt auch keine Beſtechung entgegen, weil du auf die Anregung der Verſöhnung in deinem eigenen Inneren achteſt; du hältſt dich auch nicht auf auf dem Weg, wenn du, wiewohl der Beleidigte,

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

Ausſöhnung ſuchſt mit deinem Widerſacher, während er noch auf dem Weg iſt; du betrügſt auch nicht Gott um das, was ſein iſt, wenn du die Vergebung für nichts verkaufſt, du ver⸗ lierſt nicht deine Zeit oder wendeſt ſie ſchlecht an, wenn du darüber grübelſt, was wohl zur Entſchuldigung dienen kann; du biſt auch nicht betrogen, wenn du, ſo keine Entſchuldigung gefunden werden konnte, durch den heiligen Betrug der Liebe, welcher einer ganzen Welt Spott über deine Schwachheit in die Freude des Himmels über deinen Sieg verwandelt, glaubteſt, daß die Schuld zu entſchuldigen ſein müßte aber wenn es deine eigene Rechenſchaft iſt, dann täteſt du wohl un⸗ recht, wenn du dir das Geringſte ſelbſt vergeben würdeſt, denn noch ſchlimmer als die ſchwärzeſte eigene Schuld iſt doch die eigene Gerechtigkeit; da nähmeſt du eine Beſtechung an, wenn du dem Antrieb des Leichtſinns oder der Hinterliſt in deiner eigenen Sache folgteſt; da hielteſt du dich auf auf dem Wege und hielteſt auf die Feurigkeit des Geiſtes, da verſpielteſt du deine Zeit und wendeteſt ſie ſchlecht an mit Ausflüchte ſuchen, ja, da wäreſt du betrogen durch einen vermeſſenen Betrug, be⸗ trogen gerade dann, wenn du eine Entſchuldigung fändeſt. Ach, es iſt ein wunderlicher Übergang, ein ſchwindelerregender Wechſel! Vor einem Augenblick noch ging derſelbe Menſch reich und mächtig, und nun den Augenblick danach, wiewohl inzwiſchen nichts geſchehen iſt, kann er nicht eins auf tauſend erwidern. Denn wer iſt wohl hier der Reiche und Mächtige, auf den die Rede zielt, wer anders, als er, dem unrecht geſchah, er, der

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Unter drückte, er, der Übervorteilte, er, der Gekränkte! Viel⸗ leicht kümmerte ſich der Gewalttäter, der auf den Unterdrückten trat, vielleicht kümmerte ſich der Mächtige, deſſen Weg das Unrecht bezeichnete, vielleicht kümmerte ſich der Reiche, deſſen Reichtum vermehrt ward durch die Tränen der Witwe, vielleicht kümmerte ſich der Verzweifelte, der kränkt und ſpottet viel⸗ leicht kümmerten ſie alle ſich nur wenig um die Vergebung, aber wahrlich, nicht ein König, der über Reiche und Länder herrſcht, und nicht der Sohn des Goldes, dem alles gehört, und nicht der Verſorger, der die Hungrigen ſättigt, beſitzt etwas ſo Großes, oder hat etwas ſo Großes wegzugeben oder etwas fo Nötiges zu ſchenken, wie der Menſch, deſſen Vergebung ein anderer braucht. Braucht, ja braucht wie das einzige, das not⸗ tut; ob einer nicht ſo meint, darum wird ſie doch ebenſoſehr ge⸗ braucht und der, dem Unrecht geſchah, beſitzt am meiſten. Ein Heide, deſſen Namen nicht zu trennen iſt von der Vor⸗ ſtellung von Sieg und Gewalt, hat geſagt, da ſein Feind, ach, wie es den Heiden ſchien, den höchſten Mut bewies dadurch, daß er ſich ſelbſt entleibte: „Der beraubte mich meines herrlichſten Sieges, denn ich würde ihm vergeben haben.“ Und ein anderer hat geſagt: „Darum will ich nicht um Verzeihung bitten, weil ich hoch liebe. Mein Unrecht iſt vielleicht nicht ſo groß, die Ver⸗ gebung wohl ſogar eine billige Forderung, aber ſolange ſie nicht gegeben iſt, iſt das Unrecht unendlich, und die Macht der Ver⸗ gebung eine unendliche Übermacht über mich.“ Alſo, wem Un⸗ recht geſchah, der war der Reiche. Vor einem Augenblick noch

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in der Umgebung der Welt durfte er ſagen: „Tut nur unrecht gegen mich, ihr verliert doch am meiſten, denn ihr braucht meine Vergebung“ und nun einen Augenblick danach, nun ſchließt die Stille ſich um ihn, er weiß nicht, was er zu vergeben hat, und die Rechenſchaft zeigt, daß er nicht eins auf tauſend er⸗ widern kann. So iſt die Rechenſchaft, wenn es ſtill iſt um ihn, das heißt, wenn er nicht ſelber die Störung mit ſich bringt. Darum fürchtete einer vielleicht dieſe Stille und ihre Macht, und das unendliche Nichts, in das ſie alle Unterſchiede hinab⸗ ſtürzt, ſogar des Unrechts und der Vergebung, und den Ab⸗ grund, in den der Einſame verſinkt in der Stille. Es iſt, wie wenn der, der der Welt entſagt, vor der Leere zurückſchaudert, die ſich zu zeigen ſcheint. Vor einem Augenblick noch, da wünſchte er ſo vieles und trachtete und ſtrebte, und ſchlief unruhig in der Nacht, und fragte nach Neuigkeiten über andere, und be⸗ neidete einige, und überſah andere, und war beſcheiden am rechten Platz, immer auf dem Poſten in Freundſchaft und in Feindſchaft, und ſagte das Wetter vorher, und verſtand ſich auf den Wind, und änderte den Plan, und ſtrebte wieder, und gewann und verlor, und ward nicht müde, und ſpähte nach dem Lohn und ſah den Gewinn ſchimmern und nun armer betrogener Mann! wenn er in dieſer Entſagung nicht fand das eine, das not tat, armer Betrogener, der ſich ſelbſt betrog, armer Mann, der ſich ſelber zum Preis machte für des Lebens Spott, denn nun kam vielleicht das Große, das er gewünſcht hatte, nun ward er reich, jetzt, jetzt, o Verzweiflung! warum gerade

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Aus Anlaß einer Beichte

jetzt, warum nicht geſtern, ſondern jetzt, wo er doch nicht ganz wünſchte, aber auch nicht ganz entſagte! Und ſo auch mit dem, der erfuhr, daß es eine Stille gibt, wo jeder Menſch gleich ſchuldig wird, und nur lernte, fie zu fürchten. War er ange⸗ ſehen als Gerechter in den Augen der Menſchen, und dies ſein Begehren; war er einer, dem Unrecht geſchehen, der aber trotzte auf den ſtolzen Beſitz der Vergebung, war er nicht ohne Schuld, aber hatte gefällige Aufnahme gefunden in den Augen der Welt ach, armer betrogener Mann! wie müßte er ſich er⸗ bittern gegen den, der ihn in jene Stille führte und ihn irre führte aber das kann keiner, und ſein Zorn iſt machtlos. Armer Betrogener, wenn jetzt die Bürgerkrone der Gerechtig⸗ keit ihm gereicht würde vom Volkshaufen, nach der er getrachtet hatte; wenn jetzt von Tauſenden der Beſchluß gefaßt würde, ihn den Gerechten im Volke zu heißen, ſeiner hoffärtigen Ohren eitle Luſt: warum jetzt, jetzt, wo ſein Ohr wohl nicht ganz ver⸗ ſtopft war, er aber auch nicht voll der Stille unendliches Ge⸗ heimnis erfaßt hatte! Armer Betrogener, wenn jetzt der Schul⸗ dige vor ſeine Türe käme, wenn jetzt der Augenblick wäre, daß die Vergebung teuer erkauft werden ſollte, der Augenblick des Triumphs, auf den er ſich gefreut hatte, warum jetzt, warum nicht geſtern, ſondern jetzt, jetzt, wo er wohl nicht wollüſtig die Hitze der Rache und des Stolzes fühlte, aber auch nicht voll die ernſte Botſchaft der eigenen Schuld erfaßt hatte! Denn der, welcher ſie erfaßte, er war wahrlich nicht betrogen. Selig der, der es verſteht. Und wenn es eines Menſchen Pflicht iſt,

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anderen die Schuld zu verkünden, zu lehren, von ſich zu lehren, was dieſe Rede, die ohne Autorität iſt, nicht tut, der hat doch den Troſt, daß gerade der Reinſte am willigſten iſt, die eigene Schuld am tiefſten zu faſſen. Denn wenn es jenes größte Wage⸗ ſtück gilt, ſelbſt ſchuldig alle unter die Schuld zu legen, wo auch des mutigen Menſchen Denken einhält; wenn er nicht Furcht hat, ſich ſelbſt mit einzubeziehen, aber das Denken ſich widerſetzt beim Anblick deſſen, was menſchlich geſprochen rein und liebenswert iſt, bei einer weiblichen Jugend ſchöner Rein⸗ heit, welche unbekannt mit der Welt, unbekannt mit ihren An⸗ reizungen, demütig und in Aufrichtigkeit gering von ſich ſelber denkt: da wird er, wenn die Aufgabe der Rede ihm gebietet, die Sünde als das gemeinſame Los des Geſchlechts zu ver⸗ künden, da wird er ein Verſtehen finden, das vielleicht ihn ſelber beſchämt.

Der Beichtende ſucht Gott im Bekenntnis der Sünden, und die Beichte iſt der Weg, und iſt auf dem Wege der Seligkeit eine Raſtſtätte, wo man einhält, und wo die Beſinnung den Sinn ſammelt. So wollen wir einhalten und aus Anlaß der Beichte davon reden:

Was es heißt, Gott zu ſuchen,

und dies näher beſtimmen dadurch, daß wir bedenken, daß kein Menſch Gott ſehen kann ohne Reinheit, und kein Menſch Kenntnis von Ihm nehmen kann, ohne ein Sünder zu wer⸗ den. Fühlt einer in unrechter Weiſe ſich aufgehalten durch

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dieſe Aufgabe, ſo werfe er die Rede weg, damit nicht der, welcher hurtiger läuft, aufgehalten werde von dem Langſamen. Und der Wert einer Betrachtung iſt ja immer zweifelhaft: ſie kann einem zuweilen zur Entſcheidung helfen, zuweilen fie ver- hindern: wie ein kleiner Anlauf zu der Entſcheidung des Sprunges helfen kann, aber ein Anlauf von mehreren Meilen ihn wohl ſogar verhindern würde. Hat dagegen einer oft genug im Leben ſich aufgehalten gefühlt, ohne doch die Stille zu finden, hat er ſie geſucht, wo ſie ja iſt, und doch ſie nicht recht gefunden und ſich Vorwürfe deshalb gemacht, hat er gekämpft und doch nicht gewonnen, da verſuche er von neuem, er folge der Rede mit, aber frei und freiwillig; da iſt nichts, das ihn bindet, keine Verpflichtung, kein Vorwurf wartet auf ihn, wenn es durch ſie ihm nicht glückte, denn die Rede hat keine Autorität. Aber er will auch nicht, daß die Rede von jener Stille ſagen ſollte, ſie ſei an jenem geheiligten Orte ſo, daß, wenn man dort bleiben könnte und nicht wiederum hinaus müßte in die Verwirrung des Lebens, man ſie immer bei ſich haben müßte; denn wer dieſes verlangt, verlangt zu viel von der Rede: daß ſie ihn nämlich betrügen ſolle, als wäre es der Ort, äußer⸗ lich verſtanden, der den Ausſchlag gäbe, als würde nicht ganz dasſelbe ihm geſchehen, was ihm in der Welt geſchieht, wenn er an dem heiligen Ort verbleiben würde. Ein Dichter hat freilich geſagt, daß ein Seufzer ohne Worte zu Gott die beſte Anbetung ſei, ſo könnte man ja auch glauben, daß der ſpar⸗ ſame Beſuch des heiligen Ortes, wenn man aus weiter Ferne

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

kommt, der beſte Gottesdienſt ſei. Ein Seufzer ohne Worte iſt nämlich die beſte Anbetung, wenn der Gedanke an Gott über dem Daſein nur dämmern ſoll, wie die blauen Berge fern im Geſichtskreis, wenn die Unklarheit des Seelenzuſtandes durch die größtmögliche Vieldeutigkeit zufriedengeſtellt werden ſoll. Aber ſoll Gott der Seele gegenwärtig ſein, ſo findet der Seufzer wohl den Gedanken, und der Gedanke wohl das Wort aber auch die Schwierigkeit, von der man nicht träumt auf Abſtand. Bis zur Albernheit ſpricht man in unſeren Tagen davon, daß es nicht das Höchſte ſei, in der Stille zu leben, da nämlich liegt nicht die Gefahr, bis zur Albernheit, denn die Gefahr iſt da ſo gut wie in der Verwirrung, und das Große iſt weder, ohne weiteres verſtanden, in der Einſamkeit zu leben noch in der Verwirrung zu leben, ſondern das Große iſt, die Gefahr zu überwinden und das Mittelmäßigſte iſt, ſich müde zu arbeiten an der Überlegung, was wohl am ſchwerſten ſei, denn eine ſolche Arbeit iſt nutzloſe Mühe und iſt nirgends zu Hauſe wie der Arbeitende, der ja weder in der Verwirrung ſiſt noch in der Einſamkeit, ſondern in der Geiſtesabweſenheit betriebſamer Gedanken. Wenn endlich einer auf Grund der vielen Geſchäfte und ſeines betriebſamen Tuns meint, keine Zeit zu haben, eine ſolche Rede zu leſen, ſo kann er ja ganz recht haben damit, daß er keine Zeit hat, dieſe Rede zu leſen, die ja auch gerne bis zu allerletzt wartet, um in Betracht zu kom⸗ men, aber ſollte die Meinung die ſein, daß er überhaupt keine Zeit habe, ſich um das zu kümmern, was die Bekümmerung

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der Rede iſt: jene Stille, ſo ſoll die Rede, ſelbſt wenn der Be⸗ triebſame eine freie Stunde in ſeinen vielen Geſchäften fände, um in aller Haſt einen Einwand vorzubringen, ſo ſoll die Rede doch nicht ſich dadurch lächerlich machen, daß ſie darauf eine Antwort gibt. Die vielen Geſchäfte ſind vielleicht ein zweifel⸗ haftes Verdienst, vielleicht würden ſie für ihn auch dadurch weniger werden, daß er jene Stille bedenkt, und viele Geſchäfte könnten vor allem ein Grund mehr zu ſein ſcheinen, öfter die Stille der Rechenſchaft zu ſuchen, wo ja doch nicht mit Mark und Pfennigen oder mit Auszeichnung und Herabſetzung und anderen eingebildeten Größen gerechnet wird.

Wenn der Suchende ſucht, was außer ihm liegt als etwas Außeres, als etwas, das nicht in ſeiner Macht ſteht, ſo iſt das Geſuchte an einem beſtimmten Ort. Findet er bloß den Ort, wo es iſt, ſo iſt ihm geholfen, ſo ergreift er es, und ſein Suchen hat ein Ende. So wußte jeder einmal in ſeiner frühen Jugend, daß es ſo viele ſchöne Dinge gäbe, aber den Ort wußte er nicht mit Beſtimmtheit. Ach, wenn auch mancher dieſe Kin⸗ derweisheit verlernt hat, ob deshalb alle in Wahrheit weiſer geworden ſind, ob wohl auch der, welcher an Stelle jener ſchönen Einheit der Fülle die Doppeltheit des Zweifels und die Halb- heit des Entſchluſſes gewonnen hat! Wenn angenommen wird, daß der Suchende ſelber gar nichts tun kann, um den Ort zu finden, ſo iſt er ein Wünſchender. So war jeder ein⸗ mal in ſeiner früheren Jugend. Ach, wenn auch mancher ſich verändert hat, ob deshalb alle in Wahrheit ſich zum beſſeren

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verändert haben, ob auch der, welcher an Stelle des ungewiſſen Reichtums des Wunſches die gewiſſe Erbärmlichkeit der Mit⸗ telmäßigkeit gewann! Wenn der Wünſchende ſeinen Wunſch erfüllt ſieht, ſo wird er erſtaunt, wie er bereits dadurch, daß er ein Wünſchender war, in Staunen war. So war auch jeder einmal in ſeiner frühen Jugend, nicht wie man ungerecht von der Jugend ſagt, leicht zu locken zu törichten Unternehmungen, ſondern innerlich leicht zu locken zu der un vorbehaltenen, ſeligen Hingebung des Staunens, dem redlichen Entgelt, den der Wünſchende unverbrüchlich aufbewahrt für den Augenblick der Erfüllung. Ach, wenn auch mancher dieſe Eile verloren hat, Gleiches mit Gleichem bezahlen zu wollen, wie er ja auch gelernt hat, vom Wunſche geringe zu denken iſt deshalb dieſe feil⸗ ſchende Redlichkeit, die nicht recht wünſcht und nicht recht ſtaunt, und ſo Gleiches mit Gleichem bezahlt, iſt deshalb dieſe Red⸗ lichkeit ein Gewinn! Der, welcher wünſcht, ſucht auch, aber ſein Suchen iſt blind, nicht ſo ſehr mit Hinſicht auf den Gegen⸗ ſtand des Wunſches, als mit Hinſicht darauf, daß er nicht weiß, ob er ihm näher kommt oder ſich entfernt von ihm.

Unter den vielen Gütern gibt es nun eines, das das höchſte iſt, das nicht zu beſtimmen iſt durch ſein Verhältnis zu den anderen, da es das höchſte iſt, ohne daß doch der Wünſchende eine beſtimmte Vorſtellung davon hat, denn es iſt das höchſte, gerade als das Unbekannte und dieſes Gut iſt Gott. Die anderen Güter haben Namen und Bezeichnungen, aber wo der Wunſch am tiefſten Atem holt, wo dieſes Unbekannte ſich zu

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zeigen ſcheint, da iſt das Staunen, und das Staunen iſt der Sinn der Unmittelbarkeit für Gott und alles tieferen Ver⸗ ſtehens Beginn. Das Suchen des Wünſchenden iſt blind nicht ſo ſehr mit Hinſicht auf den Gegenſtand, denn der iſt ja das Unbekannte, als mit Hinſicht darauf, ob er ihm näher kommt oder ferner jetzt ſtutzt er, der Ausdruck des Staunens iſt Anbetung. Und das Staunen iſt ein zweideutiger Seelen⸗ zuſtand, der in ſich die Furcht und die Seligkeit birgt. Darum iſt die Anbetung gemiſcht zugleich aus Furcht und aus Selig⸗ keit. Selbſt der geläutertſte, vernünftigſte Gottes dienſt iſt Seligkeit in Furcht und Zittern, Zuverſicht in Lebensgefahr, Freimut im Bewußtſein der Sünde. Selbſt der geläutertſte und vernünftigſte Gottesdienſt hat die Gebrechlichkeit des Staunens; und nicht der Kraft und nicht der Weisheit direkte Größe beſtimmt die Größe des Gottes verhältniſſes, der Mäch⸗ tigſte iſt in tiefſter Ohnmacht, der Frommſte ſeufzt aus tiefſter Not, der Gewaltigſte iſt der, welcher ſeine Hände richtig faltet.

Das Staunen des Wünſchenden entſpricht dem Unbekannten, und iſt ſo ganz unbeſtimmbar oder beſſer unendlich beſtimmbar, kann ebenſo widerwärtig ſein wie lächerlich, kann ebenſo ver⸗ wildert ſein wie kindiſch. Wenn der Wald im Dämmer liegt zur Abendſtunde, wenn in der Nacht der Mond ſich verirrt zwiſchen die Bäume, wenn das Staunen der Natur darinnen nach ſeiner Beute ausſieht, und dann der Heide plötzlich das Wunder einer Lichtwirkung ſieht, das ihn ergreift, ſo ſieht er das Unbekannte, und die Anbetung iſt der Ausdruck des

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Staunens; wenn der knorrige Stamm eine Geſtalt vortäuſcht, die ihm unbekannt iſt, die einem Menſchen gleicht und doch ihm nur in übernatürlicher Größe gleicht, ſo ſtutzt er und betet an; wenn er in der Wüſte eine Spur ſieht, die nicht einem Men⸗ ſchen oder anderen ihm bekannten Weſen angehört, wenn die Macht der Einſamkeit ſeine Seele mit dem Staunen be⸗ ſchwängert, ſo ſieht er in dieſer Spur, daß das Unbekannte hier geweſen iſt, und er betet an; wenn das Meer tief und ſtill liegt, und verklärt, wenn das Staunen ſchwindelnd hinunterſtiert, bis es iſt, als ſtiege das Unbekannte herauf, wenn die Woge des Meeres einförmig dahinrollt gegen den Strand und die Seele überwältigt durch die Macht der Einförmigkeit, wenn das Schilf raſchelt im Wind und wieder raſchelt und alſo dem Lauſchenden etwas anvertrauen wollen muß: ſo betet er an. Beſtimmt ſich das Staunen, ſo iſt ſein höchſter Ausdruck, daß Gott das unerklärte All des Daſeins iſt, wie es von der Ein⸗ bildungskraft im Geringſten und im Größten überall geahnt wird. Was der Inhalt des Heidentums war, wird von neuem erlebt in jedes Geſchlechts Wiederholung, und erſt wenn es durchgelebt iſt, wird das, was ein Götzendienſt war, herabgeſetzt zu einem ſorgloſen Daſein in der Unſchuld der Dichtung. Denn der Götzendienſt iſt geläutert das Dichteriſche.

Wenn angenommen wird, daß der Wünſchende ſelbſt etwas dazu beitragen könne, das Geſuchte zu finden, ſo iſt er ein Strebender. Alſo iſt das Staunen und der Wunſch im Be⸗ griff, ihre Prüfung durchzumachen. Oft betrogen, da ja der

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Umfang des Staunens, gerade weil es ein direktes Verhältnis zu dem Unbekannten hatte, das ebenſo Widerwärtige wie Lächer⸗ liche, das ebenſo Verwilderte wie Kindiſche war, oft betrogen will das Staunen ſich vorſehen und nicht mehr im Blinden tappen. Das direkte Verhältnis wird ſo in einem erſten Augen⸗ blick ein gebrochenes Verhältnis, ohne daß doch der Bruch im geringſten ein Durchbruch iſt. Es wird gebrochen dadurch, daß der Weg dazwiſchen tritt als eine Beſtimmung, während für den Wünſchenden kein Weg iſt. Wenn der Suchende nicht im Blinden tappt, ſo wünſcht er nicht bloß, er ſtrebt; denn das Streben iſt eben der Weg hin zu dem Geſuchten. So war jeder einmal in ſeiner früheren Jugend, hochfliegend im Wollen, ach, wenn auch mancher nun gelernt hat, auf der Erde zu bleiben, ob deshalb alle wohl auch weiſer geworden ſind, ob wohl auch der, welcher an Stelle des Vogelflugs den gebeugten Gang des Vier füßlers lernte! So war jeder einmal in ſeiner früheren Jugend dummdreiſt im Wagen; ach, und wenn auch mancher das ſein ließ, ob ſie deshalb alle auch weiſer wurden, ob auch der, welcher an Stelle des Laufes der Dummdreiſtigkeit ins Ungewiſſe die Sicherheit des Fußgängers gewann auf der Land⸗ ſtraße der Mittelmäßigkeit! So war jeder einmal in ſeiner früheren Jugend heraus fordernd; ach, und wenn auch mancher lernte, die Forderung herabzudrücken, ob ſie deshalb auch alle weiſer wurden, ob auch der, welcher durch Gunſt überſättigt ward, oder der, welcher von ſeiner Umgebung Kleinlichkeit lernte, oder der, welcher im Knechtsdienſt der Gewohnheit Genügſam⸗

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keit lernte! Oh, wohl iſt es weiſe, vom Glück nicht zu reden, wenn man etwas Heiligeres zu nennen weiß, aber wenn nicht, dann wäre es ein Unglück, wenn das Glück vom Leben ver⸗ ſchwände, wenn es müde würde zu geben und zu nehmen, müde würde der Menſchen, die es um das Staunen betrogen.

Aber in der Welt der Freiheit, wo alles Streben ſeinen Urſprung hat, und worin alles Streben ſein Leben hat, da be⸗ gegnet man dem Staunen auf dem Weg. Das Streben hat verſchiedene Namen, aber das, welches auf das Unbekannte geht, iſt gerichtet auf Gott. Dieſes, daß es auf das Unbe⸗ kannte gerichtet iſt, will ſagen: es iſt unendlich. Da ſtutzt der Strebende, er ſieht die täuſchende Spur eines ungeheueren Weſens, das da iſt, wenn es vorbei iſt, das iſt und nicht iſt; und dieſes Weſen iſt das Schickſal, und ſein Streben iſt wie ein Irregehen. Anbetung iſt wieder der Ausdruck des Staunens, und der Umfang der Anbetung iſt das ebenſo Widerwärtige wie Lächerliche, das ebenſo Verwilderte wie Kindiſche.

Wenn angenommen wird, daß der Suchende alles tun kann, um das Geſuchte zu finden, ſo iſt die Verzauberung vorbei, das Staunen vergeſſen, es gibt nichts mehr, worüber zu ſtaunen wäre. Und dann, im nächſten Augenblick, iſt das Geſuchte ein Nichts, und darum alſo war es, daß er alles vermochte. So war jeder einmal am Scheideweg der Jugend, da er eine Ewig⸗ keit alt wurde; ach, und wenn auch mancher ſich tröſtet, dieſen Schrecken nicht erlebt zu haben, ob ſie deshalb alle weiſer wurden, ob auch der, der ein Jüngling war im Greiſenalter!

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So ging es jedem einmal beim Abſchied der Jugend, daß das Leben ſtille ſtand und er umkam: ach, und wenn auch mancher mit ſeiner Jugend prahlt, ob darum auch der weiſer war, welcher die Jahre und die Ewigkeit betrog um ihr Recht; deſſen höchſte Weisheit eine läppiſche Antwort war auf die ernſteſte Frage! |

Es geſchah einmal in der Welt, daß der Menſch, müde des Staunens, müde des Schickſals, ſich abwandte vom Äußeren und entdeckte, daß es keinen Gegenſtand des Staunens gebe, daß das Unbekannte ein Nichts ſei, und das Staunen ein Be⸗ trug. Und was einmal der Inhalt des Lebens war, das kehrt wieder in der Wiederholung des Geſchlechts. Ob einer ſich weiſe dünken will damit, daß er ſagt, daß es zurückgelegte Erſchei⸗ nungen ſeien, die ſchon ſeit Jahrtauſenden abgetan ſind: im Leben iſt es nicht ſo. Und du meinſt doch auch nicht, mein Zu⸗ hörer, daß ich dir deine Zeit verſpielen möchte mit der Er⸗ zählung großer Begebenheiten und der Nennung ſchnurriger Namen und damit, daß ich mich geiſtlos wichtig mache durch die Betrachtung der ganzen Menſchheit! Ach nein, iſt es ſo, daß der betrogen iſt, der nur weniges zu wiſſen bekommt, ob da nicht auch der, der ſo vieles zu wiſſen bekam, daß er gar nichts ſich aneignete! Langſam geht der Menſch vorwärts, ſelbſt das herrlichſte Wiſſen iſt doch nur eine Vorausſetzung. Will man die Vorausſetzungen vermehren immer mehr und mehr, ſo iſt man wie der Geizige, der das Geld zuſammenhäuft, für das er keinen Gebrauch hat. Selbſt was wert iſt, am höchſten

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angeſchlagen zu werden: eine glückliche Erziehung, ſelbſt ſie iſt ja nur eine Vorausſetzung, und es vergeht Zeit um Zeit, ehe ſie angeeignet wird, und ein ganzes Leben iſt nicht zu viel, wenn man ſie ſich aneignen will. Oh, wenn der betrogen war, deſſen Erziehung verſäumt ward, ob da nicht auch der, welcher in Un⸗ wiſſenheit darüber verblieb, daß ſie eine Vorausſetzung war, ein anvertrautes Gut, ein heiliges Erbe, das erworben werden ſollte, und der ſie ohne weiteres hinnahm und ſich das zu ſein deuchte, von dem er den Namen trug. Hat der Beſſere zuweilen geſeufzt, weil das Geſuchte ſo ferne ſei, ſo haſt du wohl, mein Zuhörer, erfaßt, daß es auch noch eine andere Schwierigkeit gibt, daß es ein Blendwerk des Wiſſens gibt, das die Seele be⸗ tört, daß es eine Sicherheit gibt, in der man ein Wiſſender ift und doch betrogen, daß es eine Ferne gibt von aller Entſchei⸗ dung, wo man, ohne davon zu träumen, verloren geht. Laß den Schrecken ſeine Beute ſich holen, oh, dieſe Sicherheit iſt ein ſchrecklicheres Ungeheuer! Laß die Not der Entbehrung einen aushungern, iſt es beſſer, im Überfluß umzukommen? Er⸗ ſchütternd war es, da das Staunen den Menſchen los ließ, und er an ſich ſelber verzweifelte, aber ebenſo erſchütternd iſt es, daß man davon wiſſen, weit mehr noch wiſſen, und nicht einmal jenes erlebt haben kann, und am erſchütterndſten, daß man alles wiſſen kann, ohne auch mit dem Geringſten angefangen zu haben. Und iſt das ſo, oh, dann laß mich von vorn anfangen: kehre zurück, du Jugend mit deinem Wünſchen und deinem liebenswürdigen Staunen, kehre zurück, du wildes Streben der

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Jugend mit deiner Dummdreiſtigkeit und deinem Schaudern vor jenem Unbekannten, ergreife mich, du Verzweiflung, die mit dem Staunen und der Jugend Staunen bricht, aber ſchnell, ſchnell, ſo es möglich iſt, ſo ich meine beſte Zeit verſpielt habe, ohne etwas zu erkennen, lehre mich doch zum mindeſten, nicht gleichgültig zu bleiben dabei, nicht Troſt zu ſuchen mit anderen im gemeinſamen Verluſt, fo iſt wohl der Schrecken über den Verluſt ein Anfangen an meiner Heilung; wie ſpät es auch iſt, es iſt doch beſſer, als dahinzuleben als ein Lügner, betrogen nicht von dem, was dazu geeignet ſcheinen könnte zu betrügen, ach, und darum entſetzlich betrogen betrogen von vielem Wiſſen!

Alſo war das Staunen vorbei, es iſt vorbei; ſo hieß es ein⸗ mal, ſo ſagt der Verzweifelnde und wiederholt es in Verzweif⸗ lung und wiederholt es ſpottend, und will ſich tröſten mit dem Spott, weil dieſer andere verwundet, als wäre nicht aller Spott zweiſchneidig! Aber du, mein Zuhörer, du weißt, daß die Rede gerade jetzt vor dem Staunen ſteht. Die Rede will darum nicht dich überraſchen, will auch nicht dich betrügen durch Augenblendung, wenn der Gedankenblitz aufleuchtet, indem alles ſich umkehrt; will auch nicht dich hineinreißen in eine ſtutzende Verwirrung. Der, welcher wirklich erlebt hat, wovon ich geſprochen habe, er durchſchaut die Miſchung verwirrter Er⸗ innerungen leicht, und wenn er es nicht erlebt hat, ſo wird eine Rede hören oder leſen nur von zweifelhaftem Nutzen für ihn ſein. Aber du, der du ja ſelber im Staunen biſt, du weißt,

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daß dieſes Staunen erwuchs, als einmal jenes erſte verzehrt ward in der Verzweiflung. Aber wo fände ſich auch ein wür⸗ digerer Gegenſtand für das Staunen, als wenn der in Wün⸗ ſchen und Streben Suchende, der in Verzweiflung Umkommende plötzlich entdeckte, daß er das Geſuchte hat, daß das Unglück iſt, daß er nun daſteht und es verliert! Denn nimm den Wün⸗ ſchenden, wie er daſitzt und träumt, rufe ihn an und ſage: H Du haſt das Gewünſchte“; halte den dummdreiſt Strebenden an, wie er eben dort vorwärtsſtürzt auf dem Weg, halte ihn an und ſage: „Du haſt, wonach du ſtrebſt“; durchbrich die Verzweif⸗ lung, daß der Verzweifelte erfaſſe, er habe es welche Ge⸗ mütsbewegung in ihm, wenn er zugleich überwältigt wird von Staunen und noch einmal überwältigt, weil er das Geſuchte

gleichſam wieder verliert! Die Herrlichkeit des Wünſchens, das Streben der Dummdreiſtigkeit weckt nicht zum zweitenmal Staunen, dies verhindert der Gedankenſtrich der Verzweiflung, aber daß das Geſuchte gegeben iſt, daß es gehabt wird von dem, der in Mißverſtehen daſteht und es verliert dieſes weckt des ganzen Menſchen Staunen. Und welchen ſtärkeren Aus⸗ druck gibt es wohl für Staunen, als daß der Staunende wie verändert wird, wie wann der Wünſchende die Farbe wechſelt; welchen ſtärkeren Ausdruck als dieſen, daß er wirklich ver⸗ ändert wird! Und ſo iſt es mit dieſem Staunen, es verändert den Suchenden, und ſo iſt es mit dieſer Veränderung, daß das Suchen zu etwas anderem wird; ja, zu genau dem Entgegen⸗ geſetzten: Suchen bedeutet, daß der Suchende ſelbſt verändert

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wird. Er ſoll nicht den Ort finden, wo das Geſuchte iſt, denn dieſes iſt gleich bei ihm; er ſoll nicht den Ort finden, wo Gott iſt, er ſoll nicht dorthin ſtreben, denn Gott iſt gleich bei ihm, ganz nahe, nahe allerwege, in jedem Augenblick allgegenwärtig, ſondern er ſoll verändert werden, auf daß er ſelber der Ort wer⸗ den kann, wo Gott iſt in der Wahrheit.

Doch Staunen, das alles tieferen Verſtehens Anfang iſt, iſt eine zweideutige Leidenſchaft, die in ſich enthält die Furcht und die Seligkeit. Oder war es nicht furchtbar, mein Zuhörer, daß das Geſuchte dir ſo nahe war; war es nicht furchtbar, daß du nicht ſuchteſt, ſondern Gott dich ſuchte; war es nicht furcht⸗ bar, daß du dich nicht rühren konnteſt, ohne zu ſein in Ihm und nicht ſtille ſein, ohne zu ſein in Ihm, und nicht ſo unbemerkt ſein, daß du ja nicht warſt in Ihm, und nicht zu der äußerſten Grenze der Welt fliehen, ohne daß Er da war an jeder Stelle unter⸗ wegs, und nicht dich verbergen im Abgrund, ohne daß Er ja da war und an jeder Stelle unterwegs, und nicht zu Ihm ſagen: in einem Augenblick, weil Er ja auch da war in dem Augenblick, da du dieſes ſagteſt; war es nicht furchtbar, da der Scherz der Jugend und die Unreife der Verzweiflung zum Ernſt wurden, da das, worauf du gezeigt hatteſt, und wonach du geſtrebt hatteſt, und wovon du geſagt hatteſt, daß es nicht da ſei, da dies wurde, ja da es da war überall um dich und dich umſchloß allerwege! Aber war es nicht ſelig, daß der Mächtigſte dich einſperren konnte in den finſterſten Winkel und doch nicht Gott ausſperren konnte; war es nicht ſelig, oh, war es nicht ſelig,

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daß du in den tiefen Abgrund fallen konnteſt, wo man weder Sonne ſieht noch Sterne, und doch Gott ſehen kann; war es nicht ſelig, daß du irre gehen konnteſt in der einſamen Wüſte, und doch ſtracks den Weg finden zu Gott; war es nicht ſelig, daß du ein Greis werden konnteſt, der alles vergeſſen hatte, und doch niemals Gott vergeſſen, weil der nicht etwas Vergangenes wer den kann, daß du ſtumm werden konnteſt und doch Ihn an⸗ rufen, taub und doch Ihn hören, blind und doch Ihn ſehen; ſelig, vertrauen zu dürfen auf Ihn, daß Er nicht ſagen würde, wie Menſchen ſagen: in einem Augenblick, weil Er bei dir war in dem Augenblick, da Er es ſagte! Aber der, welcher die Furcht ausläßt, er ſehe wohl zu, daß er nicht auch den Fund ausläßt. Es iſt ſo leicht, oder wenn einer lieber dasſelbe auf andere Weiſe ſagen will, es iſt ſo ſchwer, Gott zu finden, daß man ſogar be⸗ weiſt, daß Er da iſt, und einen Beweis für notwendig hält. Laß die Arbeit des Beweiſes ſchwer ſein, im beſonderen dem Beſchwerde machen, der verſtehen ſoll, daß er etwas beweiſt; für den Beweiſenden iſt die Sache leicht geworden, denn er iſt dazu gekommen, außerhalb zu ſtehen, er hat keine Handlung mit Gott, ſondern macht eine Abhandlung über Gott. Soll dagegen das Suchen bedeuten, daß man ſelber verändert wird, ſo paſſe der Suchende wohl auf auf ſich ſelbſt. Man lerne das Staunen von einem Kind und Furcht von einem Mann, das iſt immer eine Vorbereitung, ſo kommt ſchon die Furcht mit Gott, wenn Er kommt und die Beweiſe überflüſſig macht. Oder iſt es vielleicht Mut, daß man gedankenlos in Unwiſſenheit ver⸗

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bleibt über die Gefahr, daß der Beweiſende unverändert ſitzt und beweiſt, daß der Allgegenwärtige da iſt, der Allgegen⸗ wärtige, der alſo auch im Augenblick des Beweiſes den Be⸗ weiſenden durchſchaut ohne doch ein wiſſenſchaftliches Urteil über die Verdienſtlichkeit des Beweiſes zu haben. Sollte wirk⸗ lich der Allgegenwärtige geworden ſein wie ein ſeltenes Natur⸗ geſchöpf, deſſen Daſein der Gelehrte beweiſt, oder wie ein un- ſteter Stern, den man in Pauſen von Jahrhunderten beobachtet, und deſſen Daſein deshalb einen Beweis nötig hat, im beſon⸗ deren für die dazwiſchenliegenden Jahrhunderte, in welchen er nicht geſehen wird!

Aber das wahre Staunen und die wahre Furcht kann der eine Menſch nicht vom anderen lernen. Nur wenn ſie deine Seele zuſammenpreſſen und ausweiten, deine Seele, gerade deine, deine allein in der ganzen Welt, weil du allein geworden biſt mit dem Allgegenwärtigen, nur dann ſind ſie in Wahrheit für dich. Ob auch ein Redner eines Engels Beredſamkeit hätte, und ob er ein Antlitz hätte, das dem Mutigſten Schrecken ein⸗ jagen könnte, ſo daß du, wie man ſagt, in das tiefſte Staunen fieleſt über ſeine Beredſamkeit, und Entſetzen dich ergriffe, da du ihn hörteſt es iſt nicht dieſes Staunen, und es iſt nicht dieſe Furcht, die helfen. Im Verhältnis zu jedem Menſchen, dem geringſten und dem größten, gilt es, daß nicht ein Engel und nicht Legionen Engel und nicht alle Schrecken der Welt das wahre Staunen und die wahre Furcht eingeben können, wohl aber ihn abergläubiſch machen. Das wahre Staunen und

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die wahre Furcht ſind erſt da, wenn er, eben er, es ſei nun der Geringſte oder der Größte, allein wird mit dem Allgegen⸗ wärtigen. Der Kraft und der Weisheit und der Tat direkte Größe beſtimmt nicht die Größe des Gottesverhältniſſes. Oder taten die Weiſen in Agypten nicht faſt ebenſo große Zeichen wie Moſes; geſetzt, ſie hätten größere getan, was folgte dann daraus? Nichts, gar nichts in Hinſicht auf das Gottesver⸗ hältnis. Aber Moſes fürchtete Gott, und Moſes ſtaunte über Gott, und die Furcht und das Staunen oder die Furcht des Staunens und ſeine Seligkeit beſtimmen die Größe des Gottes⸗ verhältniſſes.

Es iſt ganz wahr, was der Verſtand ſagt, daß es nichts zum Staunen gibt, aber eben deshalb iſt das Staunen ge⸗ ſichert weil der Verſtand dafür einſteht. Laß nur den Ver⸗ ſtand das Vergängliche richten, laß ihn nur den Ort ſäubern ſo kommt das Staunen am rechten Ort in dem Veränderten. Alles, das zu jenem erſten Staunen gehörte, kann der Ver⸗ ſtand verzehren; laß ihn das tun, daß er rätſelvoll einem zum Staunen helfe, denn rätſelvoll iſt es ja, da es geradewegs gegen das Urteil des Verſtandes über ihn ſelber geht. Aber kommt ein Menſch nicht weiter, ſo klage er nicht den Verſtand an und triumphiere auch nicht, weil er geſiegt hat. Wenn ein Fürſt einen Feldherrn ausſchickt mit dem Heere gegen das feind⸗ liche Land, und dieſer Feldherr es erobert und darauf ſelbſt ſich deſſen bemächtigt als ein Aufrührer, ſo iſt ja kein Grund da, ihn deshalb anzuklagen, weil er es eroberte, aber auch kein

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Grund zu triumphieren, da er ſelber es ja behielt: und ſo, wenn ein Menſch mit ſeinem Verſtand ſiegt über das, was wohl ſchön war, aber doch auch kindlich, ſo klage er nicht den Verſtand an, aber wenn der Verſtand damit endet, daß er Aufrührer wird, ſo triumphiere er nicht. Aber des Staunen iſt in dem Veränderten.

Wie es hier geſagt iſt, ſo ging es jedem einmal im Augen⸗ blick der Entſcheidung, da die Krankheit des Geiſtes einſchlug und er ſich gefangen fühlte im Daſein, gefangen für ewig. Ach, und wenn auch mancher ſich damit tröſtet, daß er dieſer Gefahr entgangen iſt, ob deshalb auch der weiſer ward, der ſchlau und feige ſich ſelbſt betrog, da er glaubte, Gott und das Leben zu betrügen! So geſchah es jedem einmal, als es vorbei war mit dem Scherz und dem Blendwerk und der Zerſtreuung; ach, und wenn auch mancher trotzt auf ſeine Sorgloſigkeit, ob deshalb auch der weiſer ward, deſſen Leben wild und ſchmarotze⸗ riſch in Seitenſchößlingen wuchert, weil er nicht gebunden wurde! So geſchah es jedem einmal, ach, und wenn auch mancher ſich ſchmeichelt, in vorteilhafterer Lage zu ſein, ob deshalb auch der weiſer ward, der ungebunden nichts davon wußte, daß er eben deshalb unfrei war! n

Wenn angenommen wird, daß das Geſuchte gegeben iſt, ſo bedeutet das Suchen, daß der Suchende ſelbſt verändert wird, ſo daß er der Ort wird, wo das Geſuchte ſein kann in der Wahr⸗ heit. Und das Geſuchte war ja gegeben, es war ſo nahe, daß es war, als wäre es wieder verloren. Welcher Ausdruck iſt wohl

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ſtärker für den Schrecken als dieſer, daß es iſt wie verloren, ohne die Gewißheit, daß es verloren iſt: ſo geht es alſo zurück mit einem Menſchen! Welch ein Abſtand ſeit jener Zeit, da er wünſchte, da er dummdreiſt wagte, da das Geſuchte in der Ferne war, da das Selbſtgefühl darauf trotzte, daß es nicht da ſei und jetzt, es iſt ihm ſo nahe gekommen, daß es ver⸗ loren iſt, und es geht weit zurück in die Ferne mit dem Verluſt! Der Suchende ſollte verändert werden, und ach, er war ver⸗ ändert ſo geht es zurück. Und die Veränderung, in der er iſt, nennen wir die Sünde. Alſo das Geſuchte iſt, der Suchende iſt der Ort, aber verändert und darin anders, daß er einmal der Ort geweſen war, wo das Geſuchte war. Oh, nun iſt da kein Staunen, keine Zweideutigkeit! Der Zuſtand der Seele, wenn ſie dieſes erfaßt, iſt Furcht und Zittern in dem Schul⸗ digen, ihre Leidenſchaft iſt Leid in der Erinnerung, ihre Liebe iſt Reue in dem Verlorenen. War es nicht ſo, mein Zu⸗ hörer? Die Rede ſoll nicht dich überraſchen, ſie hat keine Auto⸗ rität, dir irgendein Sündenbekenntnis abzunötigen. Im Gegen⸗ teil, ſie geſteht gern ihre Ohnmacht in dieſer Hinſicht, ja könnte einer den Wunſch haben, ſo will ſie willig es ihm ſagen, daß nicht alle Beredſamkeit der Welt imſtande iſt, einen Menſchen von ſeiner Sünde zu überzeugen, aber dann auch ihn ermahnen, nicht zu fürchten die Beredſamkeit der Sünder, ſondern die Allgegenwart des Heiligen, und noch mehr ſich zu fürchten davor, ſich ihr zu entziehen. Soll ein Menſch weſentlich ſeine Sünde verſtehen, ſo muß er ſie verſtehen, weil er allein wird, er allein,

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gerade er allein mit dem Heiligen, der alles weiß. Nur dieſe Furcht und dieſes Zittern iſt die Wahrheit, nur das Leid, das die Erinnerung an Gott in einem Menſchen weckt, nur die Reue, die die Liebe zu ihm emporliebt. Hätte ein Redner eine Stimme wie der Donner des Himmels, hätte er ein Antlitz, das Entſetzen einjagte, verftände er, mit dem Blicke zu zielen, und zeigte er jetzt, mein Zuhörer auf dich, wie du daſitzeſt, und ſagte: „Du, du biſt ein Sünder,“ und täte er das auch mit einer ſolchen Macht, daß dein Auge den Boden ſuchte, daß das Blut aus deiner Wange wich, und du vielleicht den Eindruck lange nicht verwandeſt da verſtandeſt du wohl, daß er durch ſein Betragen die Umgebung in eine Jahrmarktsbude verwandelte, wo er Gaukeleien trieb. Furcht und Zittern vor dem Abſcheu⸗ lichen: vor einem religiös Ausſchweifenden iſt nicht Furcht und Zittern in der Wahrheit. Wie es gilt, daß ein Menſch ſeinen Frieden nicht bei einem anderen Menſchen ſuchen ſoll, daß er nicht auf Sand bauen ſoll, ſo gilt es auch, daß er ſich nicht darauf vertröſten ſoll, daß es irgendeines anderen Menſchen Aufgabe ſei, ihn davon zu überzeugen, daß er ein Sünder iſt, aber wohl ihn an die eigene Verantwortung vor Gott zu er⸗ innern, wenn er ſie nicht durch ſich ſelber entdeckt; alles andere Verſtehn iſt Zerſtreuung. Und dies iſt nur Scherz, wenn ich dich richten wollte, aber das iſt Ernſt, wenn du vergißt, daß Gott dich richten wird. .

Das Geſuchte iſt alſo gegeben, Gott iſt nah genug, aber niemand kann Gott ſehen ohne Reinheit, und die

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Sünde eben iſt Unreinheit, und dar um kann niemand Kenntnis nehmen von Gott, ohne als Sünder ſich zu erkennen. Das erſte iſt ein einladendes Wort, und der Blick der Seele iſt nach oben gerichtet, wo das Ziel iſt, aber im ſelben Moment ertönt das andere Wort, das den Beginn bezeichnet, und dieſes Wort iſt ein niederdrückendes Wort. Und doch iſt das ſo für den, der mit ſich ſelbſt die Sünde verſtehen will.

So ſteht die Rede nun am Anfang. Der geſchieht nicht durch Staunen, aber dann wahrlich auch nicht durch Zweifel; denn der, welcher an ſeiner Schuld zweifelt, er macht nur einen törichten Anfang, oder beſſer, er ſetzt fort, was mit der Sünde töricht begonnen wurde. Was mit der Sünde kommt, das begleitet das Leid: dies gilt doch wohl auch von der Sünde ſelbſt. Leid iſt deshalb der Anfang, und Zittern iſt die Wachſamkeit des Leids. Je tiefer das Leid iſt, um ſo mehr fühlt ſich der Menſch wie ein Nichts, als weniger denn nichts. Es iſt immer geſagt wor den, ſelbſt im Heidentum, daß die Götter das Höchſte nicht für nichts verkaufen, daß ein göttlicher Neid, in welchem die Gottheit den Preis für ſich ſelbſt beſtimmte, die Bedingungen des Verhältniſſes feſtſetzte: wie ſollte dann dies, als einzelner Menſch der Wohnort Gottes zu werden, wie ſollte dieſes nicht ſeine For derung haben; und dieſe Forderung iſt, daß der Menſch ſich als Sünder bewußt wird. Und doch iſt dies nicht, wenn ich ſo ſagen darf, eine Höflichkeit, die der Menſch Ihm erweiſt, daß Seine heilige Gegenwart den Einzelnen zu einem Sünder

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niederdrücke, nein, der Einzelne war es, aber wurde es erſt durch Seine Gegenwart. Indeſſen verſteht der, welcher ſich ſelbſt im Bewußtſein der Sünde vor Gott zu verſtehen ſucht, er ver⸗ ſteht es nicht wie eine allgemeine Ausſage, daß alle Menſchen Sünder ſind, denn dieſe Allgemeinheit iſt nicht das, auf dem der Nachdruck liegt. Je tiefer das Leid iſt, um ſo mehr fühlt ſich der Menſch als ein Nichts, als weniger denn nichts, und dieſes herabziehende Selbſtgefühl iſt ein Zeichen dafür, daß der Leidende der Suchende iſt, der anfängt, Kenntnis zu nehmen von Gott. Im weltlichen Sinn gilt es, daß der ein mittel⸗ mäßiger Krieger iſt, der nicht hofft, Oberſter zu werden, im göttlichen Sinn iſt es umgekehrt, je weniger er von ſich ſelber hält, nicht als Menſch im allgemeinen oder davon, Menſch zu ſein, nein, ſondern von ſich als dem einzelnen Menſchen, und nicht in Hinſicht auf Gaben, ſondern in Hinſicht auf Schuld, deſto deutlicher wird Gott ihm. Wir wollen nicht die Schuld vermehren, damit Gott größer werden könnte, wohl aber die Erkenntnis der Schuld.

Je tiefer das Leid iſt, um ſo tiefer wird die Macht der Sünde erfaßt, und der ſtärkſte Ausdruck für das tiefſte Leid könnte ſcheinen, wenn einer ſich ſelbſt als den größten Sünder fühlte. Nun, das verſteht ſich, es iſt ſogar auf eitle Weiſe Streit und Zwiſt geweſen über dieſe Würde, man hat alles aufgeboten, um dieſe Anerkennung zu gewinnen in Zeiten, wo dies der höchſte Ausdruck für die höchſte Auszeichnung war. Traurig iſt ja jede Art von irrendem Streben, am traurigſten ſind doch

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die religiöſen Ausſchweifungen. Wenn der Jüngling fehlt im Leben, dann hofft man auf die Jahre; es iſt ſchon trauriger, wenn der Mann irre geht; aber wenn einer irre geht im Letzten, das retten kann, wo bleibt dann die Rettung! Aber daraus folgt doch nicht, daß es preiswert ſein würde, das Göttliche dahin⸗ ſtehen zu laſſen, und auf dieſe Weiſe dem Irrtum zu entgehen. Der größte Sünder und Streit darüber, ob man es iſt! Wir wollen nicht dem Lachen Raum geben, wenn auch jener Widerſpruch zur Stelle iſt, der das Lachen berechtigt, denn iſt es auch lächerlich, ſo iſt es das doch wieder nicht und hier doch nicht der Ort zu lachen darüber, daß man ſo die Torheit in den allerernſteſten Zuſammenhang gebracht hat. Die Rede will auch nicht ohne weiteres den Ausdruck fahren laſſen, ſondern etwas bei ihm verweilen und fragen: wie bekommt ein Menſch zu wiſſen, daß er der größte Sünder iſt? Wenn er zu wiſſen bekommt, daß er ein Sünder iſt, ſo geſchieht dies ja dadurch, daß er allein wird, er, gerade er, allein mit dem Heiligen. Wird er nicht ſo allein, ſo bekommt er auch nicht einmal zu wiſſen, daß er ein Sünder iſt, geſchweige der größte. Woher kommt nun das Mehr oder Weniger, wodurch er ſich ſelber als den größten beſtimmt? Sollte dieſes Mehr nicht vom Böſen ſein, kommt es nicht durch Liſt und Betrug, kommt es nicht durch Abſpringen vom Ernſt? Ein Unglücklicher, der ernſt ward durch ſein Leiden, wird ſofort daran erkannt, daß er, ohne ſich darum zu kümmern, ob andere mehr oder weniger leiden, ſo urteilt: mein Leiden fällt mir ſchwer ich leide. Einen rechten

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Liebhaber erkennt man ſofort daran, daß er nicht die Begegnung der Verliebtheit, welche Einſamkeit ſucht, beſchmutzt, indem er einen Auflauf verurſacht und eine Schar von Zeugen mit⸗ bringt, die ja immer zur Stelle ſind, ſobald er es ſo verſteht, daß er mehr liebe als andere; nein, ſein redliches und aufrich⸗ tiges Urteil iſt kurz: „Ich liebe.“ Und ſo auch mit dem Bewußt⸗ ſein der Sünde, die ſimple Ausſage iſt die ernſteſte. Aller Ver⸗ gleich iſt weltlich, alles Herausheben iſt weltliches Hangen im Dienſte der Eitelkeit; und ſchlimmer als die eigene Schuld iſt die eigene Gerechtigkeit, und ſchlimmer als die eigene Gerechtig⸗ keit iſt, das Letzte eitel zu nehmen, und im Ernſt der größte Sünder zu werden gerade dadurch, daß man eitel es ſein will. Aber der, welcher allein wird mit dem Bewußtſein der Sünde, er wird wohl, doch nicht vergleichsweiſe, als der größte Sünder ſich fühlen, denn er wird ſich als der Einzelne fühlen und in ſich die weſentliche Größe der Sünde gegenüber dem Heiligen. Iſt es Zerſtreuung, ſich damit entſchuldigen zu wollen, daß andere ſchuldiger ſeien, ſo iſt es auch Zerſtreuung, ſeine Sünde beſtimmen zu wollen durch ihr Verhältnis zur Sünde anderer, welches doch keiner weiß. Wenn du aber faſteſt, mein Zuhörer, ſo ſalbe dein Haupt und waſche dein Angeſicht, dann ſiehſt du weder auf die Zerſtreuung, daß andere ſchuldiger ſind, noch auf die Zerſtreuung, daß andere weniger ſchuldig ſind, und was nicht ein gemeinſames Unternehmen iſt, das tue du auch nicht auf der Gaſſe, ſondern richtig im Verborgenen. Oh, dies iſt viel leichter, nach rechts und links zu ſehen, als in ſich ſelber

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zu ſehen; viel leichter, zu feilſchen und zu handeln wie auch zu unterbieten, als zu ſchweigen aber das Schwierigere iſt doch das eine, das nottut. Schon im täglichen Leben macht jeder die Erfahrung, daß es ſchwieriger iſt, dem Ausgezeichneten gegen⸗ über zu ſtehen, der Majeſtät des Königs, als im Gewimmel unterzugehen, allein zu ſtehen und ſtumm gegenüber dem ſcharfen Kenner, als mitzureden im allgemeinen Geſpräch mit ſeines⸗ gleichen: geſchweige da, allein zu werden vor dem Heiligen und zu ſchweigen. Man ſieht Gott im Großen, im Raſen der Ele⸗ mente und im Gang der Weltgeſchichte, man vergißt rein, was das Kind verſtand, daß, wenn es ſeine Augen ſchließt, es Gott ſieht. Und wenn das Kind ſeine Augen ſchließt und lächelt, ſo wird es ein Engel ach und wenn der Menſch allein wird vor dem Heiligen und ſchweigt ſo wird er ein Sünder! Werde erſt allein, ſo lernſt du die rechte Gottesverehrung, hoch zu denken von Gott und gering von dir ſelber nicht geringer als dein Nachbar, als wäreſt du der Ausgezeichnete, ſondern denke daran, daß du vor Gott biſt nicht geringer als dein Feind, als wäreſt du der Beſſere, denn denke daran, du biſt vor Gott; aber denke gering von dir ſelbſt.

Der, welcher ſo ſeine Sünde bedenkt und wünſcht, in dieſer Stille eine Kunſt zu lernen, die du ja nicht verſchmähſt: Leid zu tragen über ſeine Sünden, der wird auch entdecken, daß das Sün denbekenntnis nicht bloß ein Aufzählen aller einzelnen Sünden iſt, ſondern vor Gott faſſen, daß die Sünde in ſich einen Zuſammenhang hat. Doch wird er hier wiederum auf den

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engen Weg achten, denn der Weg des Einſamen iſt eng und eingeſchloſſen, aber überall ſind blinde Türen, er braucht bloß ein Wort zu ſagen, fo öffnet ſich eine ſolche und der Ge— fangene atmet im Freien, ſo dünkt es ihm einen Augenblick. Wenn er ſo anfängt, von der Allgemeinheit der Sünde zu reden nicht in ihm, ſondern im ganzen Geſchlecht, wenn er nach dieſem Gedanken greift, ſo öffnet ſich die Türe ach und wie leicht atmet er nun, er, deſſen Atemzug ſo ſchwer war; wie leicht wird nicht ſeine Flucht, deſſen Gang ſo mühſelig war; wie leicht wird er nun, er, der ein Arbeitender war denn er iſt ein Betrachter geworden. Und ſeine Betrachtungen wünſchen gewiß manche zu hören. So wird die Sache eine andere, und ſo leicht, ſo ver⸗ ändert, ja ſo verändert, wie der Ernſte unter uns es ſagt, daß die Frage nun die wird, Gott zu rechtfertigen vor der Welt, nicht die Bekümmerung, ſich zu rechtfertigen vor Gott. Im allgemeinen ſeine Sünde zugeben iſt leichter, aber von der ein⸗ zelnen her, die genau und beſtimmt aufgefaßt iſt, peinlich, wie der unparteiiſche Richter ſie ausfertigt, von dieſer einzelnen oder von dieſer einzelnen her einen Zuſammenhang entdecken: das iſt ein ſchwerer Gang und ein gezwungener Gang, aber der ſchwere Gang iſt doch der richtige, und der Zwang von Nutzen. Es gibt eine Eigenſchaft, die viel geprieſen wird und die man ſich doch nicht leicht erwirbt: Aufrichtigkeit. Ich rede nicht von jener liebenswürdigen der Kindheit, die wohl auch bei einem einzelnen Alteren ſich findet, denn ſie anzupreiſen hieße ja durch die Rede dich betrügen, mein Zuhörer. Fände ſie ſich bei dir,

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ſo würde die Rede faſt ſchmeicheln, wenn auch deine Kindlich⸗ keit dich daran hindern würde, ſie ſo aufzufaſſen; und findet ſie ſich nicht, ſo hieße das ja deiner ſpotten. So ſoll die Rede nicht unterſcheiden und ſpielen und die Aufrichtigkeit eine glückliche Gabe in der Wiege ſein laſſen, die nur wenig bekamen; eine ſolche Rede gehört dorthin, wo das Glück die Menſchen ſcheidet, nicht wo das Gottes verhältnis die Gleichheit vor Gott aufrecht erhalten will: nein, Aufrichtigkeit iſt eine Pflicht, und jeder ſoll ſie haben. In viel Zerſtreuung iſt es nun ſchwer, ſie zu erwerben. Ich meine juſt nicht, daß ein Menſch deshalb auf der Stelle ein Lügner iſt, aber er bekommt nicht die Zeit und nicht die Sammlung, ſich ſelber zu verſtehen. Denn, iſt es nicht ſo? Jetzt wünſcht ein Menſch etwas, recht innerlich, wie er meint, doch iſt vieles vorgegangen, ehe die Erfüllung kam, oder ſie kommt überhaupt nicht, und er hat ſich verändert. Wohl möglich, daß er weiſer geworden iſt, aber ſeiner Weisheit mangelt doch eines, ein beſtimmter Eindruck davon, daß er jenes einmal gewünſcht hat, und nicht bloß ein märchenhafter Bericht darüber, daß er vor einer ganzen Reihe von Jahren das wünſchte, aber jetzt nicht mehr. Es wird verlangt, daß die beiden Zuſtände, wenn ſie ſchön und einträchtig in der Einheit derſelben Seele ſich vergleichen ſollen, eine kleine Zuſammen⸗ kunft hätten, bei der ſie ſich einander verſtändlich machten. Die Weisheit iſt vielleicht ganz in Ordnung, aber dem Weiſen mangelt doch ein wenig Kummer über ihn ſelber. Jetzt be⸗ ſchließt ein Menſch beſtimmt etwas, aber die Zeit feilſcht, und

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er verändert ſich, und es bleibt bei dem Stückwerk. Vielleicht war der Beſchluß wirklich zu hochfliegend im Verhältnis zu ſeinen Kräften; gut, aber hier fehlt doch ein wenig, ein wenig Betrübnis, ein wenig Klarheit, ob es die Zeit war, die ihm den Schein der Weisheit gegeben hatte, oder ob er wirklich weiſer geworden war. Und nun Schuld und Irren und Sünde! Ach, wie viele ſind da wohl, die nach Jahren oder Tagen mit Be⸗ ſtimmtheit wiſſen, was ſie wünſchten, was ſie beſchloſſen, was ſie ſich vorwarfen, was ſie verbrachen! Und Gott kann doch wohl Aufrichtigkeit fordern von einem Menſchen. Wieviel ſchwieriger wird nun dieſe! Denn ein Menſch kann wirklich be⸗ ſtrebt ſein, in Aufrichtigkeit ſich ſelbſt mehr und mehr durch⸗ ſichtig zu werden, aber dürfte er wohl einem Herzenskenner dieſe Klarheit anbieten als etwas Zuverläſſiges zwiſchen ſich und Ihm! Oh, weit entfernt! Selbſt der, welcher redlich ſtrebt in ſich ſelbſt, ſelbſt er, und er vielleicht am meiſten wird immer eine Zwiſchenrechnung haben, die abſchließen zu können er ſich nicht vertröſtet, als hätte er nicht wirklich zuweilen im einzelnen größere oder vielleicht auch geringere Schuld, als er wußte. Und ſo iſt es wohl auch am beſten. Man hat doch nur einen Gott, kommt man nicht aus mit Ihm, zu wem ſoll man dann gehen. Sieh hier die Notwendigkeit, von der einzelnen Sünde und dem einzelnen Irren her zu verſtehen, daß da ein Zu⸗ ſammenhang iſt, ein unergründlicher Zuſammenhang. Will einer zu dir ſagen, mein Zuhörer, daß es auf dieſe Weiſe nichts helfe, Aufrichtigkeit erwerben zu wollen, da doch ſelbſt der,

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welcher am redlichſten ſtrebt, allzeit | ſich ſelbſt etwas unklar bleibt, dann tu du, gleich wie der Redende, ſei wie der, welcher es überhaupt nicht gehört hatte. Wohl iſt der Redende kein Schnelläufer, aber wahrlich er wird ſich auch nicht aufhalten laſſen von Feigheit oder von einer feigen Mißgunſt, die die Gleichheit im Mittelmäßigen haben will, und die Feurigkeit des Geiſtes in Schläfrigkeit, und die Begeiſterung, die ohne Lohn dient, in die Gemeinſchaft ſchlechten Gewinns verwandelt haben will. Daß ſie da iſt, dieſe Erbärmlichkeit, die nichts Beſſeres ertragen kann als dieſe hämiſche Freundſchaft, die aufhalten will, das weißt du, mein Zuhörer, aber ſtreite nicht mit ihr; hier iſt auch nicht der Ort, wo du ſtreiten ſollſt; ſchon mit ihr zu ſtreiten iſt ein Sieg für ſie. Oh, ſuche lieber die Vergeſſenheit des Schweigens, in ihr bekommſt du ganz andere Dinge zu wiſſen über die eigene Schuld!

So iſt Aufrichtigkeit ſchwer; es iſt leichter, ſich im Gewimmel der Menſchen zu verſtecken und ſeine Schuld zu ertränken in der des Geſchlechts, leichter ſich vor ſich ſelber zu verſtecken als offenbar zu werden vor Gott in Aufrichtigkeit. Denn, wie ge⸗ ſagt, dieſe Aufrichtigkeit iſt wohl nicht ein fortwährendes Auf⸗ zählen, aber ſie iſt auch nicht die Unterſchrift eines Namens auf einem Stück weißen Papiers, das namentliche Zugeſtehen einer leeren Allgemeinheit; und ein Beichtender iſt nicht einer, der ſich haſtig eee im ungeheuren Schuldbuch des Geſchlechts.

Aber ohne Aufrichtigkeit keine Reue. Denn der Reue ekelt

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vor der leeren Allgemeinheit, aber ſie iſt auch nicht ein klein⸗ licher Rechenmeiſter im Dienſt eines Kleinmütigen, ſondern ein ernſter Beobachter vor Gott. Eine inhaltsloſe Allgemeinheit bereuen iſt ein Widerſpruch, wie der, die tiefſte Leidenſchaft zu einer Oberflächlichkeit als Gaſt zu entbieten, aber mit der Reue ſich feſtbeißen in eine Einzelheit heißt auf eigene Ver⸗ antwortlichkeit bereuen, nicht vor Gott, und den Vorſatz ab⸗ matten iſt Eigenliebe in Schwermut. Oh, als ob es ſo leicht wäre zu bereuen: lieben und ſeine Erbärmlichkeit tiefer und tiefer fühlen, lieben, während man die Strafe erleidet, lieben und doch die Strafe nicht zu einem Geſchick umfälſchen wollen, lieben und doch nicht im geheimen Bitterkeit verſtecken, als litte man Unrecht, lieben und es doch nicht laſſen wollen, hin⸗ zuſuchen zu dem heiligen Urſprung dieſes Schmerzes!

So weiß der, welcher ſeine Sünde bedenkt, auch, daß es Unterſchiede gibt in den Sünden. Das weiß er ja von ſeiner Kinderlehre, und dies bedenkt ein jeder am beſten ſelber. Es iſt wohl auch in der Welt vorgekommen, daß man durch eine Rede, die mit den Farben des Entſetzens die Sünde im allge⸗ meinen ſchilderte, ein entſetzliches Verhältnis zu einer einzelnen Sünde wiedererkannte. Aber religiöſe Ausſchweifungen ſind doch die furchtbarſten. Eine ſolche Rede hat vielleicht die Reineren erſchreckt, hat eine Angſt geboren in der Seele eines Unſchuldigeren, eine Angſt, die darinnen blieb. Wozu auch eines Redners Schreck; nur mit ſich ſelbſt verſteht doch ein Menſch, daß er ſchuldig iſt. Der, welcher es fo nicht verſteht, mißverſteht

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doch; und der, welcher es verſteht, er wird wohl auch die ſchwere oder die mildere oder die raſch zu vorkommende Erklärung fin⸗ den, ganz wie er ſie verdient hat. Aber abſcheulich iſt es ja doch, wenn einer, weil er ſelber die ſchwere Strafe der furcht⸗ bareren Sünde tragen mußte, daraus Vorteil zu neuer Sünde ziehen wollte: ſchrecken zu können. Ach, der Ablaß des Leicht⸗ ſinns iſt wohl eine neue Sünde, aber die gottloſe Auferlegung dunkler Leidenſchaften iſt auch eine neue Sünde! Und du, mein Zuhörer, du weißt, daß der Ernſt iſt, allein zu werden vor dem Heiligen, ob es nun ſo iſt, daß der Beifall der Welt draußen bleiben ſoll, oder ſo, daß die Anklagen der Welt verſchwinden ſollen; denn ob wohl jene Sünderin die Schuld tiefer fühlte, als die Schriftgelehrten ſie anklagten, denn als da kein An⸗ kläger mehr war, und ſie allein ſtand vor dem Herrn! Aber du weißt auch, daß der am gefährlichſten betrogen iſt, der von ſich ſelber betrogen wird, daß deſſen Zuſtand am bedenklichſten iſt, der betrogen wird vom vielen Wiſſen, weiter, daß es eine traurige Schwachheit iſt, ſeinen Troſt im Leichtſinn eines anderen zu haben, aber auch eine traurige Schwachheit, ſeinen Schrecken aus der Schwermut eines anderen zu ziehen. Laß Gott darüber allein entſcheiden, Er weiß doch am beſten alles einzu⸗ richten für den, der allein wird dadurch, daß er Ihn ſucht.

Und hier iſt der Ort dazu, mein Zuhörer, du weißt, wo, und hier iſt die Gelegenheit, mein Zuhörer, du weißt, wie, und hier iſt der Augenblick, der da heißt: heute noch.

Hier endet dieſe Rede im Bekenntnis der Sünden. Aber

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kann das auch ein Ende ſein: ſoll nun die Freude hier nicht ſiegen; ſoll die Sünde nur gehen mit dem Leide; ſoll die Seele hier beklemmt ſitzen, aber die Harfe der Freude nicht geſtimmt werden? Du pflegſt vielleicht mehr zu wiſſen zu bekommen, du weißt wohl ſelbſt viel mehr, ſo ſuche denn den Fehler bei der Rede und dem Redenden. Biſt du wirklich weiter, fo laß dich nicht aufhalten; aber wenn nicht, oh, ſo bedenke, daß man furcht⸗ bar betrogen iſt, wenn man betrogen wird vom vielen Wiſſen. Laß uns einen Steuermann uns denken und annehmen, daß er mit Auszeichnung alle Prüfungen beſtanden habe, aber daß er doch noch nie draußen geweſen war denk ihn dir in einem Sturm: er weiß alles, was er zu tun hat, aber er kannte nicht den Schrecken, der den Seefahrer ergreift, wenn die Sterne ausbleiben in der Finſternis der Nacht; er kannte ſie nicht, die Ohnmacht, mit der der Steuermann ſieht, daß das Rohr in ſeiner Hand ein Spielzeug iſt für das Meer; er wußte nicht, wie das Blut zum Kopfe ſtürmt, wenn man in einem ſolchen Augenblick Berechnungen anſtellen ſoll: kurz, er hatte keine Vorſtellung von der Veränderung, die mit dem Wiſſenden vor⸗ geht, wenn er ſein Wiſſen gebrauchen ſoll. Was ruhiges Wetter iſt für den Seemann, das iſt für den einzelnen Menſchen: hinzu⸗ leben in ebener Fahrt mit den anderen und mit dem Geſchlecht, aber die Entſcheidung, der gefahrvolle Augenblick des Be⸗ ſinnens, wenn er ſich herausnehmen ſoll aus der Umgebung und allein werden vor Gott und ein Sünder werden, das iſt eine Stille, die das Gewohnte verändert gleichwie der Sturm.

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Er weiß das alles, weiß, was ihm paſſieren ſoll, aber er wußte nicht, welche Angſt ihn da ergreife, wenn er ſich verlaſſen fühlte von dem Mannigfaltigen, worin er ſeine Seele hatte; er wußte nicht, wie das Herz klopft, wenn die Hilfe von anderen und die Anleitung von anderen und der Maßſtab von anderen und die Zerſtreuung durch andere verſchwinden in der Stille; er wußte nichts von dem Grauen, wenn es zu ſpät iſt, um menſchliche Hilfe zu rufen, da keiner ihn hören kann: kurz, er hatte keine Vorſtellung davon, wie der Wiſſende verändert wird, wenn er ſein Wiſſen ſich aneignen ſoll. Sollte dies viel⸗ leicht auch dein Fall ſein, mein Zuhörer? Ich richte ja nicht, ich frage dich nur. Ach, während derer immer mehr und mehr werden, die ſo ſehr viel wiſſen, werden die ganz befahrenen Männer ſeltener und ſeltener! Aber ein ſolcher zu werden, das war's ja, was du einmal wünſchteſt. Du haſt nicht vergeſſen, was wir von der Aufrichtigkeit gegen ſich ſelbſt ſagten: daß man deutlich ſich daran erinnert, was man einmal werden wollte; und ſelber biſt du ja darauf bedacht, aufrichtig ſein zu wollen vor Gott im Bekenntnis der Sünden. Was war's alſo, das du wollteſt? Du wollteſt nach dem Höchſten ſtreben, die Wahrheit zu faſſen und zu ſein in ihr; du wollteſt weder Zeit noch Fleiß ſparen; du wollteſt allem entſagen, darunter doch wohl auch jedem Betrug. Wenn du auch das Höchſte nicht er⸗ griffeſt, du wollteſt dich doch ſichern, damit du deutlich mit dir ſelber wußteſt, wie weit du bis jetzt gekommen warſt, es zu erreichen. Ob dieſes auch noch ſo wenig war, du wollteſt doch

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lieber treu ſein über wenigem als untreu über vielem; ob es ein einziger Gedanke war, und du der Arme wardſt unter den Reichen, die alles wiſſen, du wollteſt doch lieber treu ſein wie Gold und das kann ja jeder, wenn er es will, denn das Gold, das gehört dem Reichen, aber treu wie Gold kann der Arme auch ſein. Und der, welcher treu war über wenigem, treu am Tage der Not, wenn die Rechnung abgeſchloſſen wird, treu im Verſtändnis ſeiner Schuld, treu in der Stille, wo kein Lohn winkt, ſondern die Schuld deutlich wird, treu in der Aufrich⸗ tigkeit, die alles bekennt, ſogar, daß dieſe Aufrichtigkeit doch mangelvoll iſt, treu in der Liebe der Reue, jener demütigen Liebe, deren Forderung die Selbſtanklage iſt: er ſoll wohl noch über mehr geſetzt werden.

War! nicht das, was du wollteſt? Denn darüber, mein Zu⸗ hörer, ſind wir doch gewiß einig: daß im Verhältnis zum Weſentlichen das Können weſentlich das Tun⸗können iſt. Das Kind verſteht es anders, und wenn der Kleine an ſeiner Aufgabe lernt und nun vielleicht zu der erwachſenen Schweſter ſagt, ſie ſolle ihn überhören, ſie aber anderes zu tun hat und ihm antwortet: „Nein, mein lieber Bub, jetzt habe ich keine Zeit, aber lies die Aufgabe fünfmal durch, oder lies ſie lieber zehn⸗ mal und ſchlaf dann darüber, ſo kannſt du es morgen ausge⸗ zeichnet,“ ſo glaubt es das Kind, tut, wie ihm geſagt wurde, und kann es ausgezeichnet am nächſten Tag. Aber der Reifere lernt auf eine andere Weiſe. Und wenn auch einer die Heilige Schrift hernehmen und ſie auswendig lernen wollte, ſo könnte

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das wohl ſchön ſein, inſofern da etwas Kindliches in ſeinem Vorhaben war, aber weſentlich lernt der Altere nur durch die Aneignung, und weſentlich eignet er ſich das Weſentliche nur dadurch an, daß er es tut. Oh, mitten in aller Not ſchöne Freude über das Leben und über das Geſchlecht und darüber, ſelber ein Menſch zu ſein; oh, unter der Stille ſchöne Eintracht mit jedem! Oh, in der Einſamkeit ſchöne Gemeinſchaft mit allen! Denn es iſt nicht ſo, daß der eine Menſch nicht dasſelbe Weſent⸗ liche zur Aufgabe hat, wie der andere Menſch, ſo wenig wie das Außere eines Menſchen weſentlich verſchieden iſt von dem des anderen, ſondern es iſt ſo, daß jeder es ein wenig ver⸗ ſchieden und auf ſeine Weiſe verſteht. Und es iſt nicht ſo wie in der Verwirrung, daß es verſchiedene Wege gibt und ver⸗ ſchiedene Wahrheiten und neue Wahrheiten, ſondern es iſt ſo, daß es viele Wege gibt, die zu der einen Wahrheit führen, und jeder geht den ſeinen. Daher die Eigentümlichkeit, wenn das Weſentliche das Eigentum des Einzelnen wird, und dieſe Eigen⸗ tümlichkeit iſt dadurch bedingt, daß man es tut, wodurch ſie entdeckt wird. Sollte dieſe Rede trennend und ſtreitſüchtig ſein? Ganz ferne ſei ihr, von jener Eigentümlichkeit zu ſprechen, über die in der Welt geſtritten wird, gleichwie über andere Gaben des Glücks; nein, jeder, der etwas Weſentliches beſitzt dadurch, daß er es getan hat er hat Eigentum und Eigentümlichkeit. Und ſo, um des Gegenſtandes der Rede zu gedenken: jene Stille ver ſtehen iſt ſo viel wie ſtill werden können. Und wo ſoll man es werden? Ja, hier iſt der Ort dazu, aber doch nicht äußerlich

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und geradezu, denn bringt man die Stille nicht mit, ſo nützt der Ort nichts. Alſo, da iſt in einem gewiſſen Sinne kein Ort; oh, dieſes: in einem gewiſſen Sinn, ſchafft es nicht ſchon Un⸗ ruhe! Und wann braucht man dieſe Stille am meiſten? Wenn man am ſtärkſten bewegt iſt. Iſt dieſer Gedanke nicht imſtand, die Stille wegzujagen? Wo flieht man dann hin, um ſich ſelber zu entfliehen? Ja, will man fliehen, ſo entflieht man gerade der Stille. So iſt da nichts zu tun. Ja, will man gar nichts tun, ſo entflieht man wieder der Stille in die Stille des geiſtigen Todes. Oh, als ob das ſo leicht wäre, ſtill werden zu können! Nun lockt eine Sicherheit, weil ja noch genug Zeit iſt, nun eine Ungeduld, weil es zu ſpät iſt, nun eine winkende Hoffnung, nun eine verweilende Erinnerung, nun ein ſtürmen⸗ der Entſchluß, nun ein Echo des Urteils der Welt, das ſpottend dich einholt, als gingeſt du auf dem Weg dieſer Stille zur Wüſte des Betrugs, wo der Einſame umkommt; nun ein Echo vom Selbſtiſchen in dir, das ſtört durch Selbſtbewunderung; nun ein Vergleich, der zerſtreut; nun ein Überſchlag, der zer⸗ ſtreut; nun ein wenig Vergeßlichkeit mit Hilfe von Gedanken⸗ loſigkeit; nun etwas Vorſchuß mit Hilfe von Selbſtzuverſicht; nun eine abenteuerliche Vorſtellung von Gottes Unendlichkeit; nun Verſtimmtheit und Gedrücktheit dadurch, daß man dem Allwiſſenden anvertrauen ſoll, was Er doch weiß; nun ein leicht⸗ ſinniger Sprung, der nichts nützt; nun ein ſchwermütiger Seufzer, der die Schwermut nährt; nun etwas Wehmut, die betäubt; nun eine Klarheit, die überraſcht; nun eine Stille

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durch Pläne und Gedanken und geträumte Vorſätze und Phan⸗ taſiebilder anſtatt durch Schuld und Rechenſchaft und den Pakt des Vorſatzes mit der deutlichen Schuld und dem allwiſſenden Gott. Oh, als ob es ſo leicht wäre, ſtille zu werden! Ganz nahe dabei geweſen ſein und doch nach einer Truggeſtalt gegriffen haben und wieder anfangen ſollen und alſo mit noch mehr Unruhe! Troſt gefunden haben bei einem anderen und nun ent⸗ decken, daß es ein Selbſtbetrug war, eine gefälſchte Stille, und alſo wieder anfangen ſollen mit noch mehr Unruhe! Geſtört worden ſein von der Welt, von einem Feind, von einem Freund, von einem falſchen Lehrer, von einem Heuchler, einem Spötter, und nun entdecken, daß dies ein Selbſtbetrug iſt, die Schuld auf einen anderen ſchieben zu wollen, und alſo wieder anfangen ſollen mit noch mehr Unruhe! Geſtritten haben, aus äußerſten Kräften wollen, und dann entdecken, daß man nichts vermag, daß man doch nicht ſelbſt dieſe Stille ſich geben kann, weil ſie Gott gehört! Will einer ſagen, daß dies der rechte Ausdruck ſei, daß man es nicht kann, ſo ſehe man wohl nach, ob es nicht die Schläfrigkeit iſt, die hier redet. Wohl iſt es nämlich wahr, ja ſelbſt ein Apoſtel zeugt ja davon, aber ob dieſes Zeugnis ein bloßer Einfall war, eine allgemeine Bemerkung in der Eile! oder war es nicht ſo ſchwer zu verſtehen, dieſes menſchliche Nichtsſein und ſein Bewußtſeinsleben darin zu haben, daß ſelbſt er, der Bevollmächtigte, der für ewig Entſchloſſene nicht allein damit war, ſondern einen Mithelfer brauchte, einen Engel Satans nämlich, der mit täglichen Erfahrungen und mit täg⸗

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lichem Leiden ihm heraushalf aus dem Sinnesbetrug, daß er nicht ſeine Weisheit habe im auswendig Gelernten, ſeinen Frieden in allgemeinen Verſicherungen, ſeine Zuverſicht zu Gott in einer Redensart. Oder hatte jemand den Apoſtel dies gelehrt, ſo daß er es nachſagen konnte? Man hat wohl früher ſchon in der Welt gehört, daß der Weiſe einen Engel hatte, der ihn führte oder warnte; hätte Paulus davon geredet, ſo könnte das auswendig gelernt ſein, aber daß der Weiſe einen Engel Satans braucht, das zu lernen hat gewiß lange Zeit gekoſtet.

Doch ſoll die Rede nicht trennend und ſtreitſüchtig ſein. Was Gott verlangt von einem jeden, das bleibt wohl am beſten Gott überlaſſen. Und wenn der Arme oder der, welcher mühſelig arbeitet um ein kümmerliches Auskommen für ſich und die Seinen, und wenn der Dienende, deſſen meiſte Zeit einem anderen gehört, wenn dieſe, ach, wie es vielleicht ihnen ſelbſt vorkommt, nur nach karger Gelegenheit die Anliegen der Seele bedenken können, wer möchte zweifeln, wer wäre frech und ver⸗ meſſen genug, anſtatt Mitgefühl mit dieſer Verſchiedenheit des menſchlichen Lebens zu haben, dieſe ſogar in das Göttliche ein⸗ führen zu wollen: wer dürfte leugnen, daß der Segen Überfluß iſt, wie aller Segen Gottes! Aber, mein Zuhörer, wenn einer, ergriffen von jener vornehmen Krankheit, Ekel fände am Daſein, in geiſtiger Wichtigtuerei das Einfache verſchmähte und Furcht hätte, daß da nicht Aufgaben genug bleiben ſollten für ſeine vielen Gedanken, glaubſt du da nicht, daß dies das Wun⸗

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

derbare der Wahrheit iſt, daß der Einfältige ſie verſteht und doch der Weiſeſte ſie nicht ganz ergründet, und nicht ſchläfrig und matt wird durch dieſen Gedanken, ſondern gerade begeiſtert. Oh, darin ſind wir wieder einig, denn auch dieſes wird ver⸗ ſtanden in der Stille, wo jeder genug darüber zu denken be⸗ kommt, dadurch, daß er ſchuldig wird.

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An einem Grab

So iſt es denn vorbei! Und wenn nun der, welcher hier zuerſt hintrat ans Grab, weil er der Nächſte iſt, wenn er nach der Rede kurzem Augenblick am Grab der Letzte geblieben iſt, ach, weil er der Mächſte iſt: ſo iſt es vorbei. Ob er hier außen bliebe, er erfährt doch nicht, was der Tote ſich vornimmt, denn der Tote iſt ein ſtiller Mann; ob er bekümmert ſeinen Namen riefe, ob er ſorgend ſitzen wollte und lauſchen, er erfährt doch nichts, denn im Grab iſt Schweigen, und der Tote iſt ein ſtiller Mann, und ob er erinnernd jeden Tag an das Grab ginge, der Tote erinnert ſich nicht ſeiner denn im Grabe iſt keine Er⸗ innerung, nicht einmal an Gott. Siehe, das wußte der Mann, von dem man nun ſagen muß, daß er an nichts mehr ſich er⸗ innert, dem dies zu ſagen es jetzt zu ſpät wäre. Aber wie er es wußte, ſo tat er auch danach, und darum erinnerte er ſich Gottes, während er lebte. Sein Leben ging hin in ehr⸗ barer Unbemerktheit, nicht viele wußten von ſeinem Daſein, nur Einzelne unter den wenigen kannten ihn. Er war ein Bürger dieſer Stadt, ſtrebſam in ſeinem beſcheidenen Werk, verwirrte er niemand dadurch, daß er ſeine Pflichten gegen die Gemeinde verſäumte, verwirrte niemand durch unzeitige Be⸗

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Sören Kierkegaard Religidöfe Reden

kümmerung um das Ganze. So ging Jahr über Jahr hin, einförmig, doch nicht leer; er ward Mann, er ward alt, er ward betagt: die Arbeit blieb ein und dieſelbe, ein und dieſelbe Be⸗ ſchäftigung in den verſchiedenen Lebensaltern. Er hinterläßt eine Frau, froh einſt, als ſie mit ihm ſich vereinte, nun eine alte Frau, die den Verlorenen beweint, eine rechte Witwe, die verlaſſen ihre Hoffnung auf Gott ſetzt. Er hinterläßt einen Sohn, der ihn lieben lernte und zufrieden zu ſein mit der Stellung und der Arbeit des Vaters; einmal froh als Kind im Hauſe des Vaters, fand er es als Jüngling niemals zu eng, nun iſt es ihm ein Sorgenhaus. Nach dem Tod eines ſolchen unbemerkten Mannes fragt man nicht weit, und wenn Einer in geraumer Zeit vorbeigeht an dem Haus, wo er in Niedrigkeit wohnte, und ſeinen Namen lieſt über der Türe, weil das bür⸗ gerliche Geſchäft unter ſeinem Namen fortgeſetzt wird, ſo iſt es ja, als wäre er nicht geſtorben. Wie er mild und in Frieden einſchlief, ſo iſt auch in ſeiner Umwelt ſein Tod ein Fortgang in Stille. Brav als Bürger, redlich in ſeinem Erwerb, ſpar⸗ ſam in ſeinem Haus, wohltätig nach Kräften, teilnehmend in | Aufrichtigkeit, ſeinem Weibe treu, feinem Sohn ein Vater: ſieh, all dies, und die Wahrheit, mit der das hier geſagt werden kann, ſpannt nicht die Erwartung auf einen bedeutungsvollen Ausgang, hier iſt es das Unternehmen eines ganzen Lebens, für das ein ruhiger Tod der ſchöne Ausgang wurde. Doch hatte er noch ein Werk; es wurde ausgeführt mit derſelben Treue in der Einfalt des Herzens: er erinnerte ſich Gottes.

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An einem Gr a b

Er war Mann, alt, er ward betagt, fo ſtarb er, aber die Er- innerung an Gott blieb dieſelbe, eine Wegleitung in all ſeinem Vorhaben, eine ſtille Freude in der frommen Betrachtung. Ja, wäre da auch keiner, der ihn im Tode vermißte, ja, wäre er jetzt nicht bei Gott, ſo würde Gott ihn vermiſſen im Leben und ſeine Wohnung kennen und ihn dort ſuchen, denn der Ver⸗ ſtorbene wandelte vor Seinem Antlitz und war beſſer gekannt von Ihm als von irgendeinem andern. Er erinnerte ſich Gottes, und er ward tüchtig in ſeiner Arbeit, er erinnerte ſich Gottes und ward froh in ſeiner Arbeit und froh im Leben, er erinnerte ſich Gottes und er ward glücklich in ſeinem beſcheidenen Heim mit ſeinen Lieben, er verwirrte keinen durch Gleichgültigkeit gegen einen öffentlichen Gottes dienſt, er verwirrte keinen durch unziemlichen Eifer, aber das Haus Gottes ward ihm ein zweites Heim nun iſt er heimgekehrt.

Aber im Grabe iſt keine Erinnerung darum bleibt ſie zurück, ſie bleibt bei den beiden, die ihm lieb waren im Leben: ſie werden ſich ſeiner erinnern. Und wenn nun der, welcher hier zuerſt hintrat ans Grab, weil er der Nächſte iſt, nach der Rede kurzem Augenblick am Grab der Letzte geblieben iſt, weil er ja der Mächſte iſt, wenn er erinnernd von hier weggeht, fo geht er heim zu der trauernden Witwe! und der Name über der Türe wird zu einer Erinnerung. So wird in einiger Zeit hie und da ein Kunde kommen, der zufällig oder mehr teilnehmend nach dem Manne fragt: und wenn er von ſeinem Tode hört, wird der Kunde ſagen: ſo, er iſt geſtorben. Und wenn ſo alle

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die alten Kunden das einmal getan haben, ſo hat das Leben der Umwelt kein Mittel mehr, um die Erinnerung an ihn zu bewahren. Aber die alte Witwe wird keine Mahnung brauchen, um zu erinnern, und der ſtrebende Sohn wird keine Verzögerung darin finden, zu erinnern. Und wenn ſo keiner mehr nach ihm fragt, wird doch der Name über der Türe, wenn das Haus nicht ſichtbar ein Sorgenhaus iſt, wenn auch im Hauſe das Leid gemildert iſt und das tägliche Entbehren mit dem Troſt die Erinnerung eingeübt hat: ſo wird der Name über der Türe für die beiden bedeuten, daß auch ſie ein Werk mehr zu tun haben: ſich zu erinnern des Verſtorbenen.

Nun iſt die Rede zu Ende. Nur eine Handlung bleibt zurück: mit drei Spaten Erde den Toten zu weihen, wie alles, was von Erde gekommen iſt, wieder zu Erde und nun iſt es vorbei.

*

Die Rede ohne Vollmacht kann nicht in ſolcher Weiſe Ernſt machen, kein Toter wartet auf ſie, damit alles vorbei ſein kann. Aber deshalb kann einer doch auf die Rede achten. Denn der Tod ſelber hat ſeinen Ernſt; das Ernſte liegt nicht in der Be⸗ gebenheit, nicht im Außeren: daß nun wieder ein Menſch tot iſt, ſo wenig wie der Unterſchied des Ernſtes darin liegt, daß es viele Wagen gab, ja ſo wenig wie jene milde Stimmung, die nur gut von den Toten reden will, Ernſt iſt oder auch nur im entfernteſten jenen zufrieden ſtellen könnte, der ernſtlich ſeinen eigenen Tod bedenkt. Der Tod gerade kann lehren, daß der

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Un einem Grab

Ernſt im Inneren liegt, im Gedanken, kann lehren, daß es nur ein Sinnesbetrug iſt, wenn leichtſinnig oder ſchwermütig auf das Außere geſehen wird, oder wenn der Betrachter tief— ſinnig über dem Gedanken des Todes an ſeinen eigenen Tod zu denken und ihn zu bedenken vergißt. Will man recht einen Gegenſtand für den Ernſt nennen, dann nennt man den Tod, und „des Todes ernſten Gedanken“; und doch iſt es, als läge hier ein Scherz zugrunde für den Tod, und dieſer Scherz, ver⸗ ſchieden in Stimmung und Ausdruck iſt das Weſentliche bei jeder Betrachtung des Todes, wo der Betrachter nicht ſelbſt unter vier Augen mit dem Tode bleibt und ſich ſelbſt zu⸗ ſammendenkt mit ihm. Ein Heide hat geſagt, daß man den Tod nicht fürchten ſolle, „denn wenn er iſt, bin ich nicht, und ö wenn ich bin, iſt er nicht.“ Das iſt ein Scherz, mit dem der liſtige Betrachter ſich außerhalb ſtellt; aber ſelbſt wenn der Betrachter die Bilder des Grauens gebrauchte, um den Tod zu ſchildern, und eine kranke Einbildung erſchreckte, das iſt doch nur Scherz, wenn er bloß den Tod denkt, nicht ſich ſelbſt im Tode, wenn er ihn denkt als das Los des Geſchlechts, aber nicht als das ſeine. Der Scherz iſt, daß jene unerbittliche Macht gleichſam nicht Hand anlegen kann an ihre Beute; daß ein Widerſpruch bleibt; daß der Tod gleichſam ſich ſelber zum Narren hält. Denn die Sorge, wenn einer mit ihr den Tod ver⸗ gleichen will und wenn er ſie einen Bogenſchützen nennen will, wie der Tod einer iſt: die Sorge trifft nicht fehl, denn ſie trifft den Lebenden, und wenn ſie ihn getroffen hat, dann erſt beginnt

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die Sorge: aber wenn des Todes Pfeil getroffen hat, dann iſt es vorbei. Und die Krankheit, wenn einer mit ihr den Tod vergleichen will und wenn er ſie eine Schlinge nennen will, wie der Tod eine Schlinge iſt, in der das Leben ſich fängt: die Krankheit fängt wirklich, und wenn ſie den Geſunden gefangen hat, dann beginnt die Krankheit: aber wenn der Tod die Schlinge zuſammenzieht, ſo hat er ja nichts gefangen, denn dann iſt es vorbei. Doch hier liegt der Ernſt, und hierin iſt der Ernſt des Todes verſchieden von dem des Lebens, der ſo leicht einer Menſchen ſich ſelber betrügen läßt. Denn wenn einer ſeinen Gang geht, gebeugt in Unglück, in Leiden, in Krankheit, in Verkennung, in Dürftigkeit, mit kümmerlichen Ausſichten, da ſchließt er fehl, wenn er geradeswegs ſchließt, daß er ernſt ſei; denn Ernſt iſt nicht die einfache Wiederholung, ſondern die veredelte —, hier iſt er wieder das Innere und der Gedanke und die Aneignung. Oder wenn einer geſchäftig iſt in weit⸗ läufigen Unternehmungen, vielleicht über Viele zu gebieten hat, vielleicht viele Bücher ſchreibt, vielleicht hohe Stellungen be⸗ kleidet, wenn einer vielleicht viele Kinder hat, oder oft mit dabei ſein muß in Lebensgefahr, oder den ernſten Beruf hat, Leichen einzukleiden, ſo ſchließt er fehl, wenn er daraus ohne weiteres ſchließt, daß er ernſt ſei, denn der Ernſt iſt im Eindruck, der Ernſt gehört dem inneren Menſchen, nicht dem Beruf. Der Tod dagegen iſt nicht in jenem Sinn eine Wirklichkeit, und wenn man erſt tot iſt, iſt es zu ſpät mit dem Ernſtwerden; und wenn man einen ſanften Tod fände, was eine ernſtere Zeit

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als das größte Unglück betrachtete, weshalb auch das alte Gebet davon ſpricht, was aber eine neuere Zeit für das größte Glück anſieht —, ſo wäre einem ja geholfen. Des Lebens Ernſt iſt ernſt, und doch gibt es ohne die Veredelung der Bewußtheit keinen Ernſt des Außeren, hier liegt die Möglichkeit der Täu⸗ ſchung; der Ernſt des Todes iſt ohne Betrug, denn es iſt nicht der Tod, der ernſt iſt, ſondern der Gedanke an den Tod. Wenn einer deshalb den Gedanken feſthalten will und nicht auf andere Weiſe ſich um die Betrachtung kümmert als indem er an ſich ſelber denkt, ſo ſoll auch die unmündige Rede durch ihn eine ernſte Sache werden. Sich ſelbſt tot denken iſt der Ernſt; Zeuge fein bei eines andern Tod iſt Stimmung. Es iſt der leichte Anſtrich von Wehmut, wenn der Vorübergehende ein Vater iſt, der ſein Kind zum letzten Male trägt, da er es zum Grabe trägt; oder wenn der ärmliche Leichenwagen vor⸗ überfährt, und man nichts weiß vom Toten, nur daß er ein Menſch war; es iſt Wehmut, wenn Jugend und Geſundheit des Todes Beute werden, wenn viele Jahre danach das Bild der Schönheit auf der verfallenen Erinnerungstafel ſteht über dem Grab, umwachſen von Unkraut; es iſt Ernſt in der Stim⸗ mung, wenn der Tod hineingriff in die eiteln Geſchäfte und nach dem Toren griff, angetan mit dem eitelſten Prunk, nach dem Toren in ſeinem eitelſten Augenblick; es iſt der Seufzer über des Lebens Spott, wenn der Tote das gewiſſe Verſprechen gegeben hatte und ohne Schuld zum Betrüger ward, weil er bloß vergeſſen hatte, daß der Tod das einzige Gewiſſe iſt; es

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iſt Sehnſucht nach dem Ewigen, wenn der Tod nahm und wieder nahm und nun den letzten Ausgezeichneten nahm, den du kannteſt; es iſt einer Seelenkrankheit Fieberhitze oder ihr kalter Brand, wenn einer ſo vertraulich ward mit dem Tod und mit dem Verluſt der Mächſten, daß das Leben ihm den Geiſt ver⸗ zehrte; es iſt das reine Leid, wenn der Tote dir gehörte; es ſind der unſterblichen Hoffnung Geburtswehen, wenn es deine Ge⸗ liebte war; es iſt des Ernſtes erſchütternder Durchbruch, wenn es dein einziger Führer war und die Einſamkeit dich packte: aber, ob es dein Kind war, ob deine Geliebte, und ob es dein einziger Führer war, es iſt doch Stimmung; und ob du gerne ſelbſt in den Tod gehen wollteſt für ſie, auch das iſt Stimmung; und ob du meinſt, daß das leichter ſei, ſiehe, auch das iſt Stim⸗ mung. Der Ernſt iſt, daß einer den Tod denkt, ihn als ſein eigenes Los denkt, und daß er ſo fertig bringt, was ja der Tod nicht vermag: daß er iſt und der Tod auch iſt. Denn der Tod iſt der Lehrmeiſter des Ernſtes, und daran erkennt man ſeine ernſte Unterweiſung, daß er es dem Einzelnen überläßt, ſich ſelber aufzuſuchen, um eben dann den Ernſt zu lernen, wie er nur gelernt wird im Menſchen ſelbſt. Der Tod tut ſein Geſchäft im Leben, er läuft nicht herum wie in der Vorſtellung des Furchtſamen und wetzt die Senſe und ſchreckt Weiber und Kin⸗ der, als wäre dies Ernſt. Nein, er ſagt: Ich bin da, will einer von mir lernen, ſo komme er zu mir. Nur ſo beſchäftigt der Tod im Ernſt, im übrigen nur in Stimmung durch ſinnreiche Gedanken, durch ſeinen Tiefſinn, oder im Scherz in aufge⸗

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räumten Einfällen, oder niederbeugend mit tiefem Leid, das doch in ſeinem leidendſten Ausdruck nicht Ernſt iſt, denn der Ernſt würde gerade lehren, Maß zu halten mit Sorgen und Klagen.

Ein Dichter erzählt von einem Jüngling, der in der Nacht der Jahreswende im Traume als Greis zurückſah auf ſein ver⸗ ſpieltes Leben; bis er in Angſt erwachte am Neujahrsmorgen, nicht bloß zu einem neuen Jahr, ſondern zu einem neuen Leben: ſo wachend den Tod denken, denken, was ja entſcheidender iſt,

als das Greiſenalter, das doch auch ſeine Zeit hat, denken: es

war vorbei, daß alles verloren iſt mit dem Leben, um nun im Leben alles zu gewinnen das iſt Ernſt. Es war ein Kaiſer, der unter Beobachtung aller äußeren Gebräuche ſein Begräbnis feiern ließ. Was er tat, war vielleicht nur Ausfluß einer Stim⸗ mung, aber Zeuge ſein ſeines eigenen Todes, Zeuge, wie der Sarg geſchloſſen wird, Zeuge, wie alles, was weltlich und irdiſch den Sinn füllt, aufhört im Tode: das iſt Ernſt. Zu ſterben iſt ja jedes Menſchen Los und ſo eine gar geringe Kunſt, aber gut ſterben können iſt doch die höchſte Lebens⸗ weisheit. Worin liegt der Unterſchied? Darin, daß in dem einen Fall der Ernſt der des Todes iſt, in dem andern der des Sterbenden. Und die Rede, die den Unterſchied macht, kann ſich ja nicht an den Toten wenden, ſondern nur an den Lebenden. So ſoll die Rede handeln von der

Entſcheidung des Todes.

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Und darin ſind wir einig, daß eine fromme Rede niemals zwieſpältig ſein darf oder uneins mit anderem, als mit dem, was gottlos iſt. Wenn alſo der Arme, der Dienende, der des ſeltenen Feiertags wenige Stunden ſparſam anwenden muß, hinausgeht zu einem Grab, um ſich eines Verſtorbenen zu er⸗ innern und nun auch ſeinen eigenen Tod zu bedenken, wenn ein ſolcher ſich helfen muß nach karger Gelegenheit, ſo daß der Gang hinaus zugleich ein Lebensgenuß wird; daß der Aufenthalt draußen zugleich eine fröhliche und wohltuende Zerſtreuung iſt nach der vielen Tage Mühe, ſo daß die Zeit draußen hingeht mit der Freude über die Freiheit und über die Umgebung, als ſuchte er in einer ſchönen Gegend Erfriſchung, als wäre der Gang bloß zur Luſt und zu vereinter Freude da ſind wir einig, daß ein ſolcher Menſch in ſeiner Einfalt die Gegenſätze ſchön vereint (was nach der Weiſen Wort die höchſte Schwierigkeit iſt), daß ſein Erinnern dem Verſtorbenen teuer iſt, mit Freude angenommen im Himmel, und daß ſein Ernſt gleich preiſens⸗ wert iſt, Gott ebenſo wohlgefällig, ihm ſelbſt ebenſo dienlich wie der Ernſt deſſen, der mit ſeltenen Gaben Tag und Nacht anwandte, um des Todes ernſten Gedanken einzuüben in ſeinem Leben, ſo daß er nun innehielt und wieder innehielt, um eitlem Tun zu entſagen, nun angefeuert ward und wieder angefeuert, zu eilen auf dem Weg des Guten, nun ſich der Schwatzhaftig⸗ keit und der Betriebſamkeit im Leben entwöhnte, um Weisheit in Stille zu lernen, nun lernte, nicht zu ſchaudern vor Ge⸗ ſpenſtern und menſchlichen Erfindungen, ſondern vor der Ver⸗

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antwortung des Todes, nun, nicht die zu fürchten, die den Leib totſchlagen, ſondern ſich zu fürchten vor ſich ſelbſt und davor, ſein Leben zu haben in der Eitelkeit, im Augenblick, in der Einbildung. Wir wollen ihn preiſen, daß er herrlich die ihm vergönnten Gaben gebrauchte; wenn er dagegen von dem täg⸗ lichen, herrlichen Tun ſich einen Feiertag machte, um mit Luſt den Gedanken zu genießen, daß er beſſer ſei, als der Einfältige, der weder ſolche Zeit noch ſolche Gabe hatte, Gott wohlge⸗ fälliger, als täte Gott eitel Unrecht und weigerte dem Einen Zeit und Talent, alſo des Glückes Gabe, als machte er dann wieder, wie Menſchen zuweilen in Gedankenloſigkeit grauſam handeln, den Mangel zu einer Schuld: ach, welcher Unterſchied zwiſchen ſeinem ſeltenen Feiertag und dem des Einfältigen, wenn jener alles verſpielt, und der Einfältige alles gewinnt! Nein, aller Vergleich iſt doch nur Spaß, und ein eitler Ver⸗ gleich ein ſorgenvoller Spaß. Hätte auch jener Begünſtigte lange Zeit, der Ernſt und der Tod würden ihn doch lehren, daß er keine zu verſpielen habe, noch weniger, alles zu verſpielen. Sollte dagegen einer hurtig fertig geworden ſein auch mit dem Gedanken des Todes, wie mit allen andern Gedanken, und vor⸗ nehm vielleicht ſich ſorgen, daß in dieſem armſeligen und ein⸗ förmigen Leben nicht genug zu denken übrig bleibe für einen ſolchen hurtigen Denker, da ſind wir einig, daß dies das Eigen⸗ tümliche iſt bei jedem Gegenſtand, wenn er es für eine fromme Betrachtung wird, daß dem Einfältigen ſofort zum richtigen Ver ſtändnis verholfen wird, und daß der meiſt Begabte freudig

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ein ganzes Leben anwendet, wenn er auch geſteht, daß er weder alles ganz verſtanden, noch ganz in Vollkommenheit den Ge⸗ danken eingeübt habe in ſeinem Leben. Denn der, welcher ohne Gott iſt in der Welt, er wird wohl raſch ſeiner ſelbſt über⸗ drüſſig und drückt dies vornehm ſo aus, daß er des ganzen Lebens überdrüſſig ſei, aber wer in Einigkeit iſt mit Gott, er lebt ja zuſammen mit Dem, deſſen Gegenwart ſelbſt dem Un⸗ bedeutendſten unendliche Bedeutung gibt.

Über die Entſcheidung des Todes muß nun zuerſt geſagt werden, daß ſie entſcheidend iſt. Die Wiederholung des Wortes iſt das Bezeichnende und die Wiederholung ſelbſt erinnert daran, wie wortknapp der Tod iſt. Es gibt manche andere Ent⸗ ſcheidung im Leben, aber nur eine ſo entſcheidende, wie die des Todes. Denn alle Kräfte des Lebens vermögen nicht der Zeit Widerſtand zu leiſten, ſie reißt ſie mit ſich, ſelbſt die Erinnerung iſt in der Zeit. Und der Lebende hat es nicht in ſeiner Macht, die Zeit aufzuhalten, Ruhe zu finden außerhalb der Zeit in einem vollkommenen Abſchluß, im Abſchluß der Freude, als gäbe es kein Morgen, im Abſchluß des Leids, als könnte es nicht um einen Tropfen noch bitterer werden, im Abſchluß der Betrachtung, als wäre die Meinung ganz aus und nicht die Betrachtung wieder ein Teil der Meinung, im Abſchluß der Rechenſchaft, als zöge der Augenblick der Rechenſchaft ſich nicht auch ſeine Verantwortung zu. Der Tod dagegen hat dieſe Macht; er pfuſcht nicht drauflos, als bliebe doch noch ein wenig übrig, er jagt nicht nach der Entſcheidung, wie der Lebende es

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tut, er macht Ernſt damit. Wenn er kommt, heißt es: bis hier⸗ her, nicht einen Schritt weiter; dann iſt abgeſchloſſen, nicht ein Buchſtabe wird hinzugefügt; ſo iſt die Meinung aus, nicht ein Laut mehr ſoll gehört werden ſo iſt es vorbei. Iſt es un⸗ möglich, all die unzähligen Ausſagen der Lebenden über das Leben in einer einzigen zu einen, alle die Toten einigen ſich in einer Ausſage, in einer einzigen für den Lebenden: ſteh ſtille. Iſt es unmöglich, all die unzähligen Ausſagen der Lebenden über ihres Lebens Streben in einer einzigen zu einen, alle die

Toten einigen ſich in einer, in einer einzigen: jetzt iſt's vorbei.

Das vermag der Tod. Er iſt auch nicht ein unerfahrener Jüngling, der die Senſe nicht zu gebrauchen verſteht, daß einer ihn verblüffen könnte. Hab' einer welche Vorſtellung er will, eine eingebildete oder eine wahre, von ſeinem Leben, von ſeiner Wichtigkeit für alle, von ſeiner Wichtigkeit für ſich ſelber: der Tod hat keine Vorſtellung davon und achtet nicht auf ſolche Vorſtellungen. Sollte einer müde ſein der Wiederholung, dann wohl der Tod, der alles geſehen hat und wieder und wieder dasſelbe. Selbſt den in Jahrhunderten ſeltenen Tod hat er viele Male geſehen, dagegen hat niemals ein Sterbender den Tod die Farbe wechſeln ſehen, ihn erſchüttert geſehen beim An⸗ blick, die Senſe zittern ſehen in ſeiner Hand, die Spur einer Mienen veränderung bemerkt in feinem ruhigen Antlitz. Und der Tod iſt auch nicht ein alter Mann geworden, der geſchwächt vom Alter unſicher ſchwankte, der nicht genau weiß, wieviel die Uhr geſchlagen hat, oder mitleidig ward aus Schwachheit.

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Oh, wenn einer ſich rühmen darf, unverändert zu ſein, dann wohl der Tod: er wird nicht bleicher und nicht älter.

Doch ſoll die Rede ja nicht den Tod lobpreiſen, ſo wenig wie ſie die Phantaſie in Bewegung ſetzen ſoll. Daß der Tod es abmachen kann, iſt gewiß, aber die Aufforderung des Ernſtes an den Lebenden iſt, es zu denken, zu denken, daß es vorbei iſt, daß eine Zeit kommt, da es vorbei iſt. Das iſt ſchwierig; denn { ſelbſt im Augenblick des Todes ſcheint es wohl dem Sterbenden, daß er noch einige Zeit zu leben haben könnte, und man fürchtet ſogar, ihm zu ſagen, daß es vorbei iſt. Und nun der Lebende! Solange er vielleicht in Geſundheit lebt, in Jugend, in Glück, in Macht geſichert alſo, ja, gut geſichert, wenn er ſich nicht einſchließen will mit dem Gedanken des Todes, der ihm er⸗ klärt, daß dieſe Sicherheit Betrug iſt. Es gibt einen Troſt, einen falſchen Schmeichler, einen heuchleriſchen Betrüger, der heißt: Aufſchub. Aber er wird ſelten bei ſeinem rechten Namen genannt, denn ſelbſt wenn man ihn nennen will, ſchleicht er ſich noch ein in das Wort, und das Wort wird ein wenig milder, und der gemilderte Name iſt ja auch ein Aufſchub. Jedoch iſt keiner, der ſo den Ekel lehren kann vor dem Schmeichler und den Betrüger zu durchſchauen vermag wie des Todes ernſter Gedanke. Denn Tod und Aufſchub vertragen ſich nicht; ſie ſind Todfeinde, aber der Ernſte weiß, daß der Tod der Stärkere iſt.

So iſt es vorbei. Ob es das Kind war mit der Forderung | auf da das ganze Leben, ob es vor ſich hinweinte jetzt iſt's vorbei, \ | nicht ein Augenblick wird zugeſtanden. Ob es der Jüngling war

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mit ſeinen ſchönen Hoffnungen, ob er für ſich bat bloß um die Erfüllung einer einzigen jetzt iſt's vorbei, nicht ein Heller für ſeine Forderung ans Leben wird bezahlt. Ob ein Weniges mangelte an des Mannes ruhmreichem Werk, und ob es einer Welt Wunderwerk war, und ob die ganze Menſchheit es miß⸗ verſtehen würde, weil der Schluß fehlte jetzt iſt's vorbei, die Arbeit nicht vollendet. Ob es ein einziges Wort war, das ihm ein Leben bedeutet hatte, ob er ein ganzes Leben geben wollte, um es ſagen zu dürfen —, jetzt iſt's vorbei, das Wort

blieb ungeſagt.

So iſt es mit der Entſcheidung des Todes vorbei, es iſt Ruhe; nichts, nichts ſtört den Toten; ob jenes kleine Wort, ob jener mangelnde Augenblick den Todeskampf unruhig machten, es ſtört den Toten nicht mehr; ob die Verſchweigung jenes kleinen Wortes vieler Lebenden Leben ſtörte, ob jenes rätſelvolle Werk wieder und wieder den Forſcher beſchäftigte: den Toten ſtört es nicht. So iſt die Entſcheidung des Todes wie eine Nacht, die Nacht, die kommt, da man nicht arbeiten kann; und ſo hat man den Tod eine Nacht genannt, und die Vorſtellung noch milder gemacht, indem man ihn einen Schlaf nannte. Und es ſoll ja Ruhe geben dem Lebenden, wenn er ſchlaflos ver⸗ gebens den Schlaf ſucht auf dem Nachtlager, wenn er ſich ſelber fliehend vergebens ein Verſteck ſucht, wo das Bewußt⸗ ſein ihn nicht entdeckt, wenn der Geplagte müde an Leib und Seele vergebens eine Stellung ſucht, die Linderung gibt, da er nicht ſtille ſtehen kann vor der Unraſt des Schmerzes und

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nicht gehen vor Müdigkeit: es ſoll Ruhe geben, zu denken, daß es doch eine Stellung gibt, in welcher der Angeſtrengte die Ruhe findet, ein Lager, wo er ſtille ruht, einen Schlaf, der ihn nicht flieht, ein Verſteck, wo das Bewußtſein draußen ſteht, wo ſelbſt die Erinnerung draußen bleibt wie ein Windhauch in den Zweigen, einen Teppich, den der ſtille Mann nicht abwirft, unter dem er ruhig ſchläft! Es ſoll Ruhe geben, wenn einer in der Jugend ſchon müde geworden iſt und nur mit der Schwer⸗ mut umgeht, zu bedenken, daß er im Schoß der Erde ruhig und geborgen liegt; es ſoll Ruhe geben, dieſen Troſt zu be⸗ denken und ihn ſo zu denken, daß der Ewige ſchließlich allein der Unglücklichſte wird, der wie eine Wiegenfrau nicht ſchlafen darf, während alle wir andern doch einſchlummern dürfen!

Indeſſen, das iſt Stimmung, und den Tod ſo denken iſt nicht Ernſt. Es iſt die Ausflucht der Schwermut, ſich aus dem Leben nach dem Tode zu ſehnen, und es iſt Aufruhr, ihn nicht fürchten zu wollen; es iſt die Schlauheit der Schwermut, nicht verſtehen zu wollen, daß es anderes zu fürchten gibt als das Leben, und daß deshalb eine andere Weisheit gefunden werden muß, die tröſten ſoll, als der Schlaf des Todes. Gewiß: iſt es Schwachheit, den Tod zu fürchten dann iſt es ein aufge⸗ ſchminkter Mut, der ſich einbildet, den Tod nicht zu fürchten, wenn doch derſelbe Menſch das Leben fürchtet; es iſt die Schwachheit, die zu Bett will, der weibiſche Troſt, einzu⸗ ſchlafen, weibiſch durch den Schlaf dem Leiden entgehen zu wollen.

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Ja, gewiß iſt der Tod ein Schlaf, und ſo wollen wir von jedem ſagen, der im Tode ruht, daß er ſchlafe, wir wollen ſagen, daß eine ſtille Nacht über ihm ſchatte, und daß nichts ihren Frieden ſtöre. Aber iſt denn kein Unterſchied zwiſchen Leben und Tod; und der Lebende, der feinen eigenen Tod be- denkt, er betrachte es anders. Wenn du ſelber es wäreſt, und du der Lebende, der es ſähe! Wer im Tode ſchläft, deſſen Wange rötet ſich nicht, wie die des Kindes im Schlafe; er ſammelt nicht neue Kraft, wie der Mann, der geſtärkt wird, der Traum

beſucht ihn nicht freundlich, wie er den Greis beſucht im

Schlafe! Wenn einer im Leben einen Fall ſieht, der dem Tode gleicht, was tut er dann? Er ruft den Ohnmächtigen an, weil ihm graut vor dieſem Zuſtand, wenn der Lebende ausſieht wie ein Toter. Iſt es denn ein Troſt, daß einer den Toten deshalb nicht anruft, weil es doch nichts helfen kann? Aber du biſt ja nicht tot, und will die Schwermut dich ſtärken mit Ohnmacht, die den einzigen Troſt im Todesſchlafe findet: dann rufe, dann ſchreie dich an, tu für dich ſelbſt, was du für jeden andern tun würdeſt, und ſuche nicht betrügeriſchen Troſt im Wunſche, daß es vorbei ſein möge! Es habe einer, welche er will, eine eingebildete oder wahre Vorſtellung von der Merkwürdigkeit ſeiner Leiden: ach, wenn einer müde ſein müßte, müde der Wiederholung der Klageſchreie, dann wohl der Tod; ſelbſt den in Jahrhunderten durch ſein Leiden ſeltenen Unglücklichen, ſelbſt deſſen Klageſchrei hat der Tod viele Male gehört, aber keiner, keiner hat davon vernommen, daß er den Tod bewogen habe,

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raſcher zu kommen! Und wenn ſein Schrei ihn bewegen könnte iſt es denn wirklich ſeine Meinung, oder iſt es nicht eher der Widerſpruch, daß er doch nicht kommt, weil er ruft, der des Trotzes Selbſtgefühl ſtärkt; der Widerſpruch, der dem Furcht⸗ ſamen hilft, das Spiel des Mutes mit dem Schrecklichen zu ſpielen wenn ſein Schrei und ſeine Sehnſucht den Tod be⸗ wegten, ob ein Menſch da nicht ſich ſelber betrog, wenn wir auch einen Augenblick die Verantwortung vergeſſen wollen, die allzeit bleibt? Was verſchaffte die Linderung, war es dies, daß es vorbei war, oder nicht vielmehr die Vorſtellung davon, die ja noch in der Macht der Schwermut, alſo in der Macht des Lebenden war eine Zerſtreuung, eine Spielerei! Wer in den Tod ſchläft, der rührt ſich nicht, und wenn auch des Sarges Kleid nicht knapp um ihn ſich ſchlöſſe er rührt ſich doch nicht; er wird zu Staub. Und der Gedanke daran, daß es vorbei iſt, der in der vorwitzigen Vorſtellung ſchwermütig der trotzigen Ohnmacht Erquickung brachte, oder tändelnd in Wehmut lin⸗ derte, der iſt ja bei dem Toten gar nicht. Er hat alſo keine Freude daran, daß es vorbei iſt: warum wünſchte er es dann ſo ſehr? Welch ein Widerſpruch! Alſo ſag einer, daß es ein großer Troſt ſei, in der Erde zu verfaulen! Aber weiß einer anderes vom Tode, dann weiß er auch anderes zu fürchten als das Leben. |

Der Ernſt verſteht nun dasſelbe vom Tod, aber er verſteht es anders. Er verſteht, daß es vorbei iſt. Ob dieſes ſich, ge⸗ mildert in Stimmung, ſo ausdrücken läßt, daß der Tod eine

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Nacht ſei, ein Schlaf, beſchäftigt ihn minder. Der Ernſt ver⸗ ſpielt nicht viel Zeit mit Rätſelraten, er ſitzt nicht in Betrach⸗ tungen verſunken, er umſchreibt nicht die Ausdrücke, er bedenkt nicht das Sinnreiche der Bilderſprache, er macht keine Abhand⸗

lung, ſondern er handelt. Iſt es gewiß, daß der Tod da iſt,

wie er iſt; iſt es gewiß, daß es mit ſeiner Entſcheidung vorbei

iſt; iſt es gewiß, daß der Tod ſelbſt ſich niemals darauf einläßt, |

eine Erklärung zu geben: nun wohl, da gilt es, fich ſelber zu

verſtehen, und des Ernſtes Verſtändnis iſt, daß, iſt der Tod

die Nacht, ſo iſt das Leben der Tag, kann nicht gearbeitet wer⸗

den in der Nacht, ſo kann man arbeiten am Tag; und des | Ernſtes kurzer aber anfeuernder Ruf, gleich dem kurzen des | Todes, iſt: heute noch. Denn der Tod im Ernſt gibt Lebens⸗ i

kraft, wie nichts anderes, er macht wachſam, wie nichts anderes. Auf den ſinnlichen Menſchen wirkt der Tod ſo, daß er ſagt:

Laßt uns eſſen und trinken, denn morgen ſind wir tot; aber das iſt der Sinnlichkeit feige Lebens luſt, jene verächtliche Ordnung der Dinge, wo man lebt, um zu eſſen und zu trinken, nicht ißt

und trinkt, um zu leben. Im tieferen Menſchen wirkt die Vor⸗ ſtellung des Todes vielleicht die Ohnmacht, ſo daß er gebrochen in Schwermut ermattet; aber der Ernſte gibt dem Gedanken des Todes die rechte Fahrt im Leben und das rechte Ziel, nach

ſpannt werden und vermag dem Pfeile ſolche Schnelle zu geben,

wie der Gedanke des Todes den Lebenden vorwärtszuſchnellen

vermag, wenn der Ernſt ihn anſpannt. Da ergreift der Ernſt 191

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das Gegenwärtige noch heute, verſchmäht keine Aufgabe als zu gering, läßt ſich keine Zeit entwinden als zu kurz, arbeitet aus äußerſten Kräften, wenn er auch noch ſo willig iſt, über ſich ſelbſt zu lächeln, wenn feine Anſtrengung Verdienſt vor Gott ſein ſollte, und willig in Ohnmacht zu verſtehen, daß ein Menſch

| nichte iſt, und daß der, welcher aus äußerſten Kräften arbeitet, nur r um ſo mehr Gelegenheit bekommt, über Gott zu ſtaunen. Die Zeit iſt ja auch ein Gut. Vermöchte ein Menſch in der äußeren Welt eine Teuerung zu bewirken, ja, da hätte er es geſchäftig; denn der Kaufmann ſagt ja richtig, daß wohl die Ware ihren Preis hat, aber der Preis hängt doch ſo ſehr von den vorteilhaften Zeitverhältniſſen ab und wenn nun eine Teuerung iſt, ſo verdient der Kaufmann. In der äußeren Welt vermag ein Menſch dies nun vielleicht nicht, aber in der Welt des Geiſtes vermag es jeder. Der Tod bewirkt ja ſelbſt Teue⸗ rung der Zeit im Verhältnis zum Sterblichen; wer hat nicht gehört, wie ein Tag, zuweilen eine Stunde, hinaufgeſchraubt wurde im Preis, wenn der Sterbende mit dem Tode feilſchte; wer hat nicht gehört, wie ein Tag, zuweilen eine Stunde, un⸗ endlichen Wert bekam, weil der Tod die Zeit koſtbar machte! Das vermag der Tod, aber der Ernſte vermag mit dem Ge⸗ danken des Todes Teuerung zu bewirken, ſo daß das Jahr und der Tag unendlichen Wert bekommen und wenn teuere Zeit iſt, dann verdient ja der Kaufmann, indem er die Zeit gebraucht. Wenn aber die bürgerliche Sicherheit in Gefahr iſt, ſo hebt der Kaufmann den Gewinſt nicht gleichgültig auf, ſondern er

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wacht über ſeinem Schatz, daß Diebeshand nicht einbrechen und ihn ihm nehmen ſoll: ach, der Tod iſt ja wie ein Dieb in der Nacht.

Und wenn der Gedanke des Todes einen Menſchen beſucht und ihn nicht wirken läßt, wenn er ſich einliſtet und die Lebens⸗ kraft betört in ſchwärmeriſchem Traum; wenn des Todes Miß⸗ mut ihm das Leben zur Eitelkeit machen will; wenn jene Ver⸗ führerin, die Wehmut, ihn umſchließt; wenn die Vorſtellung, als ſei alles vorbei, ihn betäuben will im Schlafe der Schwer⸗ mut, wenn er hinſiecht in der Geiſtesabweſenheit Spiel mit dem Sinnbild des Todes: da gebe er nicht dem Tod die Schuld, denn all dies iſt ja nicht der Tod. Aber er ſage zu ſich ſelber: meine Seele iſt in gefahrvoller Stimmung, und bleibt das ſo, dann iſt eine Feindſchaft in ihr gegen mich, welche die Über⸗ macht erlangen kann. Da fliehe er nicht den Tod, als beſtände darin die Heilung. Weit gefehlt. Er ſage: ich will des Todes ernſten Gedanken rufen. Und der hilft ihm. Denn der Ernſt des Todes hat dazu geholfen, eine letzte Stunde unendlich be⸗ deutungsvoll zu machen wie in Zeiten der Teuerung; wachſam, als langten Diebes hände nach ihm. So laſſe man den Tod feine Macht behalten, „daß es vorbei iſt“, aber das Leben auch ſein Recht, zu arbeiten, während es Tag iſt. Der Wankelmütige iſt bloß ein Zeuge des beſtändigen Grenzſtreites zwiſchen Leben und Tod, ſein Leben nur die Angabe des Zweifels über die Ver⸗ hältniſſe, ſeines Lebens Ausgang eine Täuſchung, aber der Ernſte hat Freundſchaft geſchloſſen mit den ſtreitenden Mächten, und

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ſein Leben hat in des Todes ernſtem Gedanken den treueſten Verbündeten. Gilt auch für alle Toten dieſe Gleichheit, daß es jetzt vorbei iſt, ein Unterſchied iſt doch, und er ſchreit zum Himmel, dieſer Unterſchied, der Unterſchied nämlich: was für ein Leben es war, das nun mit dem Tode vorbei iſt. So iſt es alſo doch nicht vorbei; und trotz aller Schrecken des Todes, nein, unterſtützt von des Todes ernſtem Gedanken ſagt der Ernſte: es iſt nicht vorbei. Aber verſucht ihn dieſe lichte Aus⸗ ſicht, ſpäht er danach wieder bloß im Dämmerlicht der Be⸗ trachtung, entfernt ſie ihn von der Aufgabe, wird die Zeit nicht Zeit der Teuerung, dünkt ihm der Beſitz ſicher; da iſt er wieder nicht ernſt. Sagt der Tod: vielleicht heute noch; ſo ſagt der Ernſt: das ſei nun vielleicht noch heute oder nicht, ich ſage: heute noch.

Von der Entſ cheidung des Todes muß weiter geſagt werden, daß fie un beſti m mbar iſt. Hiermit iſt nichts geſagt, aber ſo muß es auch ſein, wenn die Rede um ein Rätſel geht. Wohl macht der Tod nämlich alle gleich, aber wenn er eine Gleichheit im Nichts iſt, in der Vernichtung, ſo iſt ja die Gleichheit ſelbſt unbeſtimmbar. Soll man deutlicher reden von dieſer Gleich⸗ heit, ſo kann es nur geſchehen, indem man die Verſchiedenheiten des Lebens aufzählt und dieſe in der Gleichheit des Todes negiert. Hier, im Grabe, ſind das Kind und der eine Welt umſchuf, gleich unwirkſam; hier iſt der Reiche ſo arm wie der Arme, die Armut bettelt nicht, der Reiche hat nichts abzugeben, der Genügſamſte und der Unmäßigſte brauchen gleich wenig;

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hier hört man nicht des Herrſchers Stimme, und nicht der Unter drückten Schrei; hier find der Übermütige und der Ge⸗ kränkte gleich ohnmächtig; hier liegen ſie Grab an Grab und dulden einander, die die Feindſchaft trennte durch eine Welt; hier liegt der Schöne und hier der Elende, aber die Schönheit trennt ſie nicht; hier liegen ſie beide, der nach dem Tode ſpähte wie nach einem verborgenen Schatz, und der vergeſſen hatte, daß der Tod da iſt, aber der Unterſchied iſt nicht zu entdecken.

So iſt die Entſcheidung des Todes durch ihre Gleichheit wie der leere Raum und wie eine Stille, in der kein Laut tönt, oder milder: wie eine Stille, die nichts ſtört. Und in dieſem ſtillen Reiche herrſcht der Tod. Wiewohl einer gegen alle die Lebenden, iſt er doch mächtig, ſie ſich zu unterwerfen und Stille zu gebieten. Hab einer welche Vorſtellung er will von ſeinem Leben, ja ſelbſt von ſeiner Bedeutung für die Ewigkeit, er redet ſich nicht los vom Tode, er macht nicht den Übergang zum Ewigen in der Rede Lauf und im ſelben Atemzug: ſie haben alle erſt ſchweigen gemußt. Und vereinte ſich auch Geſchlecht mit Geſchlecht zu gemeinſamer Tat, und vergäße der Einzelne ſich ſelbſt und fände ſich ſo ſicher im Verſteck der Menge: ſiehe, der Tod nimmt jeden für ſich und er wird ſtill. Wäre auch des Lebenden Verſchiedenheit ſo groß, wie einer ſie denken mag, der Tod macht ihn gleich mit dem, der unkenntlich war durch ſeine Verſchiedenheit. Denn der Spiegel des Lebens gibt wohl zuweilen dem Eitlen mit ſchmeichelnder Treue ſeine Verſ chieden⸗ heit wider, aber des Todes Spiegel ſchmeichelt nicht, ſeine Treue

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

zeigt alle eins, ſie gleichen einander alle, wenn der Tod mit ſeinem Spiegel geprüft hat, ob der Tote ſchweigt.

So iſt die Entſcheidung des Todes unbeſtimmbar in Gleich⸗ heit, denn die Gleichheit iſt in der Vernichtung. Und daran denken ſoll Ruhe geben dem Lebenden. Wenn der Geiſt, müde der Unterſchiede, die dauern und dauern und niemals aufhören, ſtolz ſich zurückzieht in ſich ſelbſt und Groll anhäuft im Trotz der Ohnmacht, daß er der Lebenskraft der Unterſchiede nicht Einhalt zu tun vermag: da ſoll es Ruhe geben zu bedenken, daß der Tod dieſe Macht hat; da ſoll dieſe Vorſtellung jener Vernichtung Begeiſterung anſchüren zu einer Glut, in der das Leben ſich ſteigern will. Wenn der Elende ſeufzt in ſeinem Winkel, weil das Leben ihm unrecht tat, wie eine Stiefmutter; wenn er mißgeſtaltet nicht einmal wagen darf ſich zu zeigen, weil ſelbſt der beſte Menſch unwillkürlich lächelt über ſeinen qualvollen, ach, und doch lächerlichen Jammer; wenn er ab⸗ geſondert und abgeſchloſſen nicht liebt, weil keiner bei ihm das Gleiche findet, das er ſelbſt vergebens bei andern ſucht: da fol es des verborgenen Harmes Brand lindern wie kühler Schnee, zu bedenken, daß der Tod alle gleich macht. Wenn der Ge⸗ kränkte ſich windet unter dem Unrecht des Mächtigen, und der Haß in Ohnmacht an der Rache verzweifelt: da ſoll es der will⸗ kommene Troſt ſein, der nächſtens die Luſt des Lebens wieder herbeiruft, daß der Tod ſie alle gleich macht. Wenn der durch Wünſche Verzärtelte unwirkſam ſitzt und mit des Wunſches hohen Vorſtellungen von ihm ſelber ſpielt, aber nur

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andere ſtreben und das Große erreichen ſieht; wenn der Unge⸗ duld Leidenſchaft den Atem des Verzärtelten ſchwer macht: da ſoll es lindern, ſoll wieder Luft geben, zu bedenken, daß der Tod einen Strich macht durch das Ganze und alle gleich macht. Wenn der Verlierende wohl verftand, daß der Streit nun vorbei ſei und er der Schwächere, aber zugleich verſteht, daß es doch nicht vorbei iſt, daß ſeine Niederlage dem Sieger des Glückes Fahrt gab, daß ſein Leiden durch die Folgen der Niederlage täglich, aber ferner und ferner der Bericht iſt von des andern Steigen in der Ferne: da ſoll es lindern zu be⸗ denken, daß der Tod ihn einholt und den Unterſchied zunichte macht. Wenn Krankheit der tägliche Gaſt wird und die Zeit hingeht, der Freude Zeit; wenn ſelbſt die Nächſten des Leidenden müde werden und manch ein ungeduldiges Wort verwundet; wenn der Leidende ſelbſt fühlt, daß ſeine Gegenwart nur ſtörend iſt für die Frohen, wenn er ferne ſitzen muß, fern vom Tanz: da ſoll es lindern, zu bedenken, daß der Tod doch auch ihn einlädt zum Tanz und daß in dieſem Tanz alle gleich werden.

Jedoch das iſt Stimmung; und eigentlich iſt es Feigheit, die durch eine Fälſchung in dichteriſcher Geſtalt ſich beſſer dünken will, wiewohl ſie doch im Weſen ebenſo erbärmlich iſt. Denn wenn der Einfältige vielleicht nicht imſtand iſt, dieſe Art Stimmung zu faſſen iſt dieſe Vornehmheit denn an und für ſich ein entſcheidender Wert, iſt ſie nicht entſcheidend nur, weil ſie die Verantwortung größer macht?! Es iſt der Schwermut feige Luſt, ſich im Leeren betäuben zu wollen und in dieſer Be⸗

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täubung die letzte Zerſtreuung zu ſuchen; es iſt Neid, im Auf⸗ ruhr gegen Gott Schaden an ſeiner Seele nehmen zu wollen, verwundet von der Verſchiedenheit; es iſt Selbſtbezichtigung, ohnmächtig haſſen zu wollen, die verrät, daß man bloß der Macht ermangelt, da man den fürchterlichen Mißbrauch mit der Ohnmacht treibt; es iſt ein verächtlicher Weg zu unbefugter Klage über das Leben, daß man bloß wünſchen will, und dann klagen, weil man nicht wurde, was man ſich wünſchte, niemals zu anderem tauglich werden als zum Wünſchen, und endlich jämmerlich genug, alles wegzuwünſchen; es iſt ſelbſtplageriſche Ausdauer des Überwundenen, nichts Höheres verſtehen zu wollen als den Streit zwiſchen Mein und Dein und beider Untergang; es iſt eine noch furchtbarere Krankheit, nicht faſſen zu wollen, was für einen Arzt der Kranke nötig hat. Wahrlich, iſt es feige und wollüſtige Weichlichkeit, nicht einmal im Ge⸗ danken den begünſtigenden Unterſchied aufgeben zu können und ſein Leben in ihm verloren zu haben, ſo iſt es ein aufgeſchminkter Mut, der ſich an der Vorſtellung von der Gleichheit des Todes verſuchen will, wenn doch derſelbe Menſch unter des Lebens Unterſchieden ſeufzt und ſtöhnt.

Und wenn das wirklich die Meinung eines Menſchen wäre ſollte es nicht der Widerſpruch ſein, daß er noch lebte, der das Ä Lockmittel zu dem vermeſſenen Wageſtück war, ſich fo tröften zu wollen mit der Gleichheit des Todes; ob wohl ſeine Vor⸗ ſtellung vom Tode Stich hielt im Tode ſelbſt, dann alſo, wenn die Luſt des Denkens nicht mehr die Leidenſchaft reizte? Der

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Tote hat ja den Unterfchied vergeſſen; und wenn er auch ein ganzes Leben hindurch ſich vornahm, ſeiner zu gedenken, um die Freude zu haben, ihn einem andern im Tode genommen zu ſehen, im Tode iſt ja dieſer Gedanke nicht bei ihm, ſelbſt wenn wir einen Augenblick die Verantwortung vergeſſen wollen, die auf ihn wartet. Es iſt die Lüge und der Betrug in dem ver⸗ meſſenen Trotz, der ſich mit dem Tod verſchwören will gegen das Leben. Es wird vergeſſen, daß der Tod der Stärkere iſt, vergeſſen, daß er ohne Vorliebe iſt, daß er keinen Bund ſchließt mit irgendeinem, ſo daß dieſer im Tod einen Freipaß bekäme und Zeit und Gelegenheit, die Luft der Vernichtung zu ge- nießen. Nur wenn des Lebenden Vorſtellung wie im Märchen umgeht im ſtillen Reich der Toten, wie eine Gauklerin der Tod ſelber iſt, und vor ſich ſelbſt verſchwindet im Tod; nur wenn des Lebenden Vorſtellung den Tod nachäfft, den Beneideten zum Stelldichein lädt, ihn all ſeiner Herrlichkeit entkleidet und ſich an ſeiner Ohnmacht weidet; nur wenn die Vorſtellung zwiſchen den Gräbern umgeht, vermeſſen den Spaten in die Erde ſenkt und den Frieden der Toten kränkt mit der Luſt ihres Trotzes, daß des einen Entſeelten Leichnam ausſehe genau wie der des andern nur dann iſt es Linderung. Aber all dies iſt nicht Ernſt; und iſt ſein Weſen auch noch ſo finſter, und iſt die Luſt auch noch ſo düſter, deshalb iſt es doch nicht Ernſt. Denn der Ernſt ſpielt nicht Verſteck, ſondern iſt verſöhnt mit dem Leben und weiß den Tod zu fürchten. | Der Ernſt verfteht nun dasſelbe vom Tod, aber er verfteht

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es anders. Er verſteht, daß der Tod alle gleich macht; und das hat er ſchon lange verſtanden, weil der Ernſt gelernt hat, vor Gott die Gleichheit zu ſuchen, in der alle gleich ſein können. Und in dieſem Streben entdeckt der Ernſte einen Unter ſchied, den ſeiner ſelbſt nämlich von dem Ziel, das ihm geſetzt iſt, und entdeckt, daß am aller fernſten von dieſem Ziel ein Zuſtand wäre, wie ihn die Gleichheit des Todes ausdrückt. Aber jedesmal, wenn die irdiſche Verſchiedenheit ihn verſuchen will, aufhalten will, tritt der ernſte Gedanke von des Todes Gleichheit da⸗ zwiſchen und feuert ihn wieder an. Wie kein böſer Geiſt den heiligen Namen nennen darf, ſo ſchaudert jeder gute Geiſt vor dem Leeren, vor der Gleichheit der Vernichtung, und dieſer Schauder, der ſchöpferiſch iſt im Leben der Natur, iſt an⸗ feuernd im Leben des Geiſtes. Wie oft lehrte nicht ſchon die Gleichheit der Vernichtung, wenn der Tod zu einem Menſchen kam, dieſen ſich die ſchwerſte Verſchiedenheit zurückzuwünſchen, die letzte Bedingung wünſchenswert zu finden, nun da des Todes Bedingung die einzige war! Und ſo hat des Todes ernſter Gedanke den Lebenden gelehrt, die ſchwerſte Verſchiedenheit mit der Gleichheit vor Gott zu durchdringen. Und kein Vergleich hat die vorwärtstreibende Macht, und gibt dem Haſtenden ſo ſicher die wahre Richtung, wie wenn der Lebende ſich vergleicht mit der Gleichheit des Todes. Und iſt von allen Vergleichen der der eitelſte, wenn ein Menſch jeden andern verſchmäht, um ſich mit ſich ſelbſt in Selbſtzufriedenheit zu vergleichen, ja ſtand viel⸗ leicht nie ein eitles Weib ſo eitel vor der Bewunderung ſeiner

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Umgebung, wie da es einſam vor dem Spiegel ſtand: oh, fo iſt kein Vergleich ſo ernſt wie der eines Menſchen, welcher ein⸗ ſam mit der Gleichheit des Todes ſich verglich. Einſam; denn das iſt es ja, wozu ihn die Gleichheit des Todes macht, wenn das Grab geſchloſſen iſt, wenn die Türe geſchloſſen iſt vor dem Friedhof, wenn die Nacht hernieder fällt, und er einſam liegt fern von aller Teilnahme, unkenntlich, in der Geſtalt, die nur Grauen wecken kann, einſam draußen, wo der Toten Menge nicht eine Geſellſchaft bildet. Der Tod hat vermocht, Throne umzuſtürzen und Fürſtentümer, aber der ernſte Gedanke des Todes hat das ebenſo Große vollbracht: hat dem Ernſten ge⸗ holfen, der meiſt begünſtigten Verſchiedenheit die demütige Gleichheit vor Gott zu unterlegen und hat ihm geholfen, ſich emporzuheben über die ſchwerſte niederdrückendſte Verſchieden⸗ heit durch die demütige Gleichheit vor Gott.

Und wenn eines Menſchen Seele irre geht in der Begün⸗ ſtigung, und wenn er kaum ſich ſelber wiedererkennen kann vor Herrlichkeit, da macht der ernſte Gedanke von des Todes Gleich⸗ heit ihn auf eine andere Weiſe unkenntlich, und er lernt ſich ſelber erkennen, und erkannt ſein zu wollen vor Gott. Oder wenn ſeine Seele ſeufzt in der ſchweren Beſchränkung der Leiden, der Widerwärtigkeiten, der Kränkungen, der Schwermut, ach, und es ſcheint ihm, daß die Beſchränkung lebenslänglich ſein werde; wenn auch der Verſucher kommt in ſein Haus, er, der Verſucher, den man in ſeinem eigenen Innern hat, und der betrügeriſch Grüße von andern bringt und wenn der ihm erſt

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der andern Glück vorgaukelt, bis er mißmutig wird, und jener ihn nun aufzurichten verſpricht: da gebe er ſich ihm nicht hin in Stimmung. Er ſage: ſolches iſt Aufruhr gegen Gott und eine Feindſchaft wider mich ſelber; und dann ſage er: ich will den ernſten Gedanken des Todes anrufen. Und der hilft ihm, die Verſchiedenheit zu überwinden, die Gleichheit vor Gott zu finden, dieſe Gleichheit ausdrücken zu wollen. Denn des Todes Gleichheit iſt furchtbar dadurch, daß nichts ihr widerſtehen kann (wie troſtlos !). Aber die Gleichheit vor Gott ift ſelig dadurch, daß nichts ſie verhindern kann, wenn der Menſch nicht ſelbſt es will. Und iſt dann die Verſchiedenheit des Lebens ſo groß? Denn er nehme den Frohen, er laſſe ihn ſich freuen über ſein Glück wenn er, der Unglückliche, ſich wieder freute über Jenes Glück, da waren ſie ja beide froh! Er nehme den Ausgezeich⸗ neten, er laſſe ihn ſich freuen über ſeinen Vorzug wenn er, der Gekränkte, die Beleidigung vergeſſen hatte, und nun das Vorzügliche an jenem ſah, war der Unterſchied ſo groß? Er nehme den Jüngling, er laſſe ihn vorwärtseilen mit der Zuver⸗ ſicht der Hoffnung wenn er, wiewohl enttäuſcht vom Leben, vielleicht ſogar im geheimen ihn unterſtützte, war da der Unter⸗ ſchied ſo groß? Glück und Ehre und Reichtum und Schönheit und Macht, ſie ſind es ja, die den Unterſchied ausmachen, aber wenn der Unterſchied nur der war, daß des Einen Glück und Ehre und Reichtum und Schönheit und Macht eine Freilands⸗ pflanze war, des andern eine Grabesblume, gehegt in der Selbſtverleugnung geheiligter Erde: iſt der Unterſchied ſo

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groß? Sie ſind ja beide glücklich und geehrt und reich und ſchön und mächtig! Wie ſchwer auch der Unterſchied war, der ernſte Gedanke an die Gleichheit des Todes half doch wie eine ſtrenge Erziehung dazu, allen weltlichen Vergleich zu verſchmähen, die Vernichtung als das noch Schrecklichere zu verſtehen und die Gleichheit vor Gott ſuchen zu wollen.

Des Todes Gleichheit bekam nicht Macht, ihn mit ihren

Zaubermitteln zu verlocken; es iſt ja auch keine Zeit dazu. Denn wie die Entſcheidung des Todes un beſtimm bar iſt durch die Gleichheit, fo iſt fie ebenſo unbeſtim mbar durch die Ungleichheit. Wer hat nicht oft die Rede gehört, daß der Tod keinen Unterſchied macht, daß er nicht Stand und nicht Alter kennt; wer hat es nicht ſelbſt oft überlegt, wenn er die verſchiedenſten Verhältniſſe der Lebenden nannte und nun den Tod in ein Verhältnis zu ihnen denken wollte, daß er dieſes ſo beſtimmen mußte, daß der Tod ſeine Beute ebenſogut hier wie dort ſuchen könne ebenſogut, weil keine Rückſicht genommen wird, während aller Unterſchied gerade darin liegt, daß man Rückſicht nimmt. So iſt er unbeſtimmbar durch ſeine Ungleich⸗ heit. Er eilt dem Leben faſt voraus, und das Kind wird tot⸗ geboren, er läßt den Greis warten von Jahr zu Jahr; glaubt man ſich in Frieden und Sicherheit, ſo ſteht er über einem, und in der Lebensgefahr ſucht man ihn zuweilen vergebens, wäh⸗ rend er den findet, der ſich abſeits verſteckt; wenn die Käſten voll ſind und Vorrat für ein ganzes Leben, kommt der Tod und fordert des Reichen Seele, wenn Mangel iſt, bleibt er weg;

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wenn der Hungrige bekümmert ſorgt, was er morgen eſſen werde, kommt der Tod und nimmt die Nahrungsſorgen von ihm, wenn der Lüſterne im Überdruß ſich darum kümmert, was er morgen eſſen ſoll, kommt richtend der Tod und macht die Bekümmerung überflüſſig.

So iſt der Tod unbeſtimmbar: das einzige Gewiſſe, und das Einzige, worüber nichts gewiß iſt. Dieſe Vorſtellung lockt den Gedanken hinaus in den Wechſel des Unbeſtimmbaren, um ſich in dieſem Schaudern zu verſuchen wie in einem Spiel, um dieſes wunderliche Rätſel zu erraten, um ſich in der Plötzlich⸗ keit unerklärliches Verſchwinden und unerklärliches Hervor⸗ brechen zu verſenken. Es ſoll lindernd ſein, über dieſen Treff nachzudenken, dieſes Gleich und Ungleich, dieſes geahnte Geſetz im Geſetzloſen, das iſt und das nicht iſt, ſich zu allem Lebenden verhält, aber unbeſtimmbar iſt in jedem ſeinem Verhältnis. Wenn die Seele müde wird des Zwangs und der Gebundenheit, des beſtimmbaren und wieder beſtimmbaren, knappen, täglichen Maßes, und des Bewußtſeins davon, daß mehr und mehr ver⸗ ſäumt wird; wenn die Willenskraft ausgedient hat, und der Markloſe wie Zunder wird; wenn die Neugierde, des Lebens müde, eine reichere Aufgabe ſucht für die Neugierde: da ſoll es unterhaltend ſein, die Unbeſtimmbarkeit des Todes zu be⸗ denken, und lindernd, ſich mit dieſem Gedanken vertraut zu machen. Nun verwundert man ſich über einen Todesfall, nun über einen andern, nun redet man ſich wirr in allgemeinen Aus⸗ drücken von dem, was ſich der allgemeinen Beſtimmung ent⸗

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zieht, nun iſt man in einer Stimmung, nun in einer andern, nun wehmütig, nun unerſchrocken, nun ſpottend, nun knüpft man den Tod an den glücklichſten Augenblick als das größte Glück, nun als das größte Unglück, nun wünſcht man ſich einen raſchen Tod, nun einen langſamen, nun zankt man ſich müde, welcher Tod doch der wünſchenswerteſte ſei, nun wird man über⸗ drüſſig der ganzen Überlegung, vergißt den Tod, bis das Rad der Betrachtung wieder in Bewegung geſetzt wird und man der Betrachtung Einzelheiten zuſammenſchart in neuen Ver⸗ bindungen zu neuem Staunen ach ja, bis der Gedanke an den eigenen Tod im Nebel verdunſtet vor den Augen, und das Gedenken des eigenen Todes für das Ohr zum unbeſtimmten Brauſen wird. Dies iſt die Linderung der Vertrautheit in der Betrachtung des Abgeſtumpften, daß es nun einmal ſo iſt, in der erhebenden unperfönlichen Vergeßlichkeit, die ſich ſelbſt ver⸗ gißt über dem Ganzen, oder beſſer ſich ſelber in Gedankenloſig⸗ keit, wodurch der eigene Tod ein ſchnurriger Zufall wird unter den mannigfachen unberechenbaren Zufällen, und die Langeweile eine Vorbereitung, die des eigenen Todes Übergang milde macht.

Aber ſelbſt wenn ein ſolches Leben das Wunder des Todes bedenkend alle möglichen Stimmungen durchliefe, iſt die Be⸗ trachtung deshalb Ernſt? Endet der Stimmungen Weitläufig⸗ keit immer im Ernſt, ſollte der Beginn des Ernſtes nicht eher fein, jene Weitläufigkeit zu verhindern, in welcher der Betrach⸗ tende ſein Leben verſäumt und dem gleich wird, der dem Spiel

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verfällt, wenn er grübelt und grübelt und von den Zahlen träumt in der Nacht, anſtatt zu arbeiten am Tag! Der, welcher den Tod fo betrachtet, iſt ein Betäubter in Hinſicht auf fein geiftiges Leben; er ſchwächt ſein Bewußtſein, ſo daß es den ernſten Ein⸗ druck des Unerklärlichen nicht aushalten kann und nicht im Ernſt ſich unter den Eindruck beugt, aber dann auch das Rätſel be⸗ zwingt. Ja, gewiß iſt der Tod ein wunderbares Rätſel, aber nur der Ernſt kann es beſtimmen. Woher kommt wohl jene Verwirrung der Gedankenloſigkeit, wenn nicht daher, daß der Gedanke des Einzelnen betrachtend ſich hinauswagt in das Leben, das ganze Daſein überſchauen will, jenes Spiel der Kräfte, das nur Gott im Himmel ruhig betrachten kann, weil Er in Seiner Vorſehung es beherrſcht mit Seinem weiſen und all⸗ gegenwärtigen Willen, das aber den Geiſt eines Menſchen ſchwächt, ihn ſchwachſinnig macht, ihm unzeitige Sorge be⸗ reitet, und mit traurigem Troſt ſtärkt. Unzeitige Sorge näm⸗ lich in Stimmung, weil er ſich um ſo vieles bekümmert, traurigen Troſt nämlich in Abſpannung und Schlaffheit, wenn ſeine Betrachtung ſo viele Eingänge und Ausgänge hat, daß ſie ſchließlich ein Irrweg wird. Und wenn dann der Tod kommt, betrügt er doch den Betrachter, weil alle Betrachtung der Er⸗ klärung nicht um einen Schritt näher kam, ſondern ihn nur um das Leben betrog. |

Der Ernſt verſteht dasſelbe vom Tod, daß er unbeſtimmbar iſt durch die Ungleichheit, daß kein Alter, kein Umſtand, und kein Lebensverhältnis vor ihm ſicher machen, aber danach ver⸗

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ſteht der Ernſte es anders und verſteht ſich ſelber. Sieh, die Axt liegt ſchon an der Wurzel des Baumes, jeder Baum, der nicht gute Frucht trägt, ſoll umgehauen werden nein, jeder Baum ſoll umgehauen werden, auch der, welcher gute Frucht trägt. Das Gewiſſe iſt, daß die Axt an der Wurzel des Baumes liegt; und wenn einer auch nicht bemerkt, daß der Tod über ſein Grab geht und daß die Axt ſich bewegt, die Ungewißheit iſt doch in jedem Augenblick da, das Ungewiſſe, wann der Hieb fällt und der Baum. Aber wenn er gefallen iſt, da iſt es entſchieden ob der Baum gute Frucht trug oder ſchlechte Frucht.

Der Ernſte betrachtet ſich ſelber; iſt er jung, da lehrt ihn der Gedanke an den Tod, daß hier ein junger Menſch ſeine Beute wird, wenn er heute kommt, aber er ſchwatzt nicht in allgemeinen Redensarten von der Jugend als der Beute des Todes. Der Ernſte betrachtet ſich ſelber, er weiß alſo, wie der beſchaffen iſt, der hier die Beute des Todes werden würde, wenn er heute käme; er bedenkt ſein eigenes Tun und weiß alſo, welches Tun hier abgebrochen würde, wenn der Tod heute käme. So hört das Spiel auf, ſo iſt das Rätſel beſtimmt. Die all⸗ gemeine Betrachtung des Todes verwirrt nur den Gedanken ebenſo wie wenn man im Abſtrakten erfahren will. Die Ge⸗ wißheit des Todes iſt der Ernſt, ſeine Ungewißheit iſt die Unter⸗ weiſung, die Einübung des Ernſtes; der Ernſte iſt der, welcher durch die Ungewißheit erzogen wird zum Ernſt, kraft der Ge⸗ wißheit. Wie lernt ein Menſch Ernſt? Vielleicht dadurch, daß

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ein Ernſter ihm etwas vorſagt, daß er dies nun lernen könnte? Keineswegs. Der Lernende bekümmert ſich (denn ohne Beküm⸗ merung kein Lernender!) um den einen oder andern Gegen⸗ ſtand mit ſeiner ganzen Seele; und die Gewißheit des Todes iſt ja ein Gegenſtand der Bekümmerung. Nun wendet ſich der Bekümmerte an den Lehrer des Ernſtes; und das iſt ja der Tod, nicht ein Schreckbild, außer für die Einbildung. Der Lernende will nun dieſes oder jenes, er will es ſo machen und unter dieſen Vorausſetzungen: „und nicht wahr, ſo glückt es.“ Aber der Ernſte antwortet gar nichts, und endlich ſagt er, doch ohne zu ſpotten, mit der Ruhe des Ernſtes: „Ja, das iſt mög⸗ lich.“ Der Lernende wird bereits etwas ungeduldig; er entwirft einen neuen Plan, verändert die Vorausſetzungen, und ſchließt ſeine Rede auf eine noch eindringlichere Weiſe. Aber der Ernſte ſchweigt, ſieht ruhig auf ihn und ſagt endlich: „Ja, das iſt mög⸗ lich.“ Nun wird der Lernende leidenſchaftlich, er greift zu Bitten, oder wenn er ſo ausgerüſtet iſt, zu hinterliſtigen Ge⸗ dankenwendungen, ja, er beleidigt vielleicht ſogar den Ernſten, und wird ſelbſt ganz verwirrt, und alles ſcheint Verwirrung um ihn; aber da er mit dieſen Waffen und in dieſem Zuſtand auf den Ernſten einſtürmt, muß er deſſen unveränderten, ruhigen Blick aushalten und in ſein Schweigen ſich finden, denn der Ernſte ſieht bloß auf ihn und ſagt endlich: „Ja, das iſt möglich.“ So mit dem Tod. Die Gewißheit iſt das Unver⸗ änderliche, und die Ungewißheit iſt das kurze Wort: es iſt mög⸗ lich; und jede Bedingung, die des Todes Gewißheit zu einer

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bedingten Gewißheit für den Wünſchenden machen will, jede Übereinkunft, die des Todes Gewißheit zu einer bedingten Ge⸗ wißheit für den Beſchließenden machen will, jede Abrede, die des Todes Gewißheit nach Zeit und Stunde für den Handeln⸗ den beſtimmen will jede Bedingung, jede Übereinkunft, jede Abrede ſcheitern an dieſem Wort; und alle Leidenſchaftlichkeit und alle Schlauheit und allen Trotz macht dieſes Wort ohn⸗ mächtig, bis der Lernende in ſich ſelber geht. Aber darin liegt der Ernſt, und dazu wollten die Gewißheit und die Ungewißheit dem Lernenden verhelfen. Bekommt die Gewißheit das Recht dazuſtehen, für was man gerade will, für eine allgemeine Über- ſchrift über das Leben, nicht wie es mit Hilfe der Ungewißheit geſchieht, wie die Aufforderung zur Anwendung auf das Ein⸗ zelne und Tägliche, ſo wird der Ernſt nicht gelernt. Die Un⸗ gewißheit tritt hinzu und zeigt beſtändig, wie der Lehrer auf den Gegenſtand der Lehre, und ſagt zu dem Lernenden: gib wohl acht auf die Gewißheit: ſo entſteht der Ernſt. Und kein Lehrer vermag ſo den Schüler zu lehren, acht zu geben auf das, was geſagt wird, wie die Ungewißheit des Todes, wenn ſie auf des Todes Gewißheit zeigt; und kein Lehrer vermag ſo des Schülers Gedanken geſammelt zu halten auf der Unterweiſung einzigen Gegenſtand, wie der Gedanke von der Ungewißheit des Todes, wenn er den Gedanken an des Todes Gewißheit einübt.

Die Gewißheit des Todes beſtimmt den Lernenden ein für allemal im Ernſt, aber des Todes Ungewißheit iſt die tägliche, oder doch die häufige, oder doch die nötige Aufſicht, die über

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dem Ernſte wacht: erſt das iſt Ernſt. Und keine Aufſicht iſt ſo genau, nicht des Vaters über das Kind, nicht des Lehrers über den Schüler, ja nicht des Gefangenenwärters über den Ge⸗ fangenen; und keine Aufſicht ſo veredelnd wie die Ungewißheit des Todes, wenn ſie die Anwendung der Zeit und die Be⸗ ſchaffenheit des Tuns prüft, des Beſchließenden oder des Han⸗ delnden, des Jünglings oder des Greiſes, des Mannes oder des Weibes. Denn mit Rückſicht auf wohl angewandte Zeit iſt es im Verhältnis zum Abbruch durch den Tod nicht weſent⸗ lich, ob die Zeit lang oder kurz war; und mit Rückſicht auf das weſentliche Tun iſt es im Verhältnis zum Abbruch durch den Tod nicht weſentlich, ob es fertig oder nur begonnen wurde. Mit Rückſicht auf das Zufällige iſt die Länge der Zeit be⸗ ſtimmend, wie, um das Glück zu nennen: das Ende erſt ent⸗ ſcheidet, ob einer glücklich geweſen iſt. Im Verhältnis zur zu⸗ fälligen Tat, die im Außeren iſt, iſt es weſentlich, daß das Werk fertig wird. Aber die weſentliche Tat wird nicht weſentlich durch die Zeit und das Außere beſtimmt, inſoweit der Tod der Abbruch iſt. So wird der Ernſt der, jeden Tag zu leben, als wäre er der letzte und zugleich der erſte in einem langen Leben; und die Tat zu wählen, die nicht davon abhängig iſt, ob ein Menſchenalter vergönnt wird, ſie gut zu vollenden, oder nur eine kurze Zeit, ſie gut begonnen zu haben.

Endlich muß man von der Entſcheidung des Todes ſagen, daß ſie unerklärlich iſt. Ob nämlich die Menſchen eine Er⸗ klärung finden der Tod ſelbſt erklärt nichts. Denn wenn

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einer ihn mit dem Auge erblicken könnte, den bleichen, freude⸗ loſen Schnitter, wie er müßig ſteht, ſich ſtützend auf die Senſe, und er zu ihm hingehen wollte, es ſei nun, daß er meinte, ſein Überdruß am Leben müßte ihn bei ihm einſchmeicheln oder feine brennende Sehnſucht nach dem Ewigen könnte ihn rühren; wenn er ihm die Hand auf die Schulter legte und ſagte: erkläre dich, bloß ein Wort glaubſt du, er antwortete? Ich denke, er merkte es nicht einmal, daß einer ihm die Hand auf die Schulter legte und zu ihm redete. Oder wenn der Tod käme, ach, ſo ge⸗ legen, ach, wie der größte Wohltäter, wie ein Retter; wenn er käme und einen Menſchen davor rettete, ſich die Schuld zu⸗ zuziehen, die nicht bereut wird im Leben, weil die Schuld ein Ende macht dem Leben; wenn jener Unglückliche dem Tode danken wollte, daß er ihm das Geſuchte brachte und ihn hin⸗ derte, ſchuldig zu werden, glaubt einer, er verſtände ihn? Ich denke, er hörte nicht einmal ein Wort von dem, was er ſagte; denn er erklärt nichts. Ob er als die größte Wohltat kommt oder als das größte Unglück, ob er mit Jubel begrüßt wird oder mit verzweifeltem Widerſtand, davon weiß der Tod nichts, er iſt der Übergang; vom Verhältnis weiß er nichts, gar nichts.

Dieſe Unerklärlichkeit drängt ja nach einer Erklärung. Aber darin liegt der Ernſt, daß die Erklärung nicht den Tod erklärt, ſondern offenbart, wie der Erklärende in ſeinem innerſten Weſen beſchaffen iſt. Ernſte Mahnung, langſam zu ſein im Reden! Muß man auch lächeln, wenn man ſieht, wie die Ge⸗ dankenloſigkeit mit der Hand den grübelnden Kopf ſtützt, der

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die Erklärung ergründen ſoll; muß man auch wieder lächeln, wenn der Denker dann herausrückt mit ſeiner Erklärung; oder wenn, wie auf ein allgemeines Aufgebot ſelbſt die leichtfertigſten Denker im Vorübergehen mit einem Einfall bereit ſind, mit einer Bemerkung als Erklärung, die ſeltene Gelegenheit be⸗ nützend, da ja für alle der Tod ein unerklärliches Rätſel iſt: ach, der richtende Ernſt über ſolches Benehmen iſt, daß der Erklärende ſich ſelber angibt; verrät, wie gedankenlos, wie töricht ſein Leben iſt. Deshalb iſt Zurückhaltung mit der Er⸗ klärung bereits ein Zeichen von etwas Ernſt, der doch verſteht, daß der Tod, gerade weil er nichts iſt, nicht ſo etwas iſt, wie eine wunderliche Inſchrift, die jeder Vorübergehende ſuchen und leſen ſoll, oder wie eine Merkwürdigkeit, welche jeder ge⸗ ſehen haben, worüber jeder eine Meinung haben muß. Das Entſcheidende bei der Erklärung, das, was verhindert, daß das Nichts des Todes nicht die Erklärung zu nichts mache, iſt, daß ſie rückwirkende Kraft und dadurch Wirklichkeit im Leben des Lebendigen bekommt, ſo daß ihm der Tod zum Lehrer wird und nicht verräteriſch ihm zu einer Selbſtbezichtigung hilft, die den Erklärer angibt als einen Toren.

Als das Unerklärliche kann ja der Tod ſcheinen alles und nichts zu ſein, und die Erklärung ſcheint zu ſein, dieſes in einem Wort auszuſagen. Eine ſolche Erklärung gibt ein Leben an, das ſich begnügend mit dem Gegenwärtigen gegen den Ein⸗ fluß des Todes ſich wehrt durch eine Stimmung, die ſie im Gleichgewicht der Unentſchiedenheit hält. Der Tod bekommt

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nicht Macht, ein ſolches Leben zu ſtören, erhält wohl Einfluß, aber nicht rückwirkende Kraft, ein ſolches Leben umzubilden. Die Erklärung wechſelt nicht in verſchiedenen Stimmungen, aber der Tod wird in jedem Augenblick außerhalb des Lebens in das Gleichgewicht der Unentſchiedenheit geführt, das ihn im Ab⸗ ſtand hält. Und der höchſte Mut des Heidentums war es, wenn der Weiſe (deſſen Ernſt gerade darin ſeinen Ausdruck fand, daß er ſich mit der Erklärung nicht beeilte) mit dem Gedanken des Todes ſo zu leben vermochte, daß er dieſen Gedanken jeden

Augenblick in ſeinem Leben durch die Unentſchiedenheit über⸗

wand. Das irdiſche Leben wird hier ausgelebt, der Weiſe weiß, daß der Tod da iſt, er vergißt nicht in Gedankenloſigkeit, daß er da iſt, er begegnet ſich mit ihm im Gedanken, er entwaffnet ihn zur Ohnmacht in der Unbeſtimmbarkeit, und das iſt ſein Sieg über den Tod; aber der Tod kommt nicht dazu, das Leben umſchaffend zu durchdringen.

Als das Unerklärliche könnte der Tod ſcheinen das höchſte Glück zu ſein. Eine ſolche Erklärung verrät ein Leben in Kind⸗ lichkeit, die Erklärung iſt wie deren letzte Frucht: der Aber⸗ glaube. Der Erklärende hatte des Kindes und des Jünglings Vorſtellung vom Behaglichen und vom Unbehaglichen, aber das Leben ging hin, er ſah ſich betrogen, er ward älter an Jahren, nicht an Sinn, er griff nichts Ewiges; da ſammelte ſich die Kindlichkeit in ihm zu einer überſpannten Vorſtellung, daß der Tod kommen und alles in Erfüllung gehen laſſen würde; der Tod wurde nun der begehrte Freund, der Geliebte, der reiche

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Wohltäter, der alles zu verſchenken hatte, deſſen Erfüllung der Kindliche vergebens im Leben geſucht hatte. Zuweilen wird leichtſinnig oder dummdreiſt von dieſem Glück geredet, zuweilen wehmütig, zuweilen drängt der Erklärende ſich ſogar laut vor mit ſeiner Erklärung und will anderen helfen; aber ſie verrät nur, wie der Erklärende in ſeinem Innern beſchaffen iſt; daß er nicht des Ernſtes Rückwirkung vernahm, ſondern kindlich vorwärts haſtet, kindlich auf den Tod hofft, als hoffte er aufs Leben. |

Als das Unerflärliche kann der Tod ſcheinen das größte Un- glück zu ſein. Aber dieſe Erklärung gibt an, daß der Erklärende feig am Leben hängt, feig vielleicht an deſſen Begünſtigung, feig vielleicht an deſſen Leiden, ſo daß er das Leben fürchtet, aber den Tod noch mehr. Rückwirkende Kraft bekommt der Tod nicht, das will ſagen nicht in Kraft der Auffaſſung, denn ſonſt wirkt er wohl zurück, dem Einen des Glückes Begünſti⸗ gung freudelos, dem Andern irdiſches Leiden hoffnungslos zu machen.

So hat die Erklärung auch andere bezeichnende Namen ge⸗ braucht, ſie hat den Tod genannt: einen Übergang, eine Ver⸗ wandlung, ein Leiden, einen Streit, den letzten Streit, eine Strafe, der Sünde Sold. Jede dieſer Erklärungen enthält eine ganze Lebensanſchauung. Oh, ernſte Aufforderung an den Erklärenden! Leicht iſt es, ſie alle auswendig herzuſagen, leicht den Tod zu erklären, wenn es keine Überwindung koſtet, nicht

verſtehen zu wollen, daß die Rede darum geht, wie die Er⸗

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N - as 2 es

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klärung rückwirkende Kraft im Leben bekomme. Warum will man doch den Tod zu einem Spott über ſich verwanden; denn der Tod drängt ja nicht nach Erklärung, er hat gewiß niemals einem Denker zugemutet, ihm dabei behilflich zu ſein. Aber der Lebende drängt nach Erklärung, und warum? Um danach zu leben. |

Wenn einer z. B. meint, daß der Tod eine Verwandlung ſei, ſo kann das ganz richtig ſein, aber geſetzt nun, des Todes Ungewißheit, die wie der Lehrer umhergeht und alle Augen⸗ blicke nachſieht, ob der Schüler aufmerkſam iſt, geſetzt nun: ſie entdeckte, daß des Erklärenden Meinung ungefähr dieſe ſei: ich habe ein langes Leben vor mir, 30 Jahre, ja vielleicht 40, und dann kommt einmal der Tod wie eine Verwandlung; was möchte wohl der Lehrer denken von dieſem Schüler, der nicht einmal beim Tod die Beſtimmung der Ungewißheit erfaßt hatte? Und wenn einer meint, daß der Tod eine Verwandlung ſei, die einmal eintrete, und er, nicht ungleich einem Spieler, dies wie eine Begebenheit erwartet, die ſich einmal ereignen wird was würde wohl der Lehrer denken von dieſem Schüler, der nicht einmal darauf aufmerkſam war, daß es mit der Ent⸗ ſcheidung des Todes vorbei iſt, und daß alſo die Verwandlung nicht in die gleiche Reihe mit den übrigen Begebenheiten treten kann als eine neue Begebenheit, weil im Tod abgeſchloſſen iſt. Man kann eine Meinung haben über ferne Begebenheiten, über einen Naturgegenſtand, über die Natur, über gelehrte Schriften, über einen anderen Menſchen, und ſo über vieles

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andere, und wenn man dieſe Meinung äußert, kann der Weiſe entſcheiden, ob ſie richtig iſt oder unrichtig. Dagegen bemüht keiner den Meinenden damit, die andere Seite der Wahrheit zu betrachten, ob man nun wirklich die Meinung hat, ob ſie nicht etwas iſt, das man bloß herſagt. Und doch iſt dieſe andere Seite ebenſo wichtig, denn nicht der allein iſt ja geiſteskrank, der das Sinnloſe ſagt, ſondern ebenſoſehr der, welcher eine richtige Mei⸗ nung ſagt, wenn dieſe doch ganz und gar keine Bedeutung für ihn hat. Der eine Menſch erweiſt dem andern das Vertrauen, die Anerkennung, anzunehmen, daß es ſeine Meinung ſei, wenn er ſie ſagt. Ach, und doch iſt es ſo leicht, ſo ſehr leicht, eine wahre Meinung zu bekommen, ach, und doch iſt es ſo ſchwer, ſo ſehr ſchwer, eine Meinung zu haben und ſie in Wahrheit zu haben. Da nun der Tod der Gegenſtand des Ernſtes iſt, ſo iſt der Ernſt hier wieder: daß man den Tod betreffend gerade nicht ſich beeilen ſoll, eine Meinung zu erlangen. Des Todes Un⸗ gewißheit nimmt ſich ja beſtändig in allem Ernſt die Freiheit, nachzuſehen, ob der Meinende wirklich dieſe Meinung hat, das heißt, ob ſein Leben ſie ausdrückt. Im Verhältnis zu anderem kann man eine Meinung äußern, und wenn dann gefordert wird, daß man handeln ſoll in Kraft dieſer Meinung, alſo zeigen, daß man ſie hat, ſo ſind unzählige Ausflüchte möglich. Aber die Ungewißheit des Todes iſt des Schülers ſtrenger Ab⸗ hörer; und wenn der nun die Erklärung herſagt, ſo ſagt die Ungewißheit zu ihm: gut, ich werde unterſuchen, ob es deine Meinung iſt, denn jetzt, jetzt in dieſem Augenblick iſt es vorbei

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für dich, vorbei, da iſt kein Gedanke an Ausflucht, nicht ein Buchſtabe hinzuzufügen, ſo bekomme ich zu ſehen, ob du wirk⸗ lich meinteſt, was du über mich ſagteſt. Ach, alles leere Erklären und aller Wortſchwall und alles Ausmalen und alles Zu⸗ ſammenfügen früherer Erklärungen, um eine noch ſinn⸗ reichere zu finden, und alle Bewunderung dafür und alle Mühe damit: all dies iſt nur Zerſtreuung und Geiſtesabweſenheit in Gedankenferne was wohl die Ungewißheit des Todes davon denken mag?

Deshalb ſoll ſich die Rede jeder Erklärung enthalten; wie der Tod das letzte iſt von allem, ſo ſoll dies das letzte ſein, was über ihn geſagt wird: er iſt unerklärlich. Die Unerklärlichkeit iſt die Grenze, und die Bedeutung der Ausſage nur die, dem Gedanken des Todes rückwirkende Kraft zu geben, ihn zur vor⸗ wärtstreibenden Kraft im Leben zu machen, weil es mit der Entſcheidung des Todes vorbei iſt, und weil die Ungewißheit des Todes in jedem Augenblick nachſieht. Die Unerklärlichkeit iſt deshalb nicht eine Aufforderung, Rätſel zu raten, eine Ein⸗ ladung ſinnreich zu ſein, ſondern des Todes ernſte Mahnung an den Lebenden iſt: ich brauche keine Erklärung, bedenke du, daß es mit dieſer Entſcheidung vorbei iſt, und daß ſie jeden Augenblick da ſein kann; ſieh, das zu bedenken iſt wohl der Mühe wert für dich.

Vielleicht ſcheint es einem, daß er aus dieſer Rede nur wenig zu wiſſen bekomme; er weiß vielleicht ſelbſt viel mehr, und doch ſoll ſie nicht vergebens geweſen ſein, wenn die Vorſtellung von

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der Ungewißheit des Todes ihm Anlaß war, daß er ſich felbft daran erinnerte, daß viel zu wiſſen nicht unbedingt gut iſt. Viel⸗ leicht ſcheint es ihm, daß der Gedanke an den Tod nur furchtbar geworden iſt, und daß er doch auch eine mildere, eine freundlichere Seite für die Betrachtung habe, daß des müden Arbeiters Sehnſucht nach Ruhe, des müden Wanderers Haſten nach dem Ausgang, des Bekümmerten Vertröſtung auf des Todes ſchmerzſtillenden Schlaf, des Mißverſtandenen ſchwermütiger Drang, im Frieden zu ſchlummern, auch eine ſchöne und eine be⸗ rechtigte Erklärung des Todes ſei. Unleugbar! Aber ſie wird nicht auswendig gelernt, ſie wird nicht gelernt, indem man ſie nachlieſt, ſie wird langſam erworben, und wohl erſt erworben von dem, der ſich müde arbeitete im guten Handeln, der ſich müde wanderte auf dem rechten Weg, der bekümmert war für eine gerechte Sache, der mißverſtanden ward in einem edeln Streben erſt ſo wohl erworben iſt ſie an ihrer rechten Stelle und eine berechtigte Rede im Munde des Hochehrwürdigen. Aber der Jüngere darf nicht ſo reden, damit nicht die ſchöne Erklärung, gleichwie das weiſe Wort in eines Toren Mund, in ſeinem Mund eine Unwahrheit werde. Und ich habe wohl ge⸗ hört, daß des Kindes und des Jünglings ernſter Lehrer in einer ſpäteren Zeit des Alteren und Reiferen Freund wurde, aber ich habe niemals gehört, wenigſtens nicht von einem, von dem ich zu lernen wünſchte, daß es damit begann, daß der Lehrer jefort zum Spielbruder wurde und das Kind zum alten Mann, noch auch daß dann jenes Freundſchaftsverhältnis in Wahrheit

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eingetreten ſei. So mit dem Gedanken an den Tod. Hat er nicht einmal mit Schrecken das Leben des Jüngeren angehalten und den Ernſt nur gebraucht, um Maß zu halten mit dem Schrecken, hat die Ungewißheit des Todes nicht ihre Zeit zur Unterweiſung gehabt, wo ſie mit der Strenge des Ernſtes ihn auferzog: da habe ich niemals gehört, wenigſtens nicht von einem, an deſſen Wiſſen ich Teil zu haben wünſchte, ich habe niemals gehört von einem ſolchen, daß es da Wahrheit war, wenn einer den Tod ſeinen Freund nannte, da er in ihm niemals etwas anderes gehabt hatte als einen Spielbruder, wenn er ſchon in der Jugend, des Lebens müde, hinterliſtig, um das Leben zu betrügen, von der Freundſchaft des Todes redete, wenn er, ohne das Leben genoſſen zu haben, als Greis hinterliſtig, um ſich ſelbſt zu betrügen, von der Freundſchaft des Todes redete. Der, welcher hier geredet hat, er iſt jung, noch im Alter des Lernenden; er faßt nur die Schwierigkeit und die Strenge der Unterweiſung, oh, daß es ihm glücken möchte, dies ſo zu tun, daß er gerade dadurch würdig würde, ſich einmal an des Lehrers Freundſchaft erfreuen zu dürfen! Der, welcher hier geredet hat, er iſt ja nicht Lehrer, er läßt einen andern ja bloß, gleichwie er ſelbſt es iſt, Zeuge deſſen ſein, wie ein Menſch etwas zu lernen ſucht aus dem Gedanken an den Tod, jenen Lehrmeiſter des Ernſtes, der mit der Geburt jedem zum Lehrer für das ganze Leben beſtellt wurde, und der in Ungewißheit allzeit bereit iſt, die Unterweiſung zu beginnen, wenn ſie verlangt wird. Denn der Tod kommt nicht, weil einer nach ihm ruft (das wäre nur

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Spaß, daß ſo der Schwächere über den Stärkeren geböte), aber ſobald einer der Ungewißheit Eingang verſchafft, iſt der Lehrer da. Der Lehrer, der einmal kommt, um Prüfung abzuhalten und den Schüler zu überhören, ob er nun ſeine Unterweiſung genießen gewollt hat oder nicht. Und dieſe Prüfung des Todes, oder um mit einem mehr gebrauchten Fremdwort dasſelbe zu ſagen, dieſes letzte Examen des Lebens iſt gleich ſchwer für alle. Es iſt nicht ſo, wie ſonſt, daß der glücklich Begabte leicht hat, es zu beſtehen, der gering Begabte ſchwer, nein: der Tod hält die Prüfung ab im Verhältnis zur Begabung, und ſo genau, daß die Prüfung für jeden gleich ſchwer wird, weil es die Prüfung des Ernſtes iſt.

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Denke dir einen Kreis von Menſchen, vereint zu geſellſchaft⸗ licher Unterhaltung; das Geſpräch iſt in vollem Gange, lebhaft, faſt heftig, der eine kann, um das Seine anzubringen, kaum warten, bis der andere ausgeredet hat, und alle ſind mehr oder weniger eifrig beteiligt an dieſem Wortwechſel; da tritt ein Fremder ein. Aus den Mienen und dem Lärm der Ver⸗ ſammelten ſchließt er, daß der Gegenſtand der Unterredung ſie ſtark beſchäftige, und ſchließt höflich, daß dieſer alſo auch ein bedeutender ſein müſſe er fragt nun ruhig, was er ja ganz gut ſein kann, da er nicht in der Hitze mit dabei war, wovon da eigentlich geſprochen werde. Denke dir, daß es, wos doch oft vorkommt, eine reine Geringfügigkeit war. Der Fremde iſt alſo unſchuldig an der Wirkung, die er hervorbringt, er hat höflich angenommen, daß es etwas Bedeutendes ſei. Aber welche ſonderbare Wirkung, ſo plötzlich darauf aufmerkſam zu werden, daß das, was vielleicht mehr als eine Stunde lang eine große Geſellſchaft beſchäftigt hat, und faſt leidenſchaftlich, ſo unbedeutend iſt, daß es kaum ſich ſagen läßt, daß es nichts iſt, wenn ein Fremder ruhig fragt, wovon die Rede ſei!

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Aber eine noch ſonderbarere Wirkung bringt oft die fromme Rede hervor, wenn ſie in die weltliche hineintönt. So iſt in der Welt oft genug die Rede von Streit und Streit und Streit. Es iſt davon die Rede, daß der und jener Mann in Streit mit⸗ einander leben; daß Mann und Weib, wiewohl vereint durch das heilige Band der Ehe, in Streit miteinander leben; von dem gelehrten Streit, der nun zwiſchen dem und jenem be⸗ gonnen hat; davon, daß einer den anderen auf Leben und Tod gefordert hat; daß Aufruhr ausbrach in der Stadt; von den Tauſenden der feindlichen Heere, die nun vorrücken gegen das Land; von einem europäiſchen Krieg, der bevorſtehe; vom Streit der raſenden Elemente. Siehe, davon ſpricht man in der Welt, Tag aus, Tag ein, Tauſende und Abertauſende! Haſt du davon etwas zu erzählen, ſo wirſt du Zuhörer leicht finden; und wünſcheſt du davon etwas zu hören, ſo wirſt du Redner leicht finden. Aber ſtelle dir vor, daß einer an dieſer Rede von Streit Anlaß nähme, von dem Streite zu reden, den jeder Menſch zu ſtreiten hat mit Gott: welche ſonderbare Wir⸗ kung; ſollte es nicht den meiſten eher vorkommen, daß er es ſei, der von nichts redet, während alle die anderen doch von etwas redeten, oder ſogar von etwas ſehr Wichtigem! Sonder⸗ bar! Denn reiſ' um die Welt, mache Bekanntſchaft mit den ver ſchiedenen Völkerſchaften, geh umher zwiſchen den Menſchen, laſſe mit ihnen dich ein, beſuche fie in ihren Häuſern, folge mit zu ihren Zuſammenkünften und höre genau zu, was das iſt, von dem ſie reden; nimm an den vielen, vielen verſchiedenen Ge⸗

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Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen

ſprächen teil, über die unzählig vielen verſchiedenen Weiſen, wie ein Menſch hier in dieſer Welt zum Streit kommen kann, aber beſtändig ſo, daß du ſelbſt nicht der biſt, der dieſen Gegenſtand ins Geſpräch führt: und ſage dann, ob du jemals von dieſem Streit ſprechen gehört haſt. Und doch geht dieſer Streit jeden Menſchen an; es gibt keinen anderen, von welchem es in dem Grade gilt, daß er unbedingt jeden Menſchen angeht. Denn der Streit zwiſchen Mann und Mann nun, da ſind doch viele, die ihr Leben ohne Streit friedlich hinleben. Und der Streit zwiſchen Eheleuten nun, es gibt doch viele glück⸗ liche Ehen, welche dieſer Streit alſo nicht angeht. Und das iſt doch wohl eine Seltenheit, daß ein Menſch auf Leben und Tod gefordert wird, ſo daß dieſer Streit nur ſehr wenige angeht. Und ſelbſt in einem europäiſchen Krieg gibt es doch viele, ja wäre er auch am allerentſetzlichſten, da ſind doch viele, wenn nicht anderswo, ſo in Amerika, die in Frieden hinleben. Aber dieſer Streit mit Gott geht unbedingt jeden Menſchen an.

Doch vielleicht wird dieſer Streit für ſo heilig und ernſt ge⸗ halten, daß aus dieſem Grunde nie von ihm geſprochen wird. Wie Gott nicht geradezu in der Welt wahrzunehmen iſt, wo dagegen die ungeheure Menge des Mannigfaltigen die Auf⸗ merkſamkeit auf ſich zieht, ſo daß es iſt, als wäre Gott über⸗ haupt nicht da: ſo iſt vielleicht dieſer Streit wie ein Geheimnis, das jeder Menſch hat, von dem aber nie geredet wird, während all das andere, von dem geredet wird, die Aufmerkſamkeit auf

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ſich zieht, als wäre jener Streit überhaupt nicht da. Vielleicht iſt es ſo, vielleicht.

Aber gewiß iſt dieſes: jeder Leidende iſt auf die eine oder andere Weiſe veranlaßt, auf dieſen Streit aufmerkſam zu werden. Und an Leidende wenden ja dieſe Reden ſich. So laß uns reden von dieſem Streit, von der Freude im Ge⸗ danken: daß Gott, je ſchwächer du wirſt, um ſo ſtärker wird in dir.

Indeſſen gilt es hier, wie in allen dieſen Reden: alles beruht darauf, wie das Verhältnis geſehen wird. Will der Leidende, mißmutig, verſtimmt, vielleicht verzweifelt, dabei beharren, nur darauf zu ſtieren, wie ſchwach er geworden iſt: darin liegt keine Freude. Aber will er davon wegſehen, um zu ſehen, was es be⸗ deutet, daß er ſchwach wird, wer es denn iſt, der ſtark wird; daß es Gott iſt: ſo i ſt ja hier die Freude. Man hört zuweilen einen Überwundenen ſagen: „Ich ward überwunden, war der Schwächere (dieſes iſt das Schmerzliche), aber was mich tröſtet, ja freut, iſt, daß doch Er es war, der ſiegte.“ Welcher „Er“? Ja, das muß einer fein, von dem der Überwundene große Stücke hält, den er hochachtet. Die Freude iſt gewiß nicht vollkommen, er wäre lieber Sieger geworden; aber er gewinnt der Nieder⸗ lage eine frohere Seite ab, er gönnt dem Sieger den Sieg. Aber wenn nun Er, der ſiegt, Gott iſt und wieder iſt es ja nur ein falſches Sehen des Leidenden, wenn er nach außen darauf ſtieren will, daß es ſeine Feinde, ſeine Neider ſind, die ſtärker werden; denn wohl möglich, daß ſie ſtärker werden, aber

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damit hat der Leidende es gar nicht zu tun. Er wird ſchwach; nach innen verſtanden bedeutet dieſes einzig und allein, daß Gott ſtark wird. Alſo wenn nun Er, der ſiegt, Gott iſt! Gott den Sieg gönnen, damit ſich tröſten, daß Er es iſt, der geſiegt hat! oh, das heißt doch im Grunde den Sieg ſich ſelber gönnen! Denn im Verhältnis zu Gott kann ein Menſch in Wahrheit nur dadurch ſiegen, daß Gott ſiegt. Doch laſſet uns erſt danach ſtreben, es recht einleuchtend zu machen, daß dieſes, daß ein Menſch ſchwach wird, nach innen bedeutet, daß Gott ſtark

wird in ihm. Und das iſt's, worum wir zuerſt und zuletzt den

Leidenden bitten müſſen, was wir von ihm fordern müſſen, um zu ihm reden zu können, daß er, ſo raſch wie möglich, das Auge vom Außeren wegwende, den Blick nach innen kehre, damit dieſer nicht, und er mit ihm, in einer äußeren Betrach⸗ tung des Verhältniſſes ſeines Leidens zu einer Umwelt hängen

bleibe. Wenn ſo das erſte getan iſt, wenn es einleuchtend ge⸗

macht worden iſt, daß dieſes, daß ein Menſch ſchwach wird, nach innen bedeutet, daß Gott ſtark wird in ihm: ſo wird von ſelbſt folgen, daß dieſes Freude iſt.

Ein Menſch, der nur ſelten, und dann flüchtig, mit ſeinem Verhältnis zu Gott ſich beſchäftigt, denkt kaum daran oder träumt davon, daß er Gott ſo nahe angeht, oder daß Gott ihm ſo nahe liegt, daß zwiſchen ihm und Gott ein Wechſelverhältnis ſtatt hat: je ſtärker ein Menſch iſt, um ſo ſchwächer iſt Gott in ihm; je ſchwächer ein Menſch iſt, um ſo ſtärker iſt Gott in ihm. Jeder, der annimmt, daß ein Gott iſt, denkt Ihn ſich

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natürlich als den Stärkſten, was Er ja ewig iſt, Er, der All⸗ mächtige, der aus nichts ſchafft, und für den alle Schöpfung iſt wie nichts; aber er denkt wohl kaum die Möglichkeit eines Wechſelverhältniſſes.

Doch iſt da für Gott, den ewig Stärkſten, ein Hindernis; Er hat es Sich ſelbſt geſetzt, ja Er hat liebreich, in unbegreif⸗ licher Liebe, es Sich ſelber geſetzt; denn Er ſetzte es, und ſetzt es, jedesmal wenn ein Menſch wird, den Er in Seiner Liebe erſchafft, daß er vor Ihm etwas ſei. Oh, wunderreiche Allmacht und Liebe! Ein Menſch, er kann es nicht ertragen, daß ſeine „Geſchöpfe“ etwas ſeien ihm gegenüber; ſie ſollen nichts ſein, deshalb nennt er fie auch, mit Verachtung „Geſchöpfe“. Aber Gott, der aus nichts ſchafft, allmächtig aus dem Nichts nimmt und ſagt: Werde! Er fügt liebreich hinzu: Werde etwas ſogar vor Mir! Wunderreiche Liebe, ſelbſt Seine Allmacht iſt noch in der Macht der Liebe!

Darum das Wechſelverhältnis. Wäre Gott nur der Allmäch⸗ tige, ſo gäbe es kein Wechſelverhältnis; denn für den Allmäch⸗ tigen iſt das Geſchöpf nichts. Aber für die Liebe iſt es etwas. Unbegreifliche Allmacht der Liebe! Denn es iſt, als könnte man doch, im Vergleich mit dieſer Allmacht, beſſer begreifen, was man doch nicht begreifen kann: die Allmacht, die aus nichts ſchafft; aber dieſe Allmacht, die (wunderreicher, als alles Wer⸗ den der Schöpfung!) ſich ſelber zwingt, und das Erſchaffene liebreich zu etwas vor Ihr macht: oh, wunderreiche Allmacht der Liebe! Strenge deinen Gedanken bloß ein wenig an; das

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iſt nicht ſo ſchwer, und es iſt doch ſo ſelig. Die Allmacht, die aus nichts ſchafft, iſt nicht ſo unbegreiflich, wie die allmächtige Liebe, die jenes vor der Allmacht erbärmliche Nichts zum Gegenſtand der Liebe machen kann.

Aber juſt deshalb fordert auch die Liebe etwas vom Men⸗ ſchen. Die Allmacht fordert nicht etwas; der Allmacht fällt niemals etwas anderes ein, als daß der Menſch nichts iſt für die Allmacht iſt er nichts. Man meint, daß der allmächtige Gott es ſei, der etwas fordert vom Menſchen, und dann, viel⸗

leicht, daß es der liebende Gott ſei, der etwas nachgibt. O trau⸗

riges Mißverſtändnis, das vergißt, wie Gottes unendliche Liebe ſchon da fein muß, damit ein Menſch fo für Gott eriftiere, daß die Rede davon ſein kann, etwas von ihm zu fordern. Wenn der Allmächtige etwas von dir forderte, ſo wäreſt du im ſelben Augenblicke nichts. Aber der liebende Gott, der in unbegreif⸗ licher Liebe dich zu etwas vor Ihm ſchuf, Er fordert liebreich etwas von dir. In menſchlichen Verhältniſſen iſt es die Macht des Mächtigen, die etwas von dir fordert, ſeine Liebe aber, die nachgibt. Aber nicht ſo in deinem Verhältnis zu Gott. Es gibt keinen irdiſchen Machthaber, für den du nichts biſt, deshalb iſt es ſeine Macht, die fordert; aber vor Gott biſt du nichts, deshalb iſt es Seine Liebe, die, wie ſie dich zu etwas erſchuf, etwas von dir fordert. Man redet davon, daß die Allmacht Gottes einen Menſchen zermalme. Aber das iſt nicht ſo; ſo viel iſt kein Menſch, daß Gott die Allmacht gebrauchen müßte, um ihn zu zermalmen, denn für die Allmacht iſt er nichts. Es

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

iſt die Liebe Gottes, die noch im letzten Augenblick Seine Liebe erweiſt, indem Er den Menſchen etwas vor Ihm ſein läßt. Wehe ihm, wenn die Allmacht gegen ihn ſich wendete!

Alſo die Liebe, die den Menſchen zu etwas erſchuf (denn die Allmacht ließ ihn werden, aber die Liebe ließ ihn daſein vor Gott) fordert liebend etwas von ihm. Nun iſt das Wechſel⸗ verhältnis da. Will der Menſch dieſes Etwas, wozu die Liebe ihn ſchuf, ſelbſtiſch für ſich behalten, ſelbſtiſch dieſes Etwas ſein, ſo iſt er, weltlich verſtanden, ſtark aber Gott ſchwach. Es iſt auch faſt, als wäre Gott geprellt: in unbegreiflicher Liebe hat Er den Menſchen zu etwas geſchaffen und darnach be⸗ trügt Ihn der Menſch, behält dieſes, als wäre es ſein Eigenes. Der Weltliche beſtärkt ſo ſich ſelbſt darin, daß er ſtark ſei, wird vielleicht durch das weltliche Urteil anderer im ſelben beſtärkt, ſchafft vielleicht durch ſeine vermeintliche Stärke die Geſtalt der Welt um aber Gott iſt ſchwach. Gibt dagegen der Menſch ſelbſt dieſes Etwas auf, die Selbſtändigkeit, die Freiheit, über ſich ſelbſt zu verfügen, welche die Liebe ihm ſchenkte; mißbraucht er nicht dieſe ſeine Vollkommenheit, vor Gott zu ſein, indem er ſie eitel nimmt; hilft Gott ihm viel⸗ leicht in dieſer Hinſicht durch ſchwere Leiden, indem Er ihm das Liebſte nimmt, ihn an ſeiner zarteſten Stelle verwundet, ihm die Erfüllung ſeines einzigen Wunſches verweigert, ihm ſeine letzte Hoffnung raubt, ſo iſt er ſchwach. Ja, das wird ihm jeder ſagen, ſo wird er von allen angeſehen werden, keiner will gemeinſame Sache mit ihm machen, denn es ſieht ja aus, als

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wäre er nur eine Bürde, die das Mitleid zu tragen habe. Er iſt ſchwach aber Gott iſt ſtark. Er, der Schwache, hat ganz dieſes Etwas aufgegeben, zu dem die Liebe ihn ſchuf, er hat aus ganzem Herzen eingewilligt, daß Gott alles von ihm nehme, was da genommen werden kann. Gott wartet bloß darauf, daß er liebend ſeine demütige, ſeine freudige Einwilli⸗ gung gebe und dadurch alles ganz aufgebe, ſo daß er ganz ſchwach iſt und ſo iſt Gott am ſtärkſten. Es gibt nur einen, der Gott daran hindern kann, der Stärkſte zu werden, Ihn, der doch

ewig der Stärkſte iſt: dieſer eine iſt der Menſch ſelber. Daß

Gott ſo der Stärkſte iſt, wird erkannt an dieſem: daß der Menſch ganz ſchwach iſt. Es gibt für Gott nur ein Hindernis: die Selbſtſucht des Menſchen, die zwiſchen Gott und den Men⸗ ſchen tritt, wie der Schatten der Erde, wenn ſie den Mond ver finſtert. Beſteht dieſe Selbſtſucht, fo iſt der Menſch ſtark, aber ſeine Kraft iſt Gottes Schwachheit; iſt dieſe Selbſtſucht weg, ſo iſt der Menſch ſchwach, Gott ſtark; je ſchwächer er wird, deſto ſtärker wird Gott in ihm.

Doch da dieſes ſo iſt, ſo iſt das Verhältnis in einem anderen Sinne, im Sinne der Wahrheit umgekehrt, und nun ſind wir in der Freude.

Denn der, welcher ſtark iſt ohne Gott, er iſt in Wahrheit ſchwach. Die Kraft, mit der ein Mann allein ſteht, kann im Vergleich mit der eines Kindes, Kraft ſein. Aber die Kraft, mit der ein Menſch allein ohne Gott ſteht, iſt Schwachheit. Gott iſt in dem Maße der Starke, daß Er alle

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden.

Kraft, daß Er die Kraft iſt. Ohne Gott ſein heißt alſo ohne Kraft ſein, ſtark ſein ohne Gott alſo: ſtark ſein ohne Kraft; es iſt wie lieben, ohne Gott zu lieben, alſo lieben ohne Liebe, denn Gott i ſt die Liebe.

Aber der, welcher ganz ſchwach ward, in ihm wurde Gott ſtark. Der, welcher anbetend und liebend und preiſend ſchwächer und ſchwächer ward, ſich ſelber vor Gott unbedeutender als ein Sperling, wie ein Nichts, in ihm wird Gott ſtärker und ſtärker. Und dieſes, daß Gott ſtärker und ſtärker wird in ihm, bedeutet, daß er ſelber ſtärker und ftärfer wir d. Wenn du ganz ſchwach werden könnteſt in vollkommenem Gehorſam, ſo daß du liebend Gott verſtändeſt, daß du gar nichts vermagſt, ſo würden alle Machthaber der Welt, wenn ſie gegen dich ſich vereinten, dir nicht ein Haar auf deinem Haupte zu krümmen vermögen: welche ungeheure Kraft! Aber das iſt ja auch gar nicht wahr; und laſſet uns um alles nicht eine Unwahrheit ſagen. Ja, gewiß vermöchten ſie es, ſie vermögen ja ſogar dich totzuſchlagen, und die Vereinigung aller Machthaber der Welt iſt dazu gar nicht nötig, das weit, weit Geringere kann und leicht genug das tun. Aber wenn du doch ganz ſchwach wäreſt, in vollkommenem Gehorſam, ſo ſollten alle Machthaber der Welt vereint nicht vermögen, dir ein Haar auf deinem Haupte zu krümmen anders, als Gott es will. Und wenn es dir ſo gekrümmt wird, ja und wenn du ſo verhöhnt wirſt, ja und wenn du ſo totgeſchlagen wirſt ſo du ganz ſchwach wäreſt, in vollkommenem Gehorfam: da

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Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen

wür deſt du liebend verſtehen, daß dir kein Schade zugefügt wird, nicht der geringſte, daß es juſt dein wahres Wohl iſt welche ungeheure Kraft!

Und ſelbſt wenn es nicht ſo wäre, daß du, in deſſen Schwach⸗ heit Gott ſtark iſt, der Stärkſte biſt: da iſt ja doch die Freude, die Seligkeit, daß Gott ſtärker und ſtärker wird. Laſſet uns von einem Verhältnis zwiſchen Menſch und Menſch reden, das, wenn auch ganz unvollkommen, in etwas dem entſpricht, was im Verhältnis zwiſchen Menſch und Gott die Wahrheit der Anbetung“ iſt, laſſet uns von der Bewunderung reden. Be⸗ wunderung iſt in ſich ein Doppeltes, kann von zwei Seiten be⸗ trachtet werden; das erſte iſt ein Gefühl von Schwachheit, da ja der Bewundernde in der Bewunderung zur Überlegenheit ſich verhält. Aber Bewunderung iſt ein glückliches Verhältnis zur Überlegenheit und iſt alſo ein ſeliges Gefühl; in wahrer Ein⸗ ſtimmigkeit mit ſich ſelbſt bewundern iſt vielleicht ſeliger als der Bewunderte zu ſein. Daß das erſte der Bewunderung ein Gefühl des Schmerzes iſt, erſieht man auch daraus, daß, wenn einer die Überlegenheit ſpürt, aber unwillig ſie einräumt, nicht freudig, er weit entfernt iſt, glücklich zu ſein, er iſt im Gegen⸗ teil höchſt unglücklich, in peinvollem Schmerz. Sobald er da⸗ gegen der Überlegenheit ſich ergibt, die er im Grunde doch, aber unglücklich bewunderte, und in Bewunderung ſich ergibt, ſo liegt die Freude in ihm. Je mehr eins mit ſich ſelbſt er iſt im Bewundern, um ſo näher iſt er dabei, der Überlegenheit faſt überlegen zu werden; er iſt in ſeiner Bewunderung unbe⸗

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

ſchreiblich befreit von allem Druck der Überlegenheit, er unter⸗ liegt nicht der Überlegenheit, ſondern er ſiegt in der Bewun⸗ derung. Laſſet uns nun vergeſſen, was hier an Unvollkommenem ſein mag, inſofern Bewunderung im Verhältnis zwiſchen Menſch und Menſch der Anbetung im Verhältnis zwiſchen Menſch und Gott entſprechen ſoll. Gott iſt unendlich der Stärkſte; das glaubt im Grunde jeder Menſch, und fühlt inſo⸗ weit, ob er will oder nicht will, Gottes unendliche Überlegen⸗ heit über ſein eigenes Nichts. Aber ſolange er nur glaubt, daß Gott der Stärkſte iſt, und, um das Furchtbare zu nennen, es glaubt, wie ja auch der Teufel es tut und bebt; ſolange er es nur ſo glaubt, daß er nicht froh dabei wird: ſo lange iſt das Verhältnis peinigend, unglücklich, ſeine Schwachheit ein qual⸗ volles Gefühl. Denn Trotz iſt im Verhältnis zur Anbetung, was Neid im Verhältnis zur Bewunderung iſt. Trotz iſt Schwachheit und Ohnmacht, der ſich ſelbſt unglücklich macht, indem er nicht Schwachheit und Ohnmacht ſein will, iſt das unglückliche Verhältnis der Schwachheit und Ohnmacht zur Überlegenheit, gleichwie der Neid ſich ſelbſt martert, weil er nicht ſein will, was er im Grunde doch iſt: Bewunderung. Es wird vom Menſchen gefordert, was ſchon im Verhältnis der Bewunderung (denn der Bewundernde verliert ſich ſelber in der Bewunderung des ſo viel Größeren) angedeutet iſt, daß er ſich ſelbſt verlieren ſoll an Gott. Tut er das von ganzem Herzen, aus aller Kraft und mit ſeinem ganzen Sinn, ſo iſt er in einem glücklichen Verhältnis zu Gott als dem Stärkſten, ſo iſt er

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Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen

anbetend; nie, nie ward irgendein Liebender ſo glücklich; nie, nie ſpürte der vertrocknetſte und in Dürre ſchmachtende Erd⸗ boden des Regens Erquickung fo lebendig, wie der Anbetende in ſeiner Schwachheit ſelig die Kraft Gottes ſpürt. Nun paſſen dieſe beiden, Gott und der Anbetende, zueinander, glücklich,

ſelig, wie nie Liebende zueinander gepaßt haben. Das iſt nun des Anbetenden einziger Wunſch, ſchwächer und ſchwächer zu werden, denn um ſo größer die Anbetung; das iſt der Anbetung einziger Drang, daß Gott ſtärker und ſtärker werde. Der An⸗

betende hat ſich ſelbſt verloren, und fo, daß dieſes das einzige

iſt, das er los zu ſein wünſcht, das einzige, das er flieht; er hat Gott gewonnen und ſo iſt es ſeine eigene Sache, daß Gott ftärfer und ſtärker werde... |

Der Anbetende ift der Schwache; fo muß es allen anderen vorkommen, und das iſt das Demütigende. Er iſt ganz ſchwach; er vermag nicht, wie andere, Beſchlüſſe zu faſſen für ein langes

Leben, nein, er iſt ganz ſchwach; er vermag kaum im voraus

für den morgigen Tag einen Beſchluß zu faſſen, ohne hinzu⸗

zufügen: „So Gott will.“ Er vermag nicht auf ſeine Kraft zu

trotzen, auf ſeine Talente, auf ſeine Gaben, ſeinen Einfluß, er vermag nicht, ſtolze Worte zu reden von dem, was er vermag

denn er vermag gar nichts. Das iſt das Demütigende. Aber nach

innen, welche Seligkeit! Denn dieſe ſeine Seligkeit iſt das Geheimnis der Liebe mit Gott, iſt Anbetung. Je ſchwächer er ſelber wird, um ſo innerlicher kann er anbeten; und je inner⸗ licher er anbetet, um ſo ſchwächer wird er und um ſo ſeliger.

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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden

Iſt es alſo nicht Freude, daß Gott, je ſchwächer du wirſt, um ſo ſtärker wird in dir, oder, iſt es nicht Freude, daß du ſchwach wirſt? Iſt da im Grund darüber zu klagen, daß das Schwere dich traf, vor dem dir vielleicht am meiſten graute, und das dich ganz ohnmächtig und ſchwach machte: je ſchwächer du wirſt, um ſo ſtärker wird Gott in dir. Und daß dieſes Freude iſt, oh, das wirſt du ja doch wohl ſelber zugeſtehen! Bedenke, wie armſelig, wenn ein Menſch ſein Leben hinbringen könnte, ſtolz und ſelbſtzufrieden, ohne jemals etwas bewundert zu haben; aber wie furchtbar, wenn ein Menſch ſein Leben hinbringen könnte, ohne jemals über Gott geſtaunt zu haben, ohne aus Staunen über Gott in Anbetung ſich verloren zu haben! Aber anbeten kann man nur, indem man ſelber ſchwach wird; deine Schwachheit iſt weſentlich: Anbetung; wehe dem Vermeſſenen, der, vermeintlich ſtark, frech genug ſein wollte, als Starker Gott anzubeten! Der wahre Gott wird angebetet nur im Geiſt und in der Wahrheit aber die Wahrheit iſt juſt, daß du ganz ſchwach biſt.

So iſt nichts zu fürchten in der Welt, nichts von dem, das dich all deiner eigenen Kraft berauben und dich ganz ſchwach machen kann, das all dein Zutrauen zu dir ſelbſt zer brechen und dich ganz ſchwach machen kann, das deinen irdiſchen Mut ganz niederbeugen und dich ganz ſchwach machen kann denn je ſchwächer du wirſt, deſto ſtärker wird Gott in dir.

Nein: ſo verſtanden, iſt nichts in der Welt zu fürchten denn nur die Sünde iſt das Verderben des Menſchen.

234

Inhalt

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Liebe deckt der Sünden Menge. . . . . - %%% ̃ A

Die Bekräftigung im inneren Menſchen JJ RER

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Die Kraft Gottes in der Shwanleit des Menſchen ;

Vom felben Überſetzer ift erſchienen:

Sören Kierkegaard und die Philoſophie der Innerlichkeit München, Verlag J. F. Schreiber 1913

*

Sören Kierkegaard: Der Pfahl im Fleiſch Brenner-Verlag, Innsbruck 1914

*

Sören Kierkegaard: Kritik der Gegenwart 2. Auflage. Brenner-Verlag, Innsbruck 1922

*

Sören Kierkegaard: Der Begriff des Auserwählten

Hellerauer Verlag Jak. Hegner 1917

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