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Full text of "Religiöse Reden"

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Be Sören Kierfegaard 


Religiöſe Reden 


Ins Deutſche übertragen 
von 
Theodor Haecker 


Verlag Hermann A. Wiechmann München 
1922 


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LIBRARY ST. MARY’S COLLEGE 


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Vorwort 


Es war, ſeitdem ich die geſamten Werke Kierkegaards 
kannte, immer mein Wunſch geweſen, es möchten ſeine erbau⸗ 
lichen religiöſen und chriſtlichen Reden dem deutſchen Leſer vor⸗ 
gelegt werden, dieſe Reden, die — noch ganz abgeſehen davon, 
daß ſie zweifellos zu den ſeltenen Meiſterwerken oratoriſcher 
Sprachkunſt alter und neuer Zeiten innerhalb des europäiſch⸗ 
chriſtlichen Kulturkreiſes gehören — darum ſo wichtig ſind, 
weil für ſie allein ja Kierkegaard die volle Verantwortung 
ſeiner ganzen Perſon übernahm, ſie allein mit dem eigenen 
Namen deckte, während alle die anderen großen philoſophiſchen 
und dichteriſchen Werke ſozuſagen nur mehr oder weniger den 
oberen oder gar nur möglichen Schichten ſeiner Perſon ent⸗ 
ſtammen und deshalb unter Pſeudonymen erſchienen find. Die⸗ 
ſer mein Wunſch mußte ſich noch ſteigern in der letzten Zeit 
durch die Tatſache, daß immer mehr mit Kierkegaard ſich be⸗ 
ſchäftigen, und nicht immer ernſt und mit Sach⸗ und Per⸗ 
ſonenkenntnis, ja es mußte ſich mir die Einſicht aufdrängen, 
daß es ein Akt ſimpler Gerechtigkeit gegenüber Kierkegaard iſt, 
endlich auch einmal, und wäre es auch nur zum Teil, jene Werke 
vorzulegen, die er ſelber für weitaus die wichtigſten gehalten 


III 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


hat. Wohl kann ein Autor im Urteil über die Bedeutung ſeiner 
eignen Werke irren, aber das gilt ſchließlich doch nur für das 
Aſthetiſche, und würde Kierkegaard hier geirrt haben, ſo käme 
das einer Selbſtvernichtung gleich. Dazu kommt noch, daß die 
neuere proteſtantiſche Theologie, ſoweit ſie wieder denken will 
und ſucht nach Halt und Wirklichkeiten, zweifellos, ob ſie es 
weiß oder nicht weiß, ob ſie es will oder nicht will, ob es ſie den 
rechten Weg weiſt oder den falſchen, einerlei: ſie lebt und denkt 
im Schatten eines Großen, eben Kierkegaards: 

— Darum iſt es mir eine Freude, die nun folgenden Reden 
überſetzt zu haben und herausgeben zu dürfen. Ihre Gegen⸗ 
ſtände ſind, außer in der Rede: „An einem Grab“, die eigent⸗ 
lich rein philoſophiſch iſt, einige Wahrheiten des Chriſtentums, 
nicht alle, gewiß nicht, aber einige der wichtigſten, wie das 
Daſein Gottes in all ſeiner Majeſtät als Schöpfer und Richter, 
die Sündhaftigkeit des Menſchen und ſein Bedürfnis nach Er⸗ 
löſung, die Erlöſertat Jeſu Chriſti und das letzte Weſen Gottes 
als Liebe: Göttliche Liebe. Dieſe Wahrheiten ſind feſtgehalten 
nicht bloß als Probleme oder Gedanken oder gar Fiktionen, 
ſondern mit Ernſt und Bekümmerung als Realitäten und Wirk⸗ 
lichkeiten, die Einlaß fordern in den Geiſt des Menſchen, und 
dort eingelaſſen, ihn umſchaffen zu Gottes Wohlgefallen. 

Allen Reden, die Kierkegaard veröffentlicht hat, alſo auch 
den folgenden, hat er immer die ausdrückliche Bemerkung vor⸗ 
angeſtellt: „Es ſind nicht Predigten, weil der Verfaſſer nicht 
Autorität hat, zu predigen“, und was er unter „Autorität“ 


IV 


Vorwort 


ver ſtand, hat er in jenen Zeiten fo ausgedrückt: „Die Autorität 
iſt eine ſpezifiſche Qualität entweder einer apoſtoliſchen Be⸗ 
rufung oder der Ordination !).“ 

Über den Leſer, den Kierkegaard für fein Werk ſich wünſcht, 
mögen ſeine eigenen Worte Aufſchluß geben: 

„Es ſucht jenen Einzelnen, den ich mit Freude und Dank⸗ 
barkeit meinen Leſer nenne, oder es ſucht ihn auch nicht. 
Unwiſſend um Zeit und Stunde wartet es in Stille, daß 
jener rechte Leſer kommen möge wie der Bräutigam und die 
Gelegenheit mit ſich bringe. Jeder tue das Seine, der Leſer 
alſo das meiſte. Die Bedeutung liegt in der Aneignung. 
Daher des Buches frohe Hingabe. Hier iſt kein welt⸗ 
liches Mein und Dein, das trennt und verbietet ſich anzu⸗ 
eignen, was dem Nächſten gehört. Denn Bewunderung iſt 
doch ein wenig Neid und alſo ein Mißver ſtändnis, und Tadel 
in all feiner Berechtigung doch ein wenig Wider ſtand und 
alſo ein Mißverſtändnis, und Wiedererkennung im Spiegel 
nur eine flüchtige Bekanntſchaft und alſo ein Mißverſtänd⸗ 
nis — aber richtig hinzuſehen und nicht vergeſſen zu wollen, 
was die Ohnmacht des Spiegels nicht zu bewirken vermag: 
das iſt die Aneignung, und die Aneignung iſt des Leſers 
noch größere, iſt ſeine ſiegreiche Hingebung.“ 


Th. H. 


) S. Kierkegaard, Der Begriff des Auserwählten. Hellerau 1917. S. 322. 
V 


Liebe deckt der Sünden Menge 


Ep. i. Pet. 4, 7-12 
Erſter Teil. 


Was macht einen Menſchen groß, zum Wunder der Schöp⸗ 
fung, wohlgefällig in den Augen Gottes? Was macht einen 
Menſchen ſtark, ſtärker als die ganze Welt, was macht ihn 
ſchwach, ſchwächer als ein Kind? Was macht einen Menſchen 
unerſchütterlich, unerſchütterlicher als den Felſen, was macht 
ihn weich, weicher als Wachs? — Es iſt die Liebe! Was iſt 
älter als alles? Es iſt die Liebe. Was überlebt alles? Es iſt 
die Liebe. Was kann nicht genommen werden, aber nimmt ſelber 
alles? Es iſt die Liebe. Was kann nicht gegeben werden, aber 
gibt ſelber alles? Es iſt die Liebe. Was beſteht, wenn alles 
trügt? Es iſt die Liebe. Was tröſtet, wenn aller Troſt verſagt? 
Es iſt die Liebe. Was dauert, wenn alles wechſelt? Es iſt die 
Liebe. Was bleibt, wenn das Unvollkommene abgeſchafft wird? 
Es iſt die Liebe. Was zeugt, wenn die Prophetie verſtummt? 
Es iſt die Liebe. Was läßt nicht ab, wenn die Geſichte aufhören? 
Es iſt die Liebe. Was erklärt, wenn die dunkle Rede zu Ende 
iſt? Es iſt die Liebe. Was legt Segen in der Gaben Überfluß? 
Es iſt die Liebe. Was gibt Gewicht der Rede der Engel? Es 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


iſt die Liebe. Was macht der Witwe Scherflein zum Überfluß? 
Es iſt die Liebe. Was macht des Einfältigen Rede zur Weis⸗ 
heit? Es iſt die Liebe. Was ändert ſich niemals, wenn alles ſich 
ändert? Es iſt die Liebe; und nur ſie iſt die Liebe, ſie, die nie⸗ 
mals etwas anderes wird. Denn auch der Heide pries die 
Liebe, ihre Schönheit und ihre Macht; aber ſeine Liebe konnte 
zu etwas anderem werden, das er faſt höher noch pries. Die 
Liebe war ſchön, ſchöner als alles; aber die Rache war ſüß, 
ſüßer als alles. Und ſo töricht war der Gedanke des Heiden von 
der Liebe und dem Göttlichen, ſo ſelbſtſüchtig war alles im 
Himmel und auf Erden, daß die Macht, die wohlwollend den 
Menſchen die Freude der Liebe ſchenkte, neidiſch die Rache ſich 
ſelber vorbehielt, weil ſie das Süßeſte war. Was Wunder, 
daß die Rache in aller Liebe des Heiden ſich verbarg; daß die 
Angſt nicht ausgetrieben war, wenn ſie auch vergeſſen war; was 
Wunder, daß der Feind in der Stille arbeitete, ſelbſt wenn die 
Liebe am ſicherſten ſchlief, daß der Zorn heimlich auf der Lauer 
lag und nach Anlaß ſpähte; was Wunder, daß er plötzlich 
hervorbrach in all ſeiner Wildheit; was Wunder, daß er des 
Heiden Seele erfüllte, der ſeine verbotene Süße einſaugte und 
dadurch ſeiner Verwandtſchaft mit dem Göttlichen ſich ver⸗ 
gewiſſerte! Was Wunder, daß keine Liebe glücklich war, wie 
kein Menſch im Heidentum es war, ehe die letzte Stunde ge⸗ 
kommen war, die wieder nur bitter einen Menſchen mit der 
Vorſtellung narren konnte, daß er glücklich geweſen war! 
Was Wunder, daß Leid in alle Freude ſich miſchte, daß be⸗ 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


ſtändig der nächſte Augenblick, ſelbſt im Augenblick der Freude, 
ängſtigend wie die Geſtalt des Todes vorüberging! Wie ſollte 
auch ein Heide vermögen, die Welt zu überwinden; aber ver⸗ 
mochte er dieſes nicht, wie ſollte er denn die Welt gewinnen? 
Was ändert ſich nie, wenn alles ſich ändert? Es iſt die Liebe, 
und nur ſie iſt die Liebe, ſie, die niemals etwas anderes wird. 
Denn auch der fromme Jude gab der Liebe Zeugnis, aber ſeine 
Liebe war das Kind der Veränderlichkeit und des Wechſels, 
und er verſtand ſeine Feinde zu haſſen. Überließ er auch die 
Rache dem Herrn, weil ſie ihm gehört, ſeine Seele war doch 
nicht unbekannt mit ihrer Süße; denn auch dieſes Bewußtſein 
iſt ſüß, daß des Herrn Rache ſchrecklicher iſt als alle menſch⸗ 
liche Rache, daß der Menſch ſeinen Feind verflucht, aber daß 
der Herr den Gottloſen und des Gottloſen Geſchlecht durch viele 
Glieder verflucht. Was Wunder, daß die Angſt allzeit ein Auge 
wach hatte, ſelbſt wenn die Liebe am ſorgloſeſten war; was 
Wunder, daß der Zorn, ſelbſt wenn die Liebe am wenigſten 
davon träumte, in aller Stille ſaß und nachrechnete über Ein⸗ 
nahme und Ausgabe, über Mein und Dein! Was Wunder, 
daß keine Liebe glücklich war, ehe die letzte Stunde kam, weil 
erſt dann der Liebe ungewiſſe Forderung eingelöſt war. 
Was verändert ſich niemals, wenn alles ſich verändert? Es 
iſt die Liebe. Und nur ſie iſt die Liebe, ſie, die niemals etwas 
anderes wird; ſie, die alles hingibt und aus dieſem Grund 
nichts zu fordern hat; ſie, die nichts fordert und deshalb nichts 
zu verlieren hat; ſie, die ſegnet und ſegnet, wenn ihr geflucht 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


wird; ſie, die ihren Nächſten liebt, aber deren Feind auch ihr 
Mächſter iſt; fie, die die Rache dem Herrn überläßt, weil fie 
ſich vertröſtet, daß Er noch barmherziger iſt. 

Dieſe Liebe iſt es, von der der Apoſtel in unſerem Texte redet, 
und wie dieſe Liebe viele Male und auf viele Weiſe ein apoſto⸗ 
liſches Zeugnis empfing, ſo zeugt er wieder hier von ihrer Macht 
und ſagt: Liebe deckt der Sünden Menge. 

Dieſe Worte und dieſes Zeugnis wollen wir betrachten. Doch 
wie ſollen wir davon reden? Sollen wir ſo reden, daß wir uns 
nicht Zeit geben, bei den Worten zu verweilen, weil der bloße 
Laut einen ſtillen Vorwurf enthalte, der eine Sorge wecke, der 
ein Streben hervorrufe hin nach dem Ziel, nach welchem jeder 
Menſch zu ſtreben berufen iſt. Sollen wir ſo reden, daß, wenn 
möglich, der einzelne noch in dieſer Stunde ſich entſchließe, den 
günſtigen Augenblick zu kaufen; daß das Wort, wenn möglich, 
den bewege, den es ſtehend und müßig traf, den Lauf zu be⸗ 
ginnen; den, welchen es auf der Bahn traf, den Lauf zu be⸗ 
ſchleunigen; den, welchen es im Laufe traf, zu eilen nach dem 
Vollkommenen. Sollen wir reden wie zu Unvollkommenen! 
Sollen wir daran erinnern, wie ſelten wohl noch der gefunden 
ward, der entweder niemals gekannt oder ganz vergeſſen hatte: 
„die Kinderlehre der Welt“, daß die Rache ſüß iſt; ſollen wir 
daran erinnern, daß jeder Menſch, wenn er redlich iſt, nur 
allzu oft ſich ſelbſt ertappt, wie er weitläufig, eindringend, er⸗ 
fahren jene traurige Wahrheit, daß die Rache ſüß iſt, erklären 
kann. Sollen wir daran erinnern, wie ſelten wohl noch der war, 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


der die Rache dem Herrn überließ in dem Vertrauen, daß Er 
eine noch mildere Erklärung der Schuld habe, ein noch barm⸗ 
herziges Urteil über ſie: daß Er größer iſt als eines Menſchen 
Herz; wie oft dagegen jeder redliche Menſch ſich ſelber geſtehen 
muß, daß er auf die Rache juſt nicht deshalb verzichtete, weil 
er ſie dem Herrn überließ. Soll ich daran erinnern, wie ſelten 
noch der war, der ſo vergab, daß der reumütige Feind wirklich 
fein Nächſter ward; der, welcher durch feine Vergebung wirklich 
die Scheidewand hob und von keinem Unterſchied wußte, nicht 
daß er ſelbſt am frühen Morgen gerufen wurde und der Feind 
erſt zur elften Stunde, nicht daß er nur fünfzig Groſchen 
ſchuldig war, der Feind aber fünfhundert. Soll ich daran er⸗ 
innern, wie ſelten auch der war, der ſo liebte, daß ſein Ohr, 
wenn es dem Feinde gut ging, kein Wiſpern des Neides ver⸗ 
nahm, weil ſein Herz Neid nicht kannte; ſo liebte, daß ſein Auge 
die Vergebung nicht reute, wenn das Glück ſeinen Feind be⸗ 
günſtigte; der, welcher ſo liebte, daß er, wenn es ſeinem Feinde 
ſchlecht ging, vergeſſen hatte, daß es ſein Feind war. Sollen wir 
warnen vor der in den Augen der Menſchen geringeren Schuld, 
vor einer gewiſſen ſchlauen Verſtändigkeit, die liſtig die Fehler 
der Menſchen zu entdecken weiß, und welche wohl nicht ihr 
Wiſſen mißbraucht, um zu richten, aber die doch durch ihre Neu⸗ 
gierde nicht ſo ſehr den Nächſten kränkt, wie ſich ſelbſt aufhält. 
Sollen wir jeden ermahnen, nach jener chriſtlichen Liebe zu 
trachten, weil jeder Menſch doch ſelbſt ſo oft nach Vergebung 
drängt; ſollen wir jeden Menſchen ermahnen, ſich ſelbſt zu 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


richten und darüber zu vergeſſen, andere zu richten; warnen vor 
dem Richten und Verurteilen, weil doch kein Menſch ganz einen 
anderen durchſchauen kann, weil es doch zuweilen ſich ereignete, 
daß des Himmels Zorn nicht den verzehrte, über den man ihn 
herniederrief, ſondern daß der Herr gnädig und mild mit Wohl⸗ 
gefallen im geheimen auf ihn ſah; ſollen wir jeden ermahnen, 
nicht im Eifer Zorn auf einen anderen herabzurufen, damit er 
nicht durch ſeine Unverſöhnlichkeit ſchrecklicheren Zorn über ſich 
ſelbſt am Tage des Gerichtes ſammle! 


Sollen wir ſo reden? Ja, es wäre für uns wohl oft am beſten, 
daß ſo geredet würde, aber es zu tun iſt ſo ſehr ſchwierig, daß 
der Redende nicht ſelber in der Rede dazu komme, gegen die 
Rede zu handeln; dazu komme, andere zu richten. Ja, auch 
dieſes, in der Rede ſich ſelbſt zu richten, iſt ſo ſehr ſchwierig, 
daß der Redende nicht in ein neues Mißverſtändnis ſich hülle 
und dadurch andere ſtöre. Deshalb wählen wir die leichtere Auf⸗ 
gabe. Wir wollen bei den Worten ſelbſt verweilen, und wie 
alle andere Liebe in der Welt geprieſen wurde, ſo wollen wir 
die Liebe zeigen und preiſen, die Macht hat, das Wunderbare 
zu vollbringen: der Sünden Menge zu decken. Wir wollen reden 
wie zu Vollkommenen. Wäre da einer, der ſich nicht vollkommen 
fühlte — die Rede macht doch keinen Unterſchied. Wir wollen 
unſere Seele ruhen laſſen in dem Worte des Apoſtels, das nicht 
eine trügeriſche poetiſche Wendung iſt, nicht ein dreiſter Aus⸗ 
bruch, ſondern ein treuer Gedanke, ein vollgültiges Zeugnis, 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


das, um verftanden zu werden, wörtlich genommen werden 
muß 

Liebe deckt der Sünden Menge. Liebe macht blind, 
ſagt ein altes Wort und will damit nicht eine Unvollkommenheit 
des Liebenden oder einen urſprünglichen Zuſtand in ihm be⸗ 
zeichnen; denn erſt als die Liebe in ſeiner Seele Platz gewann, 
erſt da ward er blind, und im Maße wie die Liebe in ihm ſiegte, 
ward er blinder und blinder. Oder war die Liebe unvoll- 
kommener geworden, als ſie, nachdem ſie zuerſt ſich ſelbſt be⸗ 
trogen hatte dadurch, daß ſie nicht ſehen wollte, was ſie doch 
ſah, zuletzt ſelbſt es nicht mehr ſah? Oder wer verbarg am 
beſten, der, welcher wußte, daß er etwas verborgen hatte, oder 
der, welcher ſogar dies vergeſſen hatte? Für den Reinen iſt 
alles rein, ſagt ein altes Wort und will damit nicht eine Un⸗ 
vollkommenheit in dem Reinen bezeichnen, die nachträglich ver⸗ 
ſchwinden ſollte, im Gegenteil, je reiner er wird, um ſo reiner 
wird alles für ihn. Oder war es eine Unvollkommenheit des 
Reinen, daß er, nachdem er zuerſt ſich ſelbſt unbeſchmutzt von 
der Unreinheit erhalten hatte, indem er nicht wiſſen wollte, was 
er doch wußte, zuletzt nicht einmal mehr etwas davon wußte? 

Das beruht nicht bloß auf dem, was man ſieht, ſondern was 
man ſieht, beruht darauf, wie man es ſieht; denn alles Be⸗ 
trachten iſt nicht bloß ein Empfangen, ein Entdecken, ſondern 
zugleich ein Hervorbringen, und inſoweit es dieſes iſt, wird es 
ja entſcheidend, wie der Betrachtende ſelbſt beſchaffen iſt. Wenn 
einer dieſes ſieht, ein anderer ein anderes im Selben, ſo entdeckt 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


der eine, was der andere deckt. Inſoweit der Gegenſtand der 
Betrachtung der äußeren Welt angehört, iſt es wohl gleich⸗ 
gültiger, wie beſchaffen der Betrachtende iſt, oder beſſer, iſt 
die notwendige Bedingung der Betrachtung etwas für ſein 
tieferes Weſen Unbeträchtliches; je mehr dagegen der Gegen⸗ 
ſtand der Betrachtung der Welt des Geiſtes angehört, um ſo 
wichtiger iſt es, wie er ſelbſt in ſeinem Inneren beſchaffen iſt; 
denn alles Geiſtige eignet man ſich nur durch Freiheit zu; aber 
was man durch Freiheit ſich zueignet, das wird auch hervor⸗ 
gebracht. Der Unterſchied liegt nicht im Außeren, ſondern im 
Inneren, und von innen geht alles aus, was einen Menſchen 
unrein und ſeine Betrachtung unrein macht. Das äußere Auge 
tut nichts zur Sache, aber „von innen heraus geht ein Schalks⸗ 
auge“. Aber ein Schalksauge entdeckt viel, was die Liebe nicht 
ſieht; denn ein Schalksauge ſieht ſogar, daß der Herr unrecht 
tut, wenn er gut iſt. Wenn im Herzen Bosheit wohnt, ſieht 
das Auge Argernis, aber wenn im Herzen Reinheit wohnt, ſieht 
das Auge den Finger Gottes; denn die Reinen ſchauen Gott; 
aber wer Böſes tut, der ſiehet Gott nicht. 

Das Innere entſcheidet, was ein Menſch entdeckt, und was 
er deckt. Wenn im Herzen die Luſt der Sünde wohnt, entdeckt 
das Auge der Sünden Menge und macht ſie noch mannig⸗ 
faltiger; denn das Auge iſt des Leibes Licht. Aber wenn das 
Licht, das in einem Menſchen iſt, Finſternis iſt, wie groß wird 
dann die Finſternis! Wenn im Herzen die Angſt der Sünde 
wohnt, entdeckt das Ohr der Sünden Menge und macht ſie 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


noch mannigfaltiger, und was hülfe es einem ſolchen Menſchen, 
daß er blind wäre; denn ein „Schalk ſchlägt die Augen nieder 
und horchet mit Schalksohren“. Wenn im Herzen Liebe wohnt, 
iſt das Auge geſchloſſen und entdeckt nicht der Sünde offenbare 
Tat, noch weniger die verborgene; denn „wer mit Augen winket, 
wird Mühſal anrichten“, aber der, welcher den Augenwink ver⸗ 
ſteht, iſt nicht rein. Wenn im Herzen Liebe wohnt, iſt das Ohr 
verſchloſſen und hört nicht das Wort der Welt, nicht die Bitter⸗ 
keit des Spottes; denn, wer zu ſeinem Bruder ſagt: Racha, 
der iſt des Rats ſchuldig, aber der, welcher es hört, wenn es 
zu ihm geſagt wird, iſt nicht vollkommen in der Liebe. Wenn 
im Herzen Jähzorn wohnt, iſt der Menſch raſch bereit, der 
Sünden Menge zu entdecken, da verſteht er herrlich eine halbe 
Rede, faßt haſtig von ferne das Wort, kaum daß es aus⸗ 
geſprochen iſt. Wenn im Herzen Liebe wohnt, verſteht ein 
Menſch langſam, und hört nicht ein haſtiges Wort und verſteht 
nicht deſſen Wiederholung, weil er ihm einen guten Platz gibt 
und einen guten Sinn, verſteht nicht die lange Rede der Welt 
oder des Spottes, weil er noch auf ein Wort wartet, das der 
Rede Sinn geben ſoll. Wenn im Herzen Furcht wohnt, ent⸗ 
deckt der Menſch leicht der Sünden Menge, Trug und Betrug 
und Treuloſigkeit und Ränke. Aber die Liebe, die der Sünden 
Menge deckt, ward nie betrogen. Wenn im Herzen Geiz wohnt, 
wenn man mit einem Auge gibt und mit ſieben Augen ſiehet, 
was man dafür kriege, entdeckt man leicht der Sünden Menge. 
Aber wenn im Herzen Liebe wohnt, wird das Wort niemals 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


betrogen; denn die Liebe, wenn ſie gibt, ſieht nicht nach der 
Gabe, ſondern ihr Auge achtet auf den Herrn. Wenn im Herzen 
Mißgunſt wohnt, hat das Auge die Macht, das Unreine ſelbſt 
im Reinen hervorzulocken, aber wenn im Herzen Liebe wohnt, 
hat das Auge die Macht, das Gute im Unreinen hervorzulieben; 
aber dieſes Auge ſieht nicht das Unreine, ſondern das Reine, 
das es liebt und hervorliebt durch die Liebe. Ja, es gibt eine 
Macht dieſer Welt, die in ihrer Sprache das Gute in das Böſe 
überſetzt, aber es gibt eine Macht von oben, die das Böſe in das 
Gute überſetzt, es iſt die Liebe, welche der Sünden Menge deckt. 
Wenn im Herzen Haß wohnt, liegt die Sünde vor der Türe 
der Menſchen und die Mannigfaltigkeit der Begierden liegt vor 
ihm; aber wenn im Herzen Liebe wohnt, iſt die Sünde weit 
weg geflohen, und er erblickt ſie nicht einmal. Wenn im Herzen 
Hader, Neid, Zorn, Zank und Zwietracht wohnen, braucht man 
da lange zu gehen, um der Sünden Menge zu entdecken, oder 
braucht man lange zu leben, um ſie in ſeinem Umkreis hervor⸗ 
zubringen; aber wenn im Herzen Freude, Friede, Geduld, 
Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanftmut, Keuſchheit 
wohnen, was Wunder, daß ein Menſch, ſelbſt wenn er mitten 
in der Sünden Menge ſtände, ein Fremder bliebe, ein Aus⸗ 
länder, der nur ſehr wenig auf des Landes Brauch ſich verſtände, 
wenn ihm eine Erklärung abverlangt würde; wie ſollte der nicht 
eine Deckung ſein für der Sünden Menge! 

Oder iſt es nicht ſo, ſollen wir klug ſagen: die Menge der 
Sünden in der Welt iſt und bleibt ja gleich groß, ob nun die 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


Liebe fie entdeckt oder nicht; ſollen wir das apoftolifche Wort 
und mit ihm die Liebe, welche beſchrieben wird, als eine zierliche 
Redensart dahinſtehen laſſen, die die Prüfung der Forſchung 
nicht beſtehen könnte? Aber verſtand denn wirklich jene Ver⸗ 
ſtändigkeit die Liebe ebenſo gut, wie ſie der Sünden Menge ver⸗ 
ſtand?! Oder wollte ſie das Gegenteil einräumen, daß der Sün⸗ 
den Menge ebenſo groß blieb, ob nun der Verſtand ſie entdeckte 
oder nicht, und nicht eher die eigene Schlauheit, die Verborgen⸗ 
heit der Sünden zu entdecken und zu erforſchen, anpreiſen? Aber 
da blieb es ja gleich wahr, daß der Verſtand der Sünden Menge 
entdeckte, und daß die Liebe ſie deckte; und das eine war nicht 
wahrer als das andere. Oder gab es noch eine dritte Weiſe, auf 
welche man, ohne verſtändig wiſſend oder liebend unwiſſend um 
ſie zu werden, wiſſend um ſie wurde; wäre ein ſolches Wiſſen 
nicht ein unmenſchliches Wiſſen? Es iſt nicht bloß ein rheto⸗ 
riſcher Ausdruck, daß die Liebe der Sünden Menge deckt, ſon⸗ 
dern es iſt in Wahrheit ſo, und dies iſt die Macht der chriſtlichen 
Liebe, die nicht groß iſt durch auffallende Tat, wie andere Liebe 
es iſt, ſondern größer in ihrer ſtillen Wunderbarkeit. 


Glücklich der Menſch, der die Welt in ihrer Vollkommenheit 
ſah, als alles noch gut war; glücklich der Menſch, der mit Gott 
Zeuge der Herrlichkeit der Schöpfung war; ſeliger die Seele, 
die Gottes Mitarbeiter in der Liebe war; ſelig die Liebe, die der 
Sünden Menge deckt. 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Liebe deckt der Sünden Menge. Der Sünden 
Menge, das iſt ein furchtbares Wort und erinnert leicht an 
eine andere Verbindung, in der es nach dem Sprachgebrauch 
häufig vorkommt, der Geſchöpfe Menge, wobei wir an die zahl⸗ 
loſe Schar der Geſchöpfe denken, an das unzählige Gewimmel 
von lebenden Weſen, deren Zahl keiner angeben kann, weil keine 
Zahl groß genug iſt, und weil kein Augenblick iſt, da man zu 
zählen beginnen kann; denn in jedem Augenblick werden un⸗ 
zählige geboren. Verhält es ſich nicht ebenſo mit der Sünden 
Menge; denn wie es heißt, daß, wer da hat, dem wird gegeben, 
daß er die Fülle habe, ſo iſt auch die Sünde fruchtbar, und eine 
Sünde gebiert viele, und ihre Menge wird größer und größer. 
Wenn das Auge der Liebe nicht geſchloſſen wäre, wenn es nicht 
ſelbſt durch ſeine Betrachtung die Menge deckte, wie wollte es 
da wagen, der Macht der Sünde Einhalt tun zu wollen! So 
deckt die Liebe eben dadurch der Sünden Menge, daß ſie von 
vornherein ſie gedeckt hat. 

Ein alter Weiſer hat geſagt: „Laß ab vom Hader, ſo unter⸗ 
bleiben viel Sünden.“ Aber wer die Sünden verringert, er deckt 
ja der Sünden Menge, und er deckt ſie doppelt, indem er ſelbſt 
nicht ſündigt und einen anderen daran hindert. Und doch, wer 
vom Hader abläßt, er hindert ja einen Menſchen nur einen 
Augenblick am Sündigen, vielleicht wird derſelbe Menſch nach 
einer anderen Seite ſich wenden und Hader ſuchen, aber der, 
welcher einen Sünder vom Irrweg abwendet, von ihm ſagt 
der Apoſtel Jakobus, er decke der Sünden Menge. 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


Iſt es aber möglich, richtig zu erzählen, wie die Liebe der 
Sünden Menge deckt, oder iſt ſie nicht noch mannigfaltiger als 
der Sünde Mannigfaltigkeit iſt? Wenn ſie das zerſtoßene Rohr 
ſieht, ſo weiß ſie der Sünden Menge zu decken, damit das Rohr 
nicht zerbreche unter der Laſt. Wenn ſie den glimmenden Docht 
ſieht, ſo weiß ſie der Sünden Menge zu decken, damit das Licht 
nicht auslöſche. Wenn ſie über der Sünden Menge geſiegt 
hat, ſo weiß ſie wieder ihre Menge zu decken, ſo bereitet ſie 
alles zum feſtlichen Empfang, wie der Vater des verlorenen 
Sohnes, ſo ſteht ſie mit offenen Armen und erwartet den Ver⸗ 
irrten, hat alles vergeſſen und bringt ihn ſelber dazu, alles zu 
vergeſſen, indem ſie wieder der Sünden Menge deckt; denn die 
Liebe weint auch nicht über der Sünden Menge, wenn es ſo 
wäre, ſo ſähe ſie ja ſie ſelbſt, aber ſie deckt die Menge. Und wenn 
die Sünde ihr Widerſtand leiſtet, ſo wird ſie noch mannig⸗ 
faltiger, nie müde, in ungleichem Joch mit ihr zu ziehen; nicht 
müde, alles zu glauben, alles zu hoffen, alles zu dulden. Wenn 
die Sünde gegen die Liebe ſich verhärtet, und wünſcht, ſie loszu⸗ 
werden, wenn ſie Wohlwollen mit Scheltworten bezahlt und 
Hohn und Spott, ſo vergilt die Liebe nicht Scheltwort mit 
Scheltwort, ſo ſegnet ſie und flucht nicht. Wenn die Sünde 
neidiſch die Liebe haßt, wenn ſie in ihrer Bosheit die Liebe dazu 
bringen will, felbft zu fündigen, fo findet fie nicht Trug in ihrem 
Mund, ſondern Bitte und Ermahnung. Aber wenn Bitten und 
Ermahnungen die Sünde nur erhitzen und neuen Anlaß zu der 
Sünden Menge geben, ſo iſt die Liebe ſtumm, aber nicht minder 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


treu, treu wie ein Weib rettet ſie, tut es wie ein Weib — „ohne 
Wort“. Die Sünde meinte erreicht zu haben, daß ſie bald auf 
dem Weg getrennt ſein würden, aber ſiehe, die Liebe blieb. Und 
die Sünde will die Liebe von ſich ſtoßen, ſie zwingt ſie, eine 
Meile zu gehen, aber ſiehe, die Liebe ging zwei Meilen; ſie ſchlug 
der Liebe rechte Wange, aber ſiehe, die Liebe kehrte ihr die andere 
auch zu; ſie nahm der Liebe Kleid, aber ſiehe, die Liebe gab den 
Mantel dazu. Schon fühlt die Sünde ihre Ohnmacht, ſie kann 
nicht aushalten mit ihr, ſo will ſie ſich losreißen, da kränkt ſie 
die Liebe ſo tief wie möglich; denn mehr als ſiebenmal, denkt 
ſie, kann ſelbſt die Liebe nicht vergeben. Aber ſiehe, die Liebe 
konnte ſiebzigmal ſiebenmal vergeben, und die Sünde wird 
raſcher müde, Vergebung zu verſchulden, als die Liebe, ſie zu 
geben. Ja, wie es eine Macht der Sünde gibt, die Ausdauer 
genug hat, jedes beſſere Gefühl eines Menſchen auszuzehren, ſo 
gibt es eine himmliſche Macht, die der Sünden Menge in einem 
Menſchen aushungert; dieſe Macht iſt die Liebe, die der Sünden 
Menge deckt. | 

Oder ift es fo nicht? Sollen wir vorziehen, eine Klugheit zu 
preiſen, die noch furchtbarer der Sünden Menge zu ſchildern 
weiß? Oder ſollen wir lieber dieſe Klugheit fragen, woher ihr 
ein ſolches Wiſſen kam? Ja, wenn ſie die Liebe davon über⸗ 
zeugen könnte, daß es ſo ſich verhielte, ſo würde die Liebe wohl 
niemals anfangen und nichts erreichen. Aber deshalb fängt die 
Liebe damit an, der Sünden Menge zu decken, und deshalb endet 
ſie da, wo ſie anfing: ſie deckt der Sünden Menge. 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


Selig der Mann, deſſen Sünden gedeckt find, ſeliger die 
Liebe, die der Sünden Menge deckt! 


Liebe deckt der Sünden Menge. Wenn die Liebe in 
der Welt geſiegt hätte, ſo wäre ja der Sünden Menge gedeckt 
und alles vollkommen in der Liebe. Wenn die Heerſchar der 
Liebe in der Welt zahlreich wäre, wenn ſie gleich an Zahl mit 
der des Feindes wäre, ſo daß ſie Mann gegen Mann ſtreiten 
könnte — ja, wie ſollte die Liebe da nicht ſiegen, da ſie der 
Stärkſte iſt! Wenn aber die Diener der Liebe eine kleine Schar 
ſind, wenn jeder nur ein einzelner Mann iſt, ſoll da die Liebe 
wirklich vermögen, der Sünden Menge zu decken? Oder iſt das 
apoſtoliſche Wort, inſoweit wir dabei an etwas anderes denken 
wollen als an die fromme Unwiſſenheit der Liebe und ihren 
Eifer innerhalb ihrer Grenze — iſt das apoſtoliſche Wort nicht 
in ſolchem Fall eine ſchöne aber doch müßige Rede? Sollen 
wir das apoſtoliſche Wort als eine begeiſterte Torheit betrachten 
oder lieber die Klugheit preiſen, die ſagt: der Gang des Lebens 
folgt beſtimmten Geſetzen, laß die Liebe im Augenblick der Not 
Tür an Tür mit der Gottloſigkeit wohnen, ſie nützt der Gott⸗ 
loſigkeit nicht. Würde der Verſtand ebenſo bereit das Gegen⸗ 
teil ausſagen, daß es nichts zur Sache tue, wenn Gottloſigkeit 
neben der Liebe wohnt? Will der Verſtand leugnen, daß im 
Leben oft der Unſchuldige mit dem Schuldigen leiden muß? 
Laſſet uns den Verſtand fragen. Ein alter Heide, der im Alter⸗ 
tum als Weiſer genannt und geprieſen wurde, ſegelte mit einem 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Gottloſen auf demſelben Schiff. Als das Schiff in Not kam, 
erhob der Gottloſe ſeine Stimme, um zu beten; aber der Weiſe 
ſagte zu ihm: „Sei ſtill, Lieber, wenn der Himmel entdeckt, 
daß du mit an Bord biſt, geht das Schiff unter.“ So iſt es denn 
wahr, daß der Schuldige den Untergang des Unſchuldigen ver⸗ 
anlaſſen kann? Aber ſo iſt ja das Gegenteil auch wahr! So 
fehlte dem Verſtand vielleicht bloß der Mut, es zu glauben, 
und während er genug hatte von der troſtloſen Klugheit, die 
das Elend des Lebens entdeckt, hatte er kein Herz, die Macht 
der Liebe zu faſſen. Iſt das nicht ſo? Denn der Verſtand macht 
doch allzeit einen Menſchen nur verzagt und kleinmütig, aber die 
Liebe gibt Freimut, und darum iſt alle apoſtoliſche Rede frei⸗ 
mütig. Wenn da an Bord desſelben Schiffes anſtatt eines 
Gottloſen ein frommer Mann geweſen wäre, ein Apoſtel?! Ge⸗ 
ſchah das nicht? Es ſegelte ein heidniſches Schiff von Kreta und 
ſteuerte nach Rom, und das Schiff geriet in Not, viele Tage 
ſah man weder Sonne noch Sterne, an Bord desſelben Schiffes 
war ein Apoſtel, und Paulus trat vor und ſagte zu denen, die 
mit ihm auf dem Schiffe waren: „Ihr Männer, ich ermahne 
euch, daß ihr unverzagt ſeid, denn keines Leben aus uns wird 
umkommen.“ Oder ſollte Gottloſigkeit wirklich größere Macht 
haben als Liebe; ſollte dies, daß ein Gottloſer an Bord war, 
die Macht haben, die Lage anderer zu verändern, aber ein Apoſtel 
ſollte keine ſolche Macht haben? Oder ſagt nicht der Herr ſelbſt, 
daß die Tage der Trübſal verkürzt werden ſollen um der Aus⸗ 
erwählten willen? 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


Iſt es eine unwürdige Vorſtellung von Gott, zu meinen, 
daß Liebe ſo der Sünden Menge decke? Vergeſſen wir nicht 
in unſerer Rede und in unſerer Überlegung, daß Gott im 
Himmel nicht aufgehalten wird von einer Täuſchung, daß ſein 
Gedanke lebendig und gegenwärtig iſt, alles durchdringt und 
eines Menſchen Rat richtet?! Sollte einer das Recht haben, 
uns zu mahnen, ſobald wir die Liebe preiſen wollen, uns lieber 
einzuſchränken, um das Wahre zu ſagen, nämlich daß es ſchön 
und liebenswürdig ſei, daß die Liebe gerne der Sünden Menge 
decken und den Zorn abwenden wolle, als uns in Übertreibungen 
zu verirren, indem wir ſagen, daß die Liebe der Sünden Menge 
deckt? Hat der, welcher ſo redet, nicht vergeſſen, was nicht wir 
vergeſſen, daß die Liebe für die Sünden anderer bittet; hat er 
nicht vergeſſen, daß das Gebet des Gerechten viel vermag?! 

Als Abraham inſtändig mit dem Herrn ſprach und ihn für 
Sodom und Gomorra bat, deckte er da nicht der Sünden 
Menge? Oder iſt es vielleicht ein preiſenswerter Scharfſinn, 
wenn einer ſagen will, daß er durch ſein Gebet ja ebenſoſehr 


an der Sünden Menge erinnerte und das Gericht herbeirief, fo 


wie ſein eigenes Leben bereits ein Gericht war, daß, wenn es die 
Kraft zu einer Bedingung hätte, eher das Gericht noch ſchreck— 
licher machen müßte? Wie bat Abraham? Laſſet uns menſchlich 
darüber reden! Riß er nicht den Herrn gleichſam mit hinein in 
ſeinen Gedankengang, brachte er nicht den Herrn dazu, der Sün⸗ 
den Menge zu vergeſſen, um die Zahl der Gerechten zu zählen, 
ob fünfzig, fünfundvierzig, vierzig, dreißig, zwanzig, ja ſogar 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


nur zehn Unſchuldige wären. Deckte Abraham da nicht der Sün⸗ 
den Menge, beweiſt der Untergang der Stadt das Gegenteil 
oder beweiſt er anderes, als daß nicht einmal zehn Unſchuldige 
in Sodom waren? Und doch, was war ſelbſt Abraham im Ver⸗ 
gleich mit einem Apoſtel; was war ſein Freimut im W 
mit dem eines Apoſtels? 


Groß iſt ein Menſch, daß ſein Leben, ſo es gerecht iſt, auch die 
Engel richten wird; ſeliger die Liebe, die der Sünden Menge 


deckt! 


Wir haben die Macht der Liebe, der Sünden Menge zu 
decken, geprieſen, wir haben wie zu Vollkommenen geredet. War 
einer, der ſich nicht vollkommen fühlte, die Rede machte keinen 
Unterſchied. Laſſet uns noch einmal bei dieſer Liebe verweilen, 
um das Bild von ihr zu betrachten, das zur Anſchauung vor die 
Seele ſich ſtellt. War da einer, der, indem er ſich ſelbſt in dieſem 
Spiegel betrachtete, von ſeiner Ungleichheit ſich vergewiſſerte, 
war es der Fall mit allen: die Rede macht keinen Unterſchied. 

Als die Schriftgelehrten und die Phariſäer ein Weib in 
offenbarer Sünde ergriffen hatten, ſtellten ſie ſie in die Mitte 
des Tempels vor das Angeſicht des Erlöſers; aber Jeſus bückte 
ſich nieder und ſchrieb mit dem Finger in den Sand. Er, der 
alles wußte, wußte wohl auch, was die Schriftgelehrten und 
die Phariſäer wußten, ehe ſie es Ihm ſagten. Die Schriftge⸗ 
lehrten und die Phariſäer entdeckten raſch ihre Schuld, es war 
ja auch leicht, da ihre Sünde offenbar war. Sie entdeckten 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


zugleich eine andere Sünde, die, deren fie felber ſich ſchuldig 
machten, indem ſie ränkevoll dem Herrn eine Falle ſtellten. 
Aber Jeſus bückte ſich nieder und ſchrieb mit dem Finger in den 
Sand. Warum bückte Er ſich nieder; warum ſchrieb Er mit dem 
Finger in den Sand? Saß Er da wie ein Richter, der auf 
die Rede des Anklägers genau achtet, der lauſchend ſich bückt 
und den Klagepunkt aufzeichnet, daß er ihn nicht vergeſſe und 
daß er ſtreng richte; war dieſes Weibes Schuld das einzige, 
das ſchriftlich vom Herrn aufgezeichnet wurde? Oder ſchreibt, 
wer mit dem Finger in den Sand ſchreibt, ſchreibt er nicht eher, 
um auszulöſchen und zu vergeſſen? Da ſtand die Sünderin, 
umringt von vielleicht Schuldigeren, die laut ſie anklagten, aber 
die Liebe bückte ſich nieder und hörte nicht die Anklage, die über 
Ihr Haupt in der Luft verwehte, Sie ſchrieb mit dem Finger, 
um auszulöſchen, was Sie ſelbſt wußte; denn die Sünde ent⸗ 
deckt der Sünden Menge, aber Liebe deckt der Sünden Menge. 
Ja, ſelbſt in den Augen der Sünde deckt die Liebe der Sünden 
Menge; denn durch ein Wort des Herrn verſtummten die 
Phariſäer und die Schriftgelehrten, und es war kein Ankläger 
mehr, keiner, der ſie richtete. Aber Jeſus ſagte zu ihr: „Ich ver⸗ 
damme dich auch nicht, gehe hin und ſündige hinfort nicht mehr; 
denn die Strafe der Sünde gebiert neue Sünde, aber Liebe 
deckt der Sünden Menge.“ 


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Sören Kierkegaard Religisſe Reden 


Zweiter Teil. 


Wie die apoſtoliſche Rede durch ihren Inhalt von aller nur 
menſchlichen Rede weſentlich verſchieden iſt, ſo iſt ſie es auch 
auf mancherlei Weiſe durch ihre Form. Um ein einzelnes zu 
nennen: ſie hält den Hörer nicht auf und lädt ihn nicht ein, 
zu ruhen; ſie hält den Redner nicht auf und läßt ihn ſelbſt der 
Arbeit nicht vergeſſen. Die apoſtoliſche Rede iſt bekümmert, 
feurig, brennend, entflammt, überall und allzeit bewegt von 
den Kräften des neuen Lebens, rufend, zurufend, winkend, ſtark 
im Ausbruch, kurz, abgebrochen, erſchütternd, ſelbſt durch⸗ 
ſchüttert ſo von Furcht und Zittern, wie von Sehnſucht und 
ſeliger Erwartung, zeugend überall von des Geiſtes kräftiger 
Unruhe und der tiefen Ungeduld des Herzens. Wie ſollte der, 
der ſelber läuft, Zeit zu langer Rede bekommen; ſo müßte er 
ſelbſt ſtille ſtehen! Wie ſollte der, der alles für alle ſein will, 
Zeit zu weitläufiger Betrachtung bekommen; ſo würde er ja 
nicht hurtig genug die Waffen des Geiſtes wechſeln können! Wie 
ſollte der, der mit der Hoffnung vollen Segeln nach dem Voll⸗ 
kommenen ſteuert, viele Augenblicke zu menſchlicher Ausführ⸗ 
lichkeit haben! Aber iſt die apoſtoliſche Rede allzeit ungeduldig 
wie eine Gebärende, ſo ſind es im beſonderen doch zwei Betrach⸗ 
tungen, die ſie noch mehr entflammen: die Vorſtellung, daß 
die Nacht vorbei iſt und der Tag angebrochen; daß die Nacht 
lange genug gedauert hat und es gilt, den Tag zu benützen, 
und die andere Vorſtellung, daß die Zeit kommt, wo man nicht 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


mehr arbeiten kann, daß die Tage gezählt find, daß das Ende 
nahe iſt, daß aller Dinge Ende ſich nähert. 

Auch der vorgeleſene Text zeugt von dieſer apoſtoliſchen 
Feurigkeit und beginnt mit einem: deshalb, dem im Briefe 
des Apoſtels die unmittelbar vorhergehenden Worte entſprechen: 
„Es iſt aber nahe kommen das Ende aller Dinge“, welche 
Worte nicht bloß jenes deshalb erklären, ſondern auch, was 
vielleicht, menſchlich geſprochen, im Text eine Erklärung 
brauchen könnte, der ja zugleich zeigt, wie die apoſtoliſche Un⸗ 
geduld ſo ſehr verſchieden iſt von der Übereilung eines gereizten 
Menſchen. Denn ſcheint es nicht eigentümlich, daß an die ſchöne 
Ermahnung: „Vor allen Dingen aber habt untereinander eine 
brünſtige Liebe!“ gerade auf die daran geknüpften bedeutungs⸗ 
vollen Troſtworte: „Liebe deckt der Sünden Menge“ eine ſchein⸗ 
bar ſo zufällige Ermahnung folgt wie dieſe: „Seid gaſtfrei 
untereinander ohne Murmeln.“ Und doch beweiſt eben dieſe 
Mahnung die apoſtoliſche Autorität und Weisheit. Wo gab 
es wohl einen aufgeregten Mann, der, wenn er dieſe Worte 
geſagt hätte: „Es iſt aber nahe kommen das Ende aller Dinge“, 
eine ſolche Ermahnung hinzugefügt hätte?! Sollte es nicht von 
ſelbſt folgen, daß ſie überflüſſig wäre? Denn würde er nicht, 
wenn möglich, mit ſeiner Rede bewirken, daß die Häuſer leer 
wür den, ſo daß kaum einer ſich fände, der gaſtfrei ſein wollte, 
und wenn es einen ſolchen doch gäbe, er nicht nötig hätte, in Ver⸗ 
legenheit zu kommen? Aber ſo iſt ein Apoſtel nicht ungeduldig, 
und ſeine Unruhe iſt höher, als alle menſchliche Beſonnenheit. 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Der Apoſtel liebt ſeine Gemeinde zu hoch, um ſchwach das 
Furchtbare zu verſchweigen: daß das Ende aller Dinge ſich 
nähert, aber auf der anderen Seite weiß er ſofort wieder die Ge⸗ 
meinde ſo zur Ordnung zu rufen, daß es iſt, als wäre der 
Schrecken vergeſſen, als wäre Friede und Sicherheit, erwünſchte 
Gelegenheit, ſelbſt in den geringfügigen Verhältniſſen des Le⸗ 
bens feine Liebe zum Nächſten zu beweiſen. Die Rede davon, 
daß das Ende aller Dinge nahe iſt, iſt hier nicht eine unfrucht⸗ 
bare Gewitterwolke, die hinfährt und alles verwirrt, ſondern 
eine Angſt, welche die Luft reinigt, und alle milder macht und 
innerlicher und liebreicher und raſcher, die gelegene Zeit zu 
kaufen, aber auch ſtark genug, nicht matt zu werden durch den 
Gedanken, daß die gelegene Zeit vorüber ſei. Der Apoſtel, der 
redet, iſt nicht in Träumen berauſcht, ſondern nüchtern in ſeinen 
Gedanken und in ſeiner Rede. 

„Aber aller Dinge Ende iſt nah.“ Das iſt ein furchtbares 
Wort ſelbſt im Mund eines Leichtſinnigen, geſchweige in dem 
eines Apoſtels. Doch darum fügt Petrus auch ein Troſtwort 
hinzu, das ſtark iſt, um die Angſt zu überwinden: „Liebe deckt 
der Sünden Menge“. Oder braucht es das vielleicht nicht? Iſt 
mit dem Ende aller Dinge alles vorbei? Braucht es ein anderes 
Verſteck, als das, welches jedem vergönnt wird, dem Gerechten 
und dem Ungerechten? Iſt der, welcher im Schoße der Erde liegt, 
nicht gedeckt und wohl verwahrt? Sollte einer ſein, der hier den 
Apoſtel nicht verſtand, weil er nicht ausdrücklich den Tag nennt, 
an dem von einer ſolchen Liebe die Rede ſein wird? Oder haben 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


des Schreckens und dann auch des Troſtes Worte ihre De- 
deutung dadurch verloren, daß das Ende aller Dinge nicht ein⸗ 
traf, wie es vorausgeſagt war? Iſt ein Apoſtel ein müßiger 
Mann, dem bloß daran liegt, im allgemeinen das Ende aller 
Dinge vorauszuſagen, als etwas, das ihn ſelbſt und die Ein⸗ 
zelnen nichts angeht, außer inſoweit es die Neugierde zufrieden⸗ 
ſtellen könnte? Oder lag ihm nicht vornehmlich im Sinn, daß 
mit dem Ende aller Dinge auch ſeine und ſeiner Gemeinde Tage 
gezählt wären? Aber dies traf ja wirklich den Apoſtel und die 
Gemeinde; das wiederholt ſich beſtändig im Geſchlecht, und 
das Nächſte wiederholt ſich auch; denn dem Menſchen iſt geſetzt, 
einmal zu ſterben, danach aber das Gericht. Aber am Tage 
des Gerichts wird auch eine Rüſtung gefordert. Dieſe beſchreibt 
der Apoſtel und ihre Vollkommenheit. Dieſe Rüſtung iſt die 
Liebe; das einzige, das nicht abgeſchafft werden ſoll, das einzige, 
das bei einem Menſchen im Leben bleibt und bei ihm im Tode 
bleibt, und im Gericht ſiegen ſoll. Denn die Liebe iſt nicht wie 
ein betrügeriſcher Freund, der zuerſt einen Menſchen verführt 
und dann bei ihm bleibt, um ſeiner zu ſpotten. Nein, die Liebe 
bleibt bei einem Menſchen; und wenn alles für ihn ſich ver- 
wirrt, wenn die Gedanken anklagend aufſtehen, wenn die Angſt 
richtend ihr Haupt erhebt, da droht ihnen die Liebe und ſagt zu 
ihm: Hab bloß Geduld, ich bleibe bei dir, und zeuge für dich, und 
mein Zeugnis ſoll doch die Verwirrung überwinden. Ja, ſelbſt 
wenn die Liebe einen Menſchen irre führte, wenn ſie ſelbſt auch 
nicht hintennach ihn freiſprechen kann, ſie ſagt doch: Sollte ich 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


dich verlaſſen in der Stunde der Not? wenn auch alles dich ver⸗ 
ließe, wenn du von dir ſelber verlaſſen würdeſt, ich bleibe doch 
bei dir, ich, die dich irre führte, aber die auch den Troſt für dich 
hat, daß ich es war, die es tat. Wenn es ſo nicht wäre! Welche 
Macht vermag einen Menſchen ſo zu bewegen, das Schreckliche 
zu wagen, wie die Liebe! Welches Entſetzen, wenn ſie nicht zu⸗ 
gleich verſtände, ſich für ſich ſelbſt zu erklären, verſtändlich für 
den Einzelnen, wenn auch keine andere Seele es verſtände! 

So laſſet uns näher das apoſtoliſche Wort überlegen. Der 
Apoſtel redet zu Unvollkommenen; wie ſollte auch ein Voll⸗ 
kommener der Sünden Menge haben, die gedeckt werden müßte! 
Aber die Un vollkommenen, die Zerknirſchten, fie tröſtet er auch 
mit dem Gedanken, daß Liebe der Sünden Menge decke. Wir 
ſollen nicht leichtſinnig das apoſtoliſche Wort verfälſchen, nicht 
klug uns ſelber betrügen und das Wort hintergehen mit der 
Meinung, daß der, welcher Liebe hat, vollkommen iſt. Wer ſich 
nicht in der Menge der Sünden befindet, die gedeckt werden 
müſſen, auf ihn paßt das Wort nicht; aber, wer ſich nicht 
tröſten laſſen will, dem nützt das Wort nichts; denn darin liegt 
der Troſt, daß in demſelben Herzen, in welchem der Sünden 
Menge iſt, Liebe wohnen kann, und daß dieſe Liebe die Macht 
hat, der Sünden Menge zu decken. 

Doch wie iſt dieſes möglich? Liebe entdeckt ja in einem ſelbſt 
der Sünden Menge. Gab es nicht oft in der Welt den, der leicht 
und ſorglos hinlebte mit dem Frohſinn der Jugend, ohne ſich 
zu überheben aus eigener Vollkommenheit, aber auch ohne ſich 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


gebeugt zu fühlen oder aufgehalten von irgendeinem beſchweren⸗ 
den Bewußtſein, bis die Liebe ihn ergriff, und das Vergangene 
ihm nicht mehr behagte, weil die Liebe auf ſo mancherlei Weiſe 
Unvollkommenheit und Schwachheit entdeckt hatte. Ging es dem 
Verſtändigen beſſer? Er mißbilligte den Leichtſinn der Jugend, 
er achtete auf ſich ſelbſt, er ſtrebte ſeine Fehler abzulegen, aber 
durch dieſes Streben gewann er auch eine Selbſtzufriedenheit, 
welche die Probe des Verſtandes nicht fürchtete, die Ehre nahm 
von den Menſchen, die die Welt zum Kampf herausforderte — 
da zielte die Liebe auf ihn, und ſiehe! er, der fein Haupt ſtolz ge⸗ 
tragen hatte, deſſen Blick die Menſchen beherrſcht hatte, er 
ſchlug jetzt die Augen nieder; denn er hatte der Sünden Menge 
entdeckt. Und er, der vor dem ſtrengen Urteil des Verſtandes 
beſtehen konnte, er konnte das milde der Liebe nicht aushalten! 
Doch dem Gerechten geſchieht ſolches nicht. Er war ſtreng gegen 
ſich ſelbſt und wünſchte nicht, wie andere zu ſein, er wußte, daß 
der, welcher ſich ſelber bewahren will, arbeiten und vieles ſich 
verſagen muß, aber er wußte auch, was er in dieſem Kampf ge⸗ 
wänne: daß er Erkenntnis der Weisheit gewänne, daß es eine 
Gerechtigkeit im Himmel gibt; denn er dünkte ſich ſelbſt gerecht. 
Da ſah die himmliſche Liebe nieder auf ihn, und ſiehe! er, der 
ſich darauf vertröſtet hatte, jedem das Seine geben zu können, 
dem Menſchen, was des Menſchen iſt, Gott, was Gottes iſt; 
er, der ſchon hier im Leben ſich darauf freute, am Tage des 
Gerichts die Rechenſchaft abzulegen, er hatte nun der Sünden 8 
Menge entdeckt, ſo daß er nicht eins auf tauſend erwidern 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


konnte. Ja, nicht nur, daß die Liebe ſo in einem Augenblick das 
Verborgene entdeckte, nein, es war, als vermehrte die Liebe der 
Sünden Menge in der Zukunft. Was er in ſtolzer Zuverſicht 
zu ſich ſelbſt leicht überwunden hatte, das fiel ihm nun ſchwer, 
weil ſeine Seele bekümmert war in Liebe. Wo er zuvor keine 
Verſuchung geahnt hatte, da ſah ſie nun lockend nach ihm, und 
er vernahm Furcht und Zittern, das er nie gekannt hatte. Und 
daß es in Wahrheit ſo ſei, darüber vergewiſſerte er ſich leicht; 
denn wollte er ſeiner eigenen Gerechtigkeit ſich überlaſſen, ſo 
verſchwand die Verſuchung. 

Aber iſt es möglich, daß dieſelbe Macht, die der Sünden 
Menge entdeckt; dieſelbe Macht, die, indem ſie die Bekümme⸗ 
rung der Liebe in eines Menſchen Herz gießt — daß dieſelbe 
Macht ſie decken kann in demſelben Menſchen? Und doch, wäre 
es gut, daß es nicht ſo wäre? Was iſt Liebe? Iſt ſie ein Traum 
in der Nacht, in welchen man ſich ſchläft? Iſt ſie eine Betäubung, 
in der alles vergeſſen iſt? Sollen wir verächtlich von der Liebe 
denken, daß ſie in dieſem Sinn der Sünden Menge decke? So 
wäre es beſſer, den Leichtſinn der Jugend zu behalten, oder die 
Selbſtprüfung des Mannes, oder die eigene Gerechtigkeit des 
Menſchen. Soll die Weisheit gekauft werden, der Verſtand ge⸗ 
kauft werden, der Friede des Herzens gekauft werden, des Him⸗ 
mels Seligkeit gekauft werden, ſoll das Leben mit den Geburts⸗ 
wehen gekauft werden — die Liebe aber ſollte keine Wehen 
kennen? Liebe iſt kein Traum; ſollten wir ſie aber ſo nennen, 
ſo wäre es wohl am beſten zu ſagen: ihr erſter Schmerz iſt ein 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


unruhiger und angſtvoller Traum, der mit einem ſeligen Er⸗ 
wachen endet zu der Liebe, die der Sünden Menge deckt. Denn 
Liebe nimmt alles. Sie nimmt eines Menſchen Vollkommen⸗ 
heit, und will er hier karg ſein, ſo iſt die Liebe ihm hart; aber 
ſie nimmt auch ſeine Unvollkommenheit, ſeine Sünde, ſeine 
Sorge. Sie nimmt ſeine Stärke von ihm! aber auch ſein Leiden, 
oder welche furchtbaren Leiden deckte nicht die Liebe, als wären 
ſie nicht da, ſondern nur die Freude der Liebe, einen anderen zu 
retten? Aber wenn ſie das von ihm nimmt, ſo deckt ſie es ja; 
wenn ſie alles nimmt, ſo deckt ſie alles! wenn ſie, je nachdem 
ſie es von ihm nimmt, ihm etwas anderes dafür gibt, ſo deckt 
ſie ja über allen Verſtand. Die Menſchen haben oft gemeint, 
daß es andere Mittel gäbe, die wegzunehmen vermöchten und 
dadurch zu decken, was man gedeckt wünſchen müßte. Indeſſen 
hat ein alter Heide ſchon geſagt: es hilft einem Menſchen nichts, 
von der Sorge wegzureiten, ſie ſitzt hinter ihm auf dem Pferd. 
Dieſe ſeine Worte ſind oft wiederholt worden als ſolche, die 
einen tiefen Einblick in das menſchliche Herz verraten. Und doch: 
wenn jener alte Heide, der auf ſeinem Pferd mit der Sorge 
hinter ſich durch das Leben ritt — wenn er nicht nötig gehabt 
hätte, hinter ſich zu ſehen —; aber das tut die Liebe nicht. Wie 
ſollte auch das Auge, das liebt, Zeit bekommen, nach dem zu 
ſehen, was zurückliegt, ſo müßte es ja für dieſen Augenblick 
ſeinen Gegenſtand fahren laſſen! Wie ſollte das Ohr, das liebt, 
Zeit bekommen, die Anklage zu hören, ſo müßte es ja für dieſen 
Augenblick aufhören, auf die Stimme der Liebe zu hören! Und 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


wenn das Auge danach ſchielt, wenn das Ohr danach lauſcht, 
ſo iſt das Herz kleinlich, und dies iſt nicht die Schuld der Liebe, 
ja, ſie iſt erzürnt darüber; denn der, welcher ſeine eigene Voll⸗ 
kommenheit bedenken will, liebt nicht, und der, welcher ſeine 
eigene Unvollkommenheit in Anſchlag bringen will, liebt auch 
nicht. Ja, wenn er ſich ſelbſt ſo unvollkommen glaubte, daß 
er auf Grund deſſen von der Liebe ausgeſchloſſen wäre, ſo 
zeigte er, daß er nicht liebte, denn er ſchlug ſeine Unvollkommen⸗ 
heit an und brachte ſie in Rechnung, als wäre ſie eine Voll⸗ 
kommenheit. Aber Liebe nimmt alles. Und der, welcher ſich 
ausſchließt, will entweder über ſich ſelbſt ſich freuen und nicht 
über die Liebe ſich freuen; oder er will über ſich ſelbſt trauern 
und nicht über die Liebe ſich freuen. | 

Doch um einen Menſchen fo zu lieben, muß man den Mut 
haben, lieben zu wollen; denn das iſt das Geheimnis der 
irdiſchen Liebe, daß ſie ein Gepräge der göttlichen Liebe auf 
ſich trägt, ohne das ſie eine Torheit wäre oder eine fade Liebelei, 
wie wenn der eine Menſch ſo vollkommen wäre im Vergleich 
zum anderen, daß er dieſe Angſt wecken oder imſtande ſein 
könnte, alles zu nehmen. Um Gott ſo zu lieben, iſt eine demütige 
Freimütigkeit gefordert; denn die Gottesliebe erwacht in jedes 
Menſchen Bruſt weinend, wie der zarte Säugling, nicht lächelnd 
wie das Kind, das die Mutter kennt. Aber wenn die Gottes⸗ 
liebe den Herrn feſthalten will, ſo erhebt ſich der Feind furcht⸗ 
bar gegen ſie, und die Macht der Sünde iſt groß, Angſt einzu⸗ 
jagen. Doch die Liebe ſchließt ihr Auge nicht in der Stunde der 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


Gefahr, fie bietet ſich ſelber dar, um, wie ein alter Pſalmen⸗ 
ſänger ſagt, um „durch die Pfeile der Sünden in des Paradieſes 
Frieden zu dringen“. Und in je weiterer Ferne ſie die Menge 
der Pfeile erblickt, deſto furchtbarer wirken ſie, aber je näher 
ſie vordringt, um ſo weniger ſieht ſie die Pfeile, und wenn ſie 
alle in ihrer Bruſt aufgefangen hat, verwundet von ihnen allen, 
ſo ſieht ſie ja nicht mehr die Pfeile, ſondern nur die Liebe und 
die Seligkeit des Paradieſes. 

Als Jeſus eines Tages zu Tiſche ſaß bei einem Phariſäer, 
trat ein Weib ein in dasſelbe Haus. Ein Weib war kein ge⸗ 
ladener Gaſt, dieſes am wenigſten von allen; denn die Phariſäer 
wußten, daß ſie eine Sünderin war. Wenn nichts anderes ſie 
erſchrecken und aufhalten gekonnt hätte, die ſtolze Verachtung 
der Phariſäer, ihr ſchweigender Unwille, der Zorn ihrer Heilig- 
keit hätte ſie wohl abſchrecken können; aber ſie trat hinten zu 
Seinen Füßen und weinte, und fing an, Seine Füße zu netzen 
mit Tränen und mit den Haaren ihres Hauptes zu trocknen, 
und küßte Seine Füße und ſalbte ſie mit Salbe. Da war ein 
Augenblick der Angſt; was ſie einſam gelitten hatte, ihr Gram, 
die Anklage in ihrer eigenen Bruſt ward noch furchtbarer; denn 
dieſe verſtand ganz wohl, daß ſie Beifall hatte in der Miene 
der Phariſäer. Aber fie trat vor, und indem fie den Feind ſchlug, 
ſchlug ſie ſich ſelbſt zur Ruhe, und da ſie Ruhe gefunden hatte 
zu den Füßen Chriſti, verlor ſie ſich im Werke der Liebe. Und 
allwie ſie weinte, vergaß ſie zuletzt, worüber fie anfangs ge- 
weint hatte: die Tränen der Reue wurden Tränen der An- 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


betung. Ihr wurden viele Sünden vergeben, weil ſie viel liebte. 
Es gab ſolche in der Welt, die, nachdem ſie ihr Leben im Dienſte 
der Luſt verloren hatten, zuletzt ſich ſelbſt verloren und kaum 
mehr ſich ſelbſt erkannten. Das iſt der ſchändliche und entſetz⸗ 
liche Betrug der Luſt, daß ſie einen Menſchen um ihn ſelber 
betrügt und ihn nur eine leichtſinnige, vorübergehende Ahnung 
von dem eigenen Daſein behalten läßt; daß ſie ſich vermißt, 
Gott um ſein Mitwiſſen im Geſchöpf betrügen zu wollen. 
Dieſem Weibe ward die Gnade vergönnt, gleichſam ſich aus ſich 
ſelbſt herauszuweinen und in den Frieden der Liebe ſich zu 
weinen. Denn dem, welcher viel liebt, wird viel vergeben. Und 
das iſt der Liebe ſeliger Betrug, „daß der, welchem viel vergeben 
wird, viel liebt“, ſo daß dies: Viel Vergebung bedürfen zum 
Ausdruck für die Vollkommenheit der Liebe wird. 

Aber wenn auch die Liebe im Angeklagten ſelbſt die Macht 
hätte, ihm den Anblick der vielen Sünden zu entziehen, ſo daß 
er verloren in Liebe ſie nicht mehr ſähe, weil die Liebe ſie deckte — 
iſt er damit für immer gerettet? Soll nichts ihn aufhalten auf 
ſeinem Weg und ihn plötzlich zwingen, zu erinnern, was die Liebe 
deckte; kommt kein Gericht von außen über einen Menſchen? 
Hat die Liebe hier wieder dieſelbe Macht, ſo daß nicht einmal 
der Richter der Sünden Menge entdeckt, weil die Liebe ſie deckt. 
Laß einen Richter ſich täuſchen, durchdringt er nicht jeden 
Schleier und macht alles offenbar? Laß einen Richter ſich be⸗ 
ſtechen laſſen, fordert er nicht unbeugſam, was die Forderung 
des Gerichts iſt? Läßt das Urteil der Welt ſich täuſchen? Biete 


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Liebe deckt der Sünden Menge 


ihr dieſe Liebe an, und du fährſt fort, Schuldner zu ſein; bring 
ihr deines Herzens beſtes Gefühl, und du fährſt fort, Schuldner 
zu ſein; biete die Tränen der Reue, und das Gericht fordert die 
eigene Gerechtigkeit. Läßt das Urteil der Liebe ſich beſtechen? 
Biete ihr Gold, ſie wird dich verachten; biete ihr Macht und 
Gewalt, ſie verſchmäht dich; biete die Herrlichkeit der Welt, 
ſie richtet dich, daß du die Herrlichkeit der Welt liebteſt; ver⸗ 
künde deine wunderbaren Taten, ſie richtet dich, daß du nicht 
in der Liebe warſt. Denn das Gericht fordert, was des Gerichtes 
Forderung iſt, und das Urteil der Welt fordert, was der Welt 
iſt, und dies verbirgt in ihren Augen, was da mangelt; aber 
das Urteil der Liebe fordert, was der Liebe iſt; denn der, welcher 
richtet, fordert, aber der, welcher fordert, ſucht, und der, 
„welcher Sünde zudeckt, ſucht Liebe“; aber der, welcher Liebe 
findet, deckt der Sünden Menge; denn der, welcher findet, was 
er ſuchte, deckt ja, was er nicht ſuchte. 

Iſt das Wort des Apoſtels nicht ein Troſt, der Freimütigkeit 
gibt im Gericht; iſt es nicht ein Troſt, gerade wie er gebraucht 
wird; denn geht er nicht über allen Verſtand! Groß iſt es für 
den Verſtand, alles zu erinnern; eine Torheit iſt es für ihn, 
daß die Liebe der Sünden Menge decke. Oder ſollten wir uns 
dieſes Troſtes berauben, indem wir verſtändig gleichſam die 
Liebe abweiſen wollen, indem wir fie zer ſtückeln als Entgelt für 
die einzelnen Sünden, und ſo in den Sünden bleiben? Sollten 
wir uns von der Liebe ausſchließen; denn, wenn wir in ihr 
bleiben, wo iſt der, der anklagt? Oder iſt es nicht dieſelbe Liebe 


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Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


in einem Menſchen, die vor ihm ſelbſt der Sünden Menge 
deckte, dieſelbe Liebe, die vor der Liebe der Sünden Menge deckte? 
Ja, ſelbſt wenn die Liebe nicht ganz in einem Menſchen geſiegt 
hätte, ſelbſt wenn die Angſt entdeckte, was die Liebe nicht Kraft 
genug hatte, in ihm zu decken, ſo wird doch am Tage des Ge⸗ 
richts „die Liebe“ der Liebe in ihm zu Hilfe kommen, die Furcht 
ausjagen und der Sünden Menge decken. 

Da Jeſus eines Tages zu Tiſch ſaß bei einem Phariſäer, trat 
in dasſelbe Haus ein Weib ein; ſie war niedergebeugt; denn 
ſie hatte viele Sünden. Das Urteil der Welt ſtand lesbar im 
Antlitz der Phariſäer; ſie ließ ſich nicht täuſchen, ihre Sorge 
und ihre Tränen verbargen nichts, ſondern offenbarten alles, 
und da war nichts zu entdecken, als der Sünden Menge. Doch 
ſie ſuchte nicht das Urteil der Welt, „ſondern ſie trat hinten zu 
Jeſu Füßen und weinte“. Da entdeckte die Liebe, was die 
Welt deckte —: die Liebe in ihr; und da ſie in ihr nicht geſiegt 
hatte, kam die Liebe des Erlöſers ihr zu Hilfe, „daß ſie, der 
die fünfhundert Pfennig nachgelaſſen wurden, am höchſten 
liebte“, und Er machte die Liebe in ihr noch mächtiger, der 
Sünden Menge zu decken, die Liebe, die ſchon da war; denn 
„ihr wurden ihre vielen Sünden vergeben, weil ſie viel liebte!“ 

* 

Selig der Menſch, deſſen Herz mit ihm zeugt, daß er viel 
liebte; ſelig ein Menſch, wenn Gottes Geiſt, der alles weiß, 
zeugt, daß er viel liebte; für ihn gibt es Troſt hier und dort; 
denn Liebe deckt der Sünden Menge. 


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Über den Glauben 


Gebet 
Wieder iſt ein Jahr vergangen, himmliſcher Vater! Wir 
danken Dir dafür, daß es zur Zeit der Gnade gelegt ward, und 
erſchrecken nicht darüber, daß es auch zur Zeit der Rechenſchaft 
gelegt werden ſoll; denn wir vertröſten uns auf Deine Barm⸗ 
herzigkeit. Das neue Jahr ſteht vor uns mit ſeinen For de⸗ 
rungen; und gehen wir auch gebeugt und bekümmert hinein, 
weil wir vor uns nicht verheimlichen können und wollen den 
Gedanken an der Augen Luſt, die betörte; an die Süße der Rache, 
die verführte; an den Zorn, der uns unverſöhnlich machte; an 
das kalte Herz, das weit von Dir wegfloh; — ſo gehen wir doch 
auch nicht ganz mit leeren Händen hinein; denn wir wollen 
auch ſie mit uns nehmen: die Erinnerungen an die bangen 
Zweifel, die beruhigt wurden; an die ſtillen Bekümmerungen, 
die gelindert wurden; an den niedergedrückten Sinn, der erhoben 
wurde; an die frohe Hoffnung, die nicht beſchämt wurde. Ja, 
wenn wir in ſorgenvollen Augenblicken unſern Sinn ſtärken 
und aufrichten wollen durch den Gedanken an die großen 
Männer, Deine erwählten Werkzeuge, die in ſchweren Anfech⸗ 
tungen, in der Angſt des Herzens den Sinn frei behielten, den 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Mut ungeſchwächt, den Himmel offen, ſo wollen wir auch dazu 
unſer Zeugnis legen in der Überzeugung, daß, wenn auch unſer 
Mut im Vergleich mit dem Jener nur Mißmut iſt, unſere 
Macht nur Ohnmacht, Du doch derſelbe biſt, derſelbe gewaltige 
Gott, der die Geiſter prüft im Streit, derſelbe Vater, ohne 
deſſen Wille nicht ein Sperling zur Erde fällt. Amen. 


* * 


* 


Gal. III, 23-29: „Ehedenn aber der Glaube 
kam, wurden wir unter dem Geſetz verwahret 
und verſchloſſen auf den Glauben, der da 
ſollte offenbar werden. Alſo iſt das Geſetz 
unſer Zuchtmeiſter geweſen auf Chriſtum, 
daß wir durch den Glauben gerecht würden. 
Nun aber der Glaube kommen iſt, ſind wir 
nicht mehr unter dem Zuchtmeiſter. Denn ihr 
ſeid alle Gottes Kinder durch den Glauben 
an Chriſtum Jeſum. Denn wieviel euer auf 
Chriſtum getauft find, die haben Chriſtum 
angezogen. Hie iſt kein Jude noch Grieche, 
hie iſt kein Knecht noch Freier, hie iſt kein 
Mann noch Weib; denn ihr ſeid allzumal 
einer in Chriſto Jeſu. Seid ihr aber Chriſti, 
ſo ſeid ihr ja Abrahams Same und nach der 
Verheißung Erben. | 


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Über den Glauben 


Das Feſt, das wir heute feiern, hat keinen kirchlichen 
Namen, und doch iſt ſeine Feier uns nicht weniger willkommen; 
ſeine Aufforderung zum ſtillen Nachdenken iſt nicht weniger 
ernſt. Ein Jahr iſt vergangen, ein neues hat begonnen; noch iſt 
in ihm nichts geſchehen; das Vergangene iſt abgeſchloſſen, das 
Gegenwärtige iſt nicht, nur das Künftige iſt, welches nicht iſt. 
Im täglichen Leben pflegen wir einander das eine oder andere 
Gut zu wünſchen. Je nachdem wir eines Menſchen beſondere 
Verhältniſſe zu kennen glauben, ſeine Gedanken und ſein Vor⸗ 
haben, im ſelben Grad meinen wir auch imſtande zu ſein, ihm 
ein beſtimmtes Gut wünſchen zu können, das gerade für ihn 
und für ſein Leben paßt. Auch an dieſem Tag unterlaſſen wir 
es nicht, andern Menſchen unſer Wohlwollen und unſere Teil⸗ 
nahme zu erweiſen, indem wir ihnen dieſes oder jenes Gut wün⸗ 
ſchen. Aber da an dieſem Tag der Gedanke an das Künftige 
und die darin liegende uner forſchliche Möglichkeit recht lebendig 
für uns wird, iſt unſer Wunſch gerne von allgemeinerer Art, 
weil wir hoffen, daß des Wunſches größerer Umfang leichter 
die Mannigfaltigkeit des Künftigen wird faſſen können; weil 
wir die Schwierigkeit fühlen, im Verhältnis zu dem Unbe⸗ 
ſtimmten und dem Unbeſtimmbaren etwas Beſtimmtes zu wün⸗ 
ſchen. Indes wir laſſen dieſe Schwierigkeit unſern Wunſch nicht 
aufhalten, wir geben dem Gedanken nicht Zeit, des Herzens 
rätſelvollen und unbeſtimmten Trieb zu beunruhigen, wir 
folgen einem Wohlwollen, das, wenn es auch mit dem Namen 
der Liebe geehrt zu werden nicht verdient, doch auch nicht als 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Leichtſinn herabgeſetzt werden darf. Nur mit Rückſicht auf einen 
einzelnen Menſchen machen wir vielleicht eine Ausnahme. An 
ihm hängt unſer Herz feſter, um ſein Wohl ſind wir be⸗ 
kümmerter. Je mehr dieſes der Fall iſt, um ſo mehr werden wir 
uns der Schwierigkeit bewußt. Indem der Gedanke in das 
Künftige ſich vertieft, geht er irr in ſeinem raſtloſen Streben, 
dem Rätſelvollen eine Erklärung abzuzwingen oder abzulocken; 
ſpähend haſtet er von einer Möglichkeit zur andern, aber ver⸗ 
gebens; und unter all dem wird die wünſchende Seele betrübt, 
die ſitzt und wartet, daß der Gedanke zurückkehren und ſie er⸗ 
leuchten möge, was mit all ihrer Innerlichkeit ſie wünſchen 
dürfte. Was andere leicht und ohne Mühe tun, das fällt dieſem 
Menſchen hart und ſchwer; was er ſelbſt leicht für andere tut, 
das fällt ihm ſchwer bei dem, den er am höchſten liebt, und die 
Schwierigkeit wird größer, je höher er liebt. Zuletzt wird er 
ratlos; er will den Geliebten ſeiner Macht nicht entſchlüpfen 
laſſen, ihn nicht der Gewalt der Zukunft überlaſſen, und doch 
muß er es; er will ihn begleiten mit allen guten Wünſchen, und 
nun hat er nicht einen einzigen. 

Wenn eines Menſchen bekümmerte Seele, gleich einem Ge⸗ 
fangenen, in dieſe Schwierigkeit ſich verſtrickt fühlte, ſo würde 
er wohl auch auf die Zeugniſſe ſich beſinnen, die er an heiligen 
Orten gehört hatte, er würde vielleicht auch dorthin gehen, um 
wieder zu überlegen und nachzuforſchen, ob es doch nicht einen 
Wunſch gebe, der ſo ſicher ſei, daß er ſeiner ganzen Seele Inner⸗ 
lichkeit in ihn legen dürfe, ohne einen Teil von ihr zurück⸗ 


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Über den Glauben 


zubehalten für einen andern Wunſch, der für den Geliebten 
auch von Wichtigkeit wäre; ſo ſicher, daß eher zu befürchten 
wäre, daß er nicht Innerlichkeit genug hätte, um das zu wün⸗ 
ſchen, was gewünſcht werden ſollte; einen Wunſch, den mit 
neuen Wünſchen, daß er auch dauern möchte, zu begleiten er 
nicht nötig hätte; einen Wunſch, der nicht ränkevoll fortdauerte, 
wann man doch aufgehört hatte, ihn zu wünſchen; einen Wunſch, 
der nicht ein einzelnes Ding anginge, damit er nicht ein anderes 
einzelnes Ding vergeſſen hätte, das ſpäter ſtörend eingreifen 
könnte; einen Wunſch, der nicht das Gegenwärtige anginge, 
ſondern auf das Künftige paßte, ſo wie dieſes ja der Anlaß 
zu ſeinem Wunſch war. Gäbe es einen ſolchen Wunſch, ſo wäre 
jener Menſch frei und froh, froh durch ſeinen Wunſch, froher 
dadurch, daß er ihn dem andern wünſchen konnte. 

Und ſo wird an dieſen heiligen Orten von vielen guten 
Dingen geredet. Hier wird geredet von den Gütern der Welt, 
von Geſundheit, frohen Tagen, Reichtum, Macht, Glück, einem 
herrlichen Gedächtnis; und hier wird gewarnt vor ihnen; denn 
die, welche ſie haben, werden gewarnt, daß ſie nicht glauben an 
ſie; die, welche ſie nicht haben, werden gewarnt, daß ihr Herz 
nicht nach ihnen dränge. Vom Glauben aber wird eine andere 
Sprache geführt. Es wird geſagt, daß er das höchſte Gut ſei, 
das ſchönſte, das teuerſte, aller Seligkeit Reichtum, nicht zu 
meſſen mit etwas anderem und nicht zu erſtatten. Iſt er nun 
ſo verſchieden von den andern Gütern, daß er das höchſte iſt, 
aber im übrigen von derſelben Art wie jene, flüchtig und unſtet, 


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Sören Kierkegaard Religisſe Reden 


nur einzelnen Auserwählten zugeteilt, ſelten für das ganze 
Leben? Wäre es ſo, dann wäre es unerklärlich, daß an den 
heiligen Orten allzeit vom Glauben geredet wird, daß er wieder 
und wieder geprieſen und gerühmt wird. Der, welcher reden 
ſollte, müßte entweder im Beſitz dieſes Gutes ſein oder es ent⸗ 
behren. Wenn er es beſäße, ſo würde er wohl ſagen: „Ich ge⸗ 
ſtehe gerne, daß es das Herrlichſte von allem iſt, aber es preiſen 
vor den andern! Nein, das kann ich nicht, das hieße, es denen 
noch ſchwerer machen, die es nicht haben; außerdem iſt ein ge⸗ 
heimer Schmerz an dieſes Gut geknüpft, der mich einſamer 
macht, als die ſchwerſten Leiden.“ Und das wäre edel und gütig 
von ihm gedacht. Aber der, der es nicht hätte, er könnte es nicht 
rühmen. So würde das Gegenteil von dem geſchehen, was ge⸗ 
ſchieht; der Glaube wäre das einzige Gut, das niemals an dieſen 
Orten genannt würde; denn es wäre zu groß, als daß man 
davor warnen könnte, zu herrlich, als daß man es preiſen dürfte, 
aus Furcht, die könnten zur Stelle ſein, die es nicht beſitzen und 
es nicht bekommen konnten. Nun iſt aber der Glaube von einer 
andern Beſchaffenheit; er iſt nicht bloß das höchſte Gut, ſon⸗ 
dern er iſt ein Gut, deſſen alle teilhaftig werden können; und 
der, der ſich ſeines Beſitzes erfreut, er freut ſich zugleich über 
der Menſchen zahlloſes Geſchlecht; denn was ich beſitze, ſagt 
er, das beſitzt jeder Menſch, oder kann es beſitzen. Der, welcher 
einem andern Menſchen es wünſcht, er wünſcht es ſich ſelbſt; 
der, welcher es ſich ſelbſt wünſcht, wünſcht es jedem Menſchen; 
denn das, wodurch ein anderer Menſch es hat, iſt nicht das, 


38 


Über den Glauben 


wodurch er verſchieden iſt von ihm, ſondern das, wodurch er 
eins iſt mit ihm; das, wodurch er es beſitzt, iſt nicht das, wo⸗ 
durch er verſchieden iſt von andern, ſondern das, wodurch er 
ganz eins iſt mit allen. 

Hier wäre alſo ein ſolcher Wunſch, wie ihn jener ratloſe 
Menſch ſuchte; er könnte einem andern Menſchen ihn wünſchen 
von ganzem Herzen, mit all ſeiner Macht, mit der ganzen Seele, 
und dürfte dabeibleiben, es inner licher und innerlicher zu wün⸗ 
ſchen, wie feine Liebe innerlicher würde. — So würde er es alſo 
wünſchen. — 

Wenn nun ein Menſch wäre, der zu einem andern ginge und 
zu ihm ſagte: „Oft habe ich den Glauben preiſen gehört als das 
herrlichſte Gut; ich fühle wohl, ich beſitze ihn nicht; meines 
Lebens Verwirrung, mein zerſtreuter Sinn, meine vielen Be⸗ 
kümmerungen und ſo vieles andere ſtören mich, aber dieſes weiß 
ich, daß ich nur einen Wunſch habe, einen einzigen, daß der 
Glaube mir zuteil werden möge“; wenn es ein gütiger Menſch 
wäre, zu dem er ginge, der antwortete: „Das iſt ein ſchöner und 
ein frommer Wunſch, den du nicht loslaſſen ſollſt, ſo wird er 
wohl erfüllt werden“ — würde es ihm da nicht vorkommen, 
als ſei das eine liebliche Rede, und würde er nicht gerne auf 
ſie hören, denn wir wollen ja alle gerne den reden hören, der 
von der Erfüllung unſeres Wunſches redet. Doch die Zeit ging 
hin, und er kam nicht weiter. So ging er zu einem andern Men⸗ 
ſchen, betraute auch ihn mit ſeiner Bekümmerung und ſeinem 
Wunſch. Der ſah ernſt auf ihn und ſagte: „Wie kannſt du ſo 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


irre gehen? Dein Wunſch iſt nicht bloß fromm und ſchön, und 
darf um keinen Preis aufgegeben werden; du biſt ihm weit 
näher, als du ſelbſt glaubſt; denn es iſt deine Pflicht, du ſollſt 
den Glauben haben, und wenn du ihn nicht haſt, ſo iſt es deine 
Schuld und eine Sünde!“ Er würde ſtutzen über dieſe Rede, 
er würde vielleicht denken: fo iſt wohl der Glaube nicht fo herr⸗ 
lich, wie er beſchrieben wird, da er ſo leicht erworben wird; das 
wäre ja auch eine Ungereimtheit. Nach den andern Gütern reiſt 
man hinaus in die weite Welt; ſie liegen verborgen an fernen 
Orten, die Menſchen nur mit großen Gefahren zugänglich ſind; 
oder wenn dieſes nicht der Fall iſt, ſo geht es mit ihrer Ver⸗ 
teilung wie mit dem Waſſer in dem Teiche Bethesda, von dem 
wir in der Heiligen Schrift leſen: einmal zuweilen ſtieg ein 
Engel hernieder und rührte das Waſſer, und der, welcher zuerſt 
kam — ja der, welcher zuerſt kommt, er wird glücklich. Mit dem 
Glauben dagegen, mit dem höchſten Gut ſollte das nicht der 
Fall ſein, mit ſeinem Erwerb ſollte keine Schwierigkeit ver⸗ 
bunden ſein? Indeſſen würde er doch wohl ernſthafter darüber 
nachdenken, und wenn er dann recht tief ſich beſonnen hätte, 
ſo ſagte er vielleicht: „Er hatte doch recht, es iſt ſo, es war 
eine beherzte Rede, in der Sinn und Meinung war, ſo ſoll 
man reden zu einem Menſchen; denn Wünſche taugen zu nichts.“ 
So würde er in aller Stille die Bewegungen in ſeinem Innern 
vornehmen; und jedesmal, wenn ſeine Seele auf einem Wunſche 
zur Ruhe ſich legen wollte, ſo riefe er ſie an und ſagte: „Du 
weißt, du ſollſt nicht wünſchen; “ und dann ging er weiter. Wenn 


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Über den Ölauben 


feiner, Seele angſt würde, fo riefe er fie an und ſagte: „Wenn 
du dich ängſtigſt, fo geſchieht es, weil du wünſcheſt; denn Angſt 
iſt des Wunſches Form, und du weißt, du ſollſt nicht wün⸗ 
chen’! — dann ging er weiter. Wenn er der Verzweiflung nahe 
wäre, wenn er ſagte: „Ich kann nicht; alle andern Menſchen 
können, nur ich kann nicht. Oh, daß ich nie jene Rede gehört 
hätte, daß man mich ungeſtört meinen Gang hätte gehen laſſen 
mit meinem Leid — und mit meinem Wunſch;“ ſo riefe er ſeine 
Seele an und ſagte: „Nun biſt du heimtückiſch; denn du ſagſt, 
daß du wünſcheſt, und tuſt, als wäre von etwas Außerem die 
Rede, das man wünſchen kann, während du weißt, daß es etwas 
Inneres iſt, das man nur wollen kann; du betrügſt dich ſelbſt; 
denn du ſagſt: alle andern Menſchen können, nur ich nicht, und 
doch weißt du, daß das, wodurch die andern Menſchen es können, 
das iſt, wodurch ſie ganz eins ſind mit dir, ſo daß, wenn es 
wirklich Wahrheit wäre, daß du es nicht kannſt, die andern 
es auch nicht können. So verrätſt du nicht bloß deine eigene 
Sache, ſondern, ſo weit es bei dir ſteht, die Sache aller Men⸗ 
ſchen; und indem du demütig von ihrer Zahl dich ausſchließeſt, 
mordeſt du argliſtig ihre Kraft!! — dann ging er weiter. Wenn 
er ſo langſam längere Zeit hindurch unter dem Zuchtmeiſter 
auferzogen worden war, ſo war er vielleicht zum Glauben ge⸗ 
langt. „War auferzogen worden“, wie wenn es ein anderer 
Menſch wäre, der es getan hätte. Doch dieſes iſt nicht der Fall; 
das iſt nur ein Mißverſtändnis, nur ein Anſchein. Ein Menſch 
kann viel für einen andern tun, aber ihm den Glauben geben 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


kann er nicht. Wir hören in der Welt vielerlei Rede. Der 
eine ſagt: „Meine Bildung, ſie iſt mein eigenes Werk; ich 
ſchulde keinem Menſchen etwas“, und er meint, ſeinen Stolz 
darein ſetzen zu dürfen. Ein anderer ſagt: „Jener ausgezeichnete 
Meiſter war mein Lehrer, und ich rechne es mir zur Ehre an, 
mich ſeinen Schüler nennen zu dürfen“, und er meint, ſeinen 
Stolz darein ſetzen zu dürfen. Wir wollen nicht entſcheiden, 
wieweit ſeine Rede berechtigt iſt; aber damit Sinn in ihr ſei, 
kann ſie ja doch nur auf die vorzüglich Begabten angewendet 
werden; die, welche entweder urſprünglich ſich ſelbſt genug 
waren, oder doch ſo begünſtigt, daß ſie Schüler der Ausge⸗ 
zeichneten werden konnten. Wir dagegen, wir, die zu unbe⸗ 
deutend waren, um Schüler zu werden, was ſollen denn wir 
ſagen? Wenn ein Mann ſagte: „Als die Menſchen mich ver⸗ 
ſchmähten, da ging ich zu Gott, Er ward mein Lehrmeiſter, und 
dieſes iſt meine Seligkeit, meine Freude, mein Stolz“, ſollte 
das weniger ſchön ſein? Und doch kann jeder Menſch das ſagen, 
darf das ſagen; kann es in Wahrheit ſagen, und wenn er es 
nicht in Wahrheit ſagt, ſo iſt es nicht, weil der Gedanke nicht 
wahr iſt, ſondern weil er ihn verdreht. Jeder Menſch darf es 
ſagen. Ob ſeine Stirne flachgedrückt iſt wie die des Tieres faſt, 
oder ſtolzer ſich wölbt als der Himmel; ob ſein Arm ausgeſtreckt 
iſt, über Länder und Reiche zu gebieten, oder notdürftige Gaben 
einzuſammeln, die vom Tiſche des Reichen fallen; ob ſeinem 
Wink von Tauſenden gehorcht wird, oder nicht eine Seele iſt, 
die auf ihn achtet; ob die Beredſamkeit auf ſeinen Lippen blüht, 


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Über den Glauben 


oder nur unverſtändliche Laute über ſie kommen; ob er der 
kraftvolle Mann iſt, der dem Sturme trotzt, oder das wehrloſe 
Weib, das nur Schutz ſucht gegen das Unwetter — das tut 
nichts zur Sache, gar nichts. Jeder Menſch darf es ſagen, wenn 
er den Glauben beſitzt, denn dieſe Herrlichkeit iſt des Glaubens 
Herrlichkeit. Und den kennſt du, du wirſt nicht bange, wenn er 
genannt wird, als ob er dadurch von dir genommen würde, als 
ob du erſt im Augenblick des Abſchieds ſeine Seligkeit zu 
ſchmecken bekämeſt. Oder kennſt du ihn nicht? Ach! ſo biſt du 
ja unglücklich. Du könnteſt auch nicht trauern und ſagen: „Der 
Geber der guten Gaben ging an meiner Türe vorüber;“ du 
könnteſt nicht trauern und ſagen: „Stürme und Unwetter 
nahmen ihn von mir; denn der Geber der guten Gaben, er ging 
nicht an deiner Türe vorüber; Stürme und Unwetter nahmen 
ihn nicht von dir, denn das können ſie nicht.“ 

So gab es alſo einen Wunſch, ganz wie jener ratloſe Menſch 
ihn ſuchte; er war nicht länger in Not. Indes, da zeigte ſich eine 
neue Schwierigkeit; denn indem er es wünſchen wollte, ward 
ihm klar, daß jenes Gut nicht durch einen Wunſch erlangt wer⸗ 
den kann; er konnte ſelbſt es nicht bekommen, indem er es 
wünſchte, doch dieſes bekümmerte ihn minder ; aber er konnte 
es auch einem andern nicht geben, indem er es ihm wünſchte; nur 
indem er ſelbſt es wollte, konnte der andere es ergreifen. So 
war er denn wieder gezwungen, ihn loszulaſſen, gezwungen, ihn 
ſich ſelbſt zu überlaſſen, ſein Wunſch war ohnmächtig wie zuvor. 
Und doch war das ſo nicht ſeine Meinung. Er wollte gerade 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


alles für ihn tun; denn wenn ich einem Menſchen etwas wünſche, 
ſo verlange ich ſein Mitwirken nicht. So hatte auch jener rat⸗ 
loſe Menſch es ſich gedacht. Er wollte gleichſam ſagen zu dem, 
den er liebte: „Sei du bloß ruhig und unbekümmert, du haſt 
gar nichts zu tun als froh zu ſein, zufrieden und glücklich mit 
allen den guten Dingen, die ich dir wünſchen will. Ich werde 
wünſchen, ich werde nicht müde; ich werde den allgütigen Gott 
bewegen, der die guten Gaben austeilt, ich werde ihn rühren 
mit meinen Bitten; und ſo ſollſt du das alles zuſammen be⸗ 
kommen.“ Und ſiehe, indem er die einzelnen guten Dinge nennen 
wollte, erſchienen ſie ihm ſo zweifelhaft, daß er ſie dem andern 
nicht wünſchen durfte; da fand er endlich, was er ſuchte, was er 
ruhig wünſchen durfte, und ſiehe: dieſes ließ ſich nicht wünſchen! 

Er war wieder ratlos, wieder bekümmert, wieder gefangen 
in einer Schwierigkeit. Iſt alſo das ganze Leben nur ein Wider⸗ 
ſpruch, kann die Liebe ihn nicht erklären, ſondern nur ihn ſchwie⸗ 
riger geſtalten? Dieſen Gedanken konnte er nicht aushalten, er 
mußte einen Ausweg ſuchen. Es mußte etwas nicht ſtimmen 
in ſeiner Liebe. So ſah er ein, daß, wie tief er auch den andern 
Menſchen geliebt hatte, hatte er doch auf unrichtige Weiſe ge⸗ 
liebt; denn wenn es möglich geweſen wäre, durch ſeinen Wunſch 
ihm alle guten Dinge zu verſchaffen, auch das höchſte Gut, den 
Glauben, ſo hätte er ihn eben dadurch zu einem unvollkommenen 
Weſen gemacht. Da fand er, daß das Leben ſchön ſei, daß es 
eine neue Herrlichkeit des Glaubens ſei, daß kein Menſch ihn 
dem andern geben kann; ſondern daß, was das Höchſte iſt, das 


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Über den Glauben 


Edelſte, das Heiligſte im Menſchen, diefes jeder Menſch hat, 
dieſes das Urſprüngliche iſt in ihm, dieſes jeder Menſch hat, 
wenn er es haben will; und dieſes iſt das Herrliche am Glauben, 
daß er nur unter dieſer Bedingung gehabt werden kann, deshalb 
iſt er das einzige untrügliche Gut, weil er nur gehabt werden 
kann, indem er beſtändig erworben wird, und nur erworben, 
indem er beſtändig hervorgebracht wird. 

Der raſtloſe Menſch war nun beruhigt; aber vielleicht war 
eine Veränderung mit ihm ſelbſt vorgegangen, mit dem, für 
deſſen Wohl er ſo bekümmert war, mit ihrem Verhältnis zu⸗ 
einander. Sie waren getrennt worden dadurch, daß der eine 
ſozuſagen in ſeine Rechte eingeſetzt war, der andere in ſeine 
Grenzen verwieſen. Ihr Leben war bedeutungs voller geworden 
als zuvor, und doch waren ſie einander wie fremd geworden. 
Sein Herz, das zuvor ſo reich an Wünſchen war, war nun arm 
geworden; ſeine Hand, die früher ſo willig war zu helfen, hatte 
nun gelernt, ruhig zu ſein; denn er wußte, es half nichts. Es 
war Wahrheit, was er erkannt hatte, aber dieſe Wahrheit hatte 
ihn nicht glücklich gemacht. So iſt das Leben alſo ein Wider⸗ 
ſpruch, und die Wahrheit kann ihn nicht löſen, ſondern ihn nur 
ſchmerzlicher machen; denn je tiefer er ihn erkannte, um ſo mehr 
fühlte er ſich getrennt, um ſo ohnmächtiger in ſeinem Verhältnis 
zum andern. Und doch konnte er nicht wünſchen, daß es Unwahr⸗ 
heit ſei; nicht wünſchen, daß er unwiſſend darum geblieben wäre, 
unerachtet es ſie doch für alle Ewigkeiten getrennt hatte, ſo 
daß der Tod ſelbſt ſie nicht ſo hätte trennen können. Dieſen Ge⸗ 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


danken war er nicht imſtande auszuhalten, er mußte eine Er⸗ 
klärung ſuchen, und da ſah er ein, daß ſein Verhältnis zu ihm 
gerade jetzt ſeine wahre Bedeutung erlangt hatte. Wenn ich, 
ſagte er, mit meinem Wunſch oder mit meinen Gaben ihm das 
höchſte Gut ſchenken könnte, ſo könnte ich es auch von ihm 
nehmen, wenn er dieſes auch nicht zu befürchten hätte, ja! was 
ſchlimmer iſt, wenn ich es könnte, ſo würde ich im ſelben Augen⸗ 
blick, wo ich es ihm gäbe, es ihm nehmen; denn dadurch, daß 
ich ihm das Höchſte gab, nahm ich ihm das Höchſte; denn das 
Höchſte war, daß er nur ſelbſt es ſich geben konnte. Deshalb 
will ich Gott danken, daß es nicht ſo iſt; meine Liebe hat nur 
ihren Kummer verloren und die Freude gewonnen; denn ich weiß 
es, daß ich mit all meiner Anſtrengung doch nicht imſtande wäre, 
ihm das Gut ſo ſicher zu bewahren, wie er ſelbſt es bewahren 
wird; er ſoll mir dafür auch nicht danken, nicht weil ich ihn 
davon befreie, ſondern weil er mir gar nichts ſchuldet. Sollte 
ich jetzt nun weniger froh ſein über ihn, weniger froh darüber, 
daß er das teuerſte aller Güter beſitzt. O nein, ich will noch 
froher ſein; denn wenn er es mir ſchuldete, würde es unſer Ver⸗ 
hältnis ſtören. Und wenn er nicht im Beſitz davon iſt, ſo kann 
ich ihm ja behilflich ſein; denn ich will ſeinen Gedanken be⸗ 
gleiten und ihn zwingen einzuſehen, daß es das höchſte Gut iſt, 
und ich will ihn hindern, zu entſchlüpfen in irgendein Verſteck, 
daß es dunkel vor ihm werde, ob er es ergreifen kann oder nicht; 
denn ich will mit ihm jede Mißlichkeit durchdringen, bis er, 
wenn er nicht im Beſitz davon iſt, nur einen einzigen Ausdruck 


46 


Über den Glauben 


hat, der fein Unglück erklärt, den nämlich, daß er nicht will; 
das kann er nicht aushalten, ſo wird er es erwerben. Auf der 
andern Seite will ich die Herrlichkeit des Glaubens vor ihm 
preiſen, und indem ich vorausſetze, daß er ihn beſitzt, bringe ich 
ihn dazu, ihn beſitzen zu wollen. So heute, am erſten Tage des 
Jahres, da der Gedanke an das Künftige mit ſeiner mannig⸗ 
faltigen Möglichkeit lockt, will ich ihm zeigen, daß er im 
Glauben im Beſitz der einzigen Macht iſt, die das Künftige 
beſiegen kann, ich will zu ihm reden von der Erwartung 
des Glaubens. 


Wenn wir von der Erwartung des Glaubens reden, ſo reden 
wir auch von Erwartung im allgemeinen; wenn wir von Er⸗ 
wartung reden, ſo halten wir es für natürlich, zu denen zu 
reden, die etwas erwarten. Aber die, welche erwarten, ſie ſind 
ja die Frohen und die Glücklichen. Sind ſie es, zu denen an 
den heiligen Orten zunächſt geredet werden ſoll, und nicht eher 
die Unglücklichen, die, welche ſchon die Rechnung und mit dem 
Leben abgeſchloſſen haben und nichts erwarten? Gewiß ſollte 
zu ihnen geredet werden, wenn unſere Stimme es vermöchte. Es 
ſollte geſagt werden, daß es eine erbärmliche Weisheit iſt, die 
ſie gefunden haben, daß es bequem genug iſt, ſeinen Sinn zu 
verhärten; es ſollte ihnen weggeriſſen werden das Kopfkiſſen 
der Trägheit, auf dem ſie müßig ihr Leben verträumen; es ſollte 
geſagt werden, daß es eine ſtolze Auszeichnung iſt, die ſie im 
Leben erworben haben, daß, während alle andern Menſchen, 


47 


Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


wie glücklich oder wie bekümmert ſie in der Welt auch wurden, 
doch allzeit geneigt ſind, zu bekennen, daß Gott wohl die Rech⸗ 
nung abſchließen könnte; daß, während alle andern Menſchen 
geſtehen, daß ſie am Tage des Gerichts nicht imſtande wären, 
zu antworten, nicht eins auf Tauſend — ſie ſich vorbehielten, 
im Beſitz einer gerechten Forderung ans Leben zu ſein, die nicht 
eingelöſt worden ſei, einer Forderung, die ſeinerzeit die Rech⸗ 
nung ſchwierig genug machen würde — doch nicht für ſie. So 
könnte zu ihnen geredet werden; doch wir wollen lieber zu denen 
reden, die noch etwas erwarten. 

Wie die Zahl der Erwartenden wohl immer die größte war 
in der Welt, ſo kann ihre Erwartung wieder ſo verſchieden ſein, 
daß es ſehr ſchwer iſt, von ihnen allen zu reden. Doch eines 
haben alle Erwartenden gemeinſam, daß ſie etwas Künftiges 
erwarten; denn Erwartung und das Künftige ſind untrenn⸗ 
bare Gedanken. Mit dem Künftigen beſchäftigt ſich der, der 
etwas erwartet. Aber mit dieſem ſich zu beſchäftigen, iſt viel⸗ 
leicht nicht richtig; die Klage, die oft gehört wird, daß die Men⸗ 
ſchen das Gegenwärtige vergeſſen über dem Künftigen, iſt viel⸗ 
leicht wohlbegründet. Wir wollen nicht leugnen, daß es der Fall 
geweſen iſt in der Welt, wenn auch am wenigſten in unſerer 
Zeit, aber wir wollen auch nicht unterlaſſen, daran zu erinnern, 
daß es das Große iſt am Menſchen, der Beweis für ſeine gött⸗ 
liche Herkunft, daß er ſich damit beſchäftigen kann; denn wäre 
kein Künftiges, ſo wäre auch nichts Vergangenes, und wäre 
weder Künftiges noch Vergangenes, ſo wäre der Menſch ge⸗ 


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Über den Glauben 


knechtet wie das Tier, ſein Kopf zur Erde geneigt, ſeine Seele 
gefangen im Dienſte des Augenblicks. In dieſem Sinn könnte 
man wohl nicht wünſchen, für das Gegenwärtige zu leben, in 
dem Sinn hat man es wohl auch nicht gemeint, wenn man es 
als das Große anbefohlen hat. Aber wo ſollen wir die Grenze 
ſetzen, wie weit dürfen wir uns mit dem Künftigen beſchäftigen? 
Die Antwort iſt nicht ſchwer: erſt wenn wir es beſiegt haben, 
erſt dann können wir zu dem Gegenwärtigen zurückkehren, erſt 
dann bekommt unſer Leben darin Bedeutung. Doch dieſes iſt 
ja eine Unmöglichkeit; das Künftige iſt ja alles, das Gegen⸗ 
wärtige ein Teil nur, wie können wir das Ganze beſiegt haben, 
ehe wir noch zum erſten Teil davon gekommen ſind; wie können 
wir von dieſem Sieg zu dem zurückkehren, was vorausging? 
Iſt dieſes nicht ſo, iſt das eine unzeitige Schwierigkeit, die der 
Gedanke ſich macht? Keineswegs. Es verhält ſich gerade ſo, wie 
hier geſagt wurde, denn nicht jede Beſchäftigung mit dem Künf⸗ 
tigen dürfen wir anpreiſen. Der, welcher es ganz aufgibt, deſſen 
Leben wird nur in einem unwürdigen Sinn ſtark im Gegen⸗ 
wärtigen; der, welcher es nicht beſiegt, er hat einen Feind mehr, 
der ihn ſchwach machen will im Kampf mit dem Gegenwärtigen. 
Erſt alſo der, der es beſiegt, erſt ſein gegenwärtiges Leben wird 
ſtark und geſund. 

Mit dem Künftigen ſich beſchäftigen können, iſt ein Zeichen 
des Adels des Menſchen; der Streit mit ihm iſt der am meiſten 
veredelnde. Der, welcher mit dem Gegenwärtigen ſtreitet, er 
ſtreitet mit einem einzelnen Ding, gegen das er ſeine ganze 


43 a 4 9 


Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


Macht gebrauchen kann. Wenn deshalb ein Menſch mit nichts 
anderem zu kämpfen hätte, ſo wäre es möglich, daß er ſiegreich 
durch das ganze Leben hindurchgehen könnte, ohne doch ſich ſelbſt 
oder ſeine Kraft kennen zu lernen. Der, welcher mit dem Künf⸗ 
tigen kämpft, hat einen gefährlicheren Feind, er kann nicht in 
Unwiſſenheit um ſich ſelbſt bleiben; denn er kämpft mit ſich 
ſelbſt. Das Künftige iſt nicht, es nimmt ſeine Kraft von ihm 
ſelbſt, und wenn es ihm dieſe abgeliſtet hat, ſo zeigt es ſich 
außer ihm als ſein Feind, dem er begegnen ſoll. Ein Menſch 
ſei nun ſo ſtark, wie er ſein mag, kein Menſch iſt ſtärker, als 
er ſelbſt. Deshalb ſehen wir oft im Leben die, welche in allen 
Kämpfen ſiegten, wenn es aber ein künftiger Feind war, mit 
dem ſie es zu tun hatten, dann ohnmächtig werden; ihr Arm 
ward gelähmt. Während ſie vielleicht gewohnt waren, alle Welt 
zum Streite zu fordern, hatten ſie nun einen Feind gefunden, 
eine Nebelgeſtalt, die imſtande war, ſie zu erſchrecken. Deshalb 
gingen vielleicht oft die Männer, die Gott dazu berief, im Streit 
verſucht zu werden, in den Kampf, der den Menſchen furchtbar 
vorkam, kommend aus einem ſchlimmeren Kampf; ſie lächelten 
vielleicht zuweilen in der Hitze des Streits, wenn ſie an den 
unſichtbaren Kampf dachten, der vorhergegangen war. Sie 
wurden bewundert in der Welt, weil man glaubte, daß ſie 
im gefährlichſten Kampf geſiegt hätten, und doch war dieſer 
ihnen nur wie ein Spaß im Vergleich mit dem, der voraus⸗ 
ging, den kein Menſch ſah. Natürlich war es ja, daß der, 
welcher ſtärker iſt als die andern, im Kampf mit dieſen ſiegt; 


50 


Über den Glauben 


aber das iſt auch natürlich, daß kein Menſch ſtärker ift, als er 
ſelbſt. Wenn alſo ein Menſch mit dem Künftigen ſtreitet, ſo 
lernt er, daß, wie ſtark er auch im übrigen iſt, es einen Feind 
gibt, der ſtärker iſt, das iſt er ſelbſt; einen Feind, den er nicht 
durch ſich ſelbſt beſiegen kann: das iſt er ſelbſt. 

Indeſſen: warum dieſen Streit mit dem Künftigen als ſo 
gefährlich ſchildern? „Ob älter oder jünger, haben wir ja doch 
alle etwas erlebt, das Künftige iſt nicht ganz neu; denn es gibt 
nichts Neues unter der Sonne; das Künftige iſt das Ver⸗ 
gangene. Ob älter oder jünger, haben wir ja doch alle Er- 
fahrung, die wollen wir uns anlegen, wir wollen der Spur 
der Vermutungen und der Führung der Mutmaßungen folgen, 
mit der Macht der Schlußfolgerung wollen wir es beſiegen, 
und ſo bewaffnet gehen wir freudig dem Künftigen entgegen. 
Und das iſt gut, daß ein Menſch bewaffnet iſt, wenn er in 
den Kampf geht, noch beſſer, daß er gerade ſo bewaffnet iſt, 
wie der Kampf es fordert. Wenn ein Mann, der in der Renn⸗ 
bahn ſtreiten ſoll, eine ſchwere Rüſtung anlegen wollte, ſo 
wäre er wohl bewaffnet, aber feine Rüſtung würde ihm kaum 
von Nutzen ſein. Iſt nicht dasſelbe der Fall mit jenen Waffen 
für den, der mit dem Künftigen ſtreiten ſoll, denn die Erfahrung 
iſt ein doppelzüngiger Freund, der bald das eine, bald das andere 
ſagt; und die Mutmaßung iſt ein betrügeriſcher Führer, der 
einen losläßt, wann man ihn am meiſten braucht; und die Ver⸗ 
mutung iſt ein umnebelter Blick, der nicht gar weit ſieht; und 
die Schlußfolgerung iſt eine Schlinge, in der man eher ſich 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſelbſt fängt als etwas anderes. Außerdem ſind jene Waffen 
ſchwer zu gebrauchen; denn mit der Mutmaßung geht die 
Furcht, mit der Vermutung die Angſt, mit dem Schluß die 
Unruhe, da die er fahrende Seele ja nicht unberührt verblieb 
unter der Erfahrung. So waren wir gut bewaffnet, indem wir 
uns die Erfahrung anlegten, aber nicht zu dem Streit, dem 
wir entgegengehen ſollen, ein Streit mit dem Künftigen; wir 
ſuchten, dieſes in etwas Gegenwärtiges zu verwandeln, etwas 
Einzelnes; aber das Künftige iſt nicht ein Einzelnes, ſondern 
das Ganze.“ | 

Wie follen wir dem Künftigen entgegengehen? Wenn der 
Seefahrer draußen auf dem Meere liegt, wenn alles um ihn 
wechſelt, wenn die Wogen geboren werden und ſterben, ſo ſtiert 
er nicht in dieſe hinein; denn ſie wechſeln. Er ſieht hinauf zu 
den Sternen! und warum? weil ſie treu ſind; wie ſie nun ſtehen, 
ſo ſtanden ſie für die Väter und ſollen ſtehen für die kommenden 
Geſchlechter. Wodurch beſiegt man das Wechſelnde? Durch das 
Ewige. Mit dem Ewigen kann man das Künftige beſiegen, 
weil das Ewige dem Künftigen zugrunde liegt, deshalb kann 
man mit jenem dieſes ausſchöpfen. Was iſt aber die ewige 
Macht im Menſchen? Es iſt der Glaube. Was iſt die Er⸗ 
wartung des Glaubens? Sieg, oder wie die Schrift ſo ernſt 
und ſo bewegt uns lehrt, daß alle Dinge denen zum Guten 
dienen müſſen, die Gott lieben. Aber eine Erwartung des Künf⸗ 
tigen, die den Sieg erwartet, ſie hat das Künftige beſiegt; der 
Glaubende iſt deshalb fertig mit dem Künftigen, ehe er am 


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Über den Glauben 


Gegenwärtigen beginnt; denn was man beſiegt hat, das kann 
nicht mehr ſtören, und dieſer Sieg kann einen nur kraftvoller 
zum gegenwärtigen Tun machen. 

Die Erwartung des Glaubens iſt Sieg! Der frohe Sinn, 
der noch nicht die Widerwärtigkeiten des Lebens ſchmeckte, der 
nicht erzogen ward in der Schule der Sorgen, nicht gebildet 
durch die zweideutige Weisheit der Erfahrung, gibt dieſer Er⸗ 
wartung von ganzem Herzen Beifall; denn er erwartet Sieg 
in allem, in allen Kämpfen und Anfechtungen, oder beſſer: 
er erwartet zu ſiegen ohne Kampf. Wir wünſchen nicht die 
ſtrenge Figur zu ſpielen, die den Jüngling auf ſeinem Weg 
aufhält, wir wollen lieber auf einen Troſt für ihn bedacht ſein, 
dann, wenn er gelernt hat, daß dieſe Erwartung, wie ſchön ſie 
auch war, doch nicht die Erwartung des Glaubens war; lieber 
der ſein, der ihn zum Streite rufen ſoll, wenn er ſich ohn⸗ 
mächtig fühlt; lieber der, der ihm den Sieg winken laſſen ſoll, 
wenn er alles verloren glaubt. Der Bekümmerte aber, der 
kaum die Träne über den gegenwärtigen Verluſt abgetrocknet 
hat, er bildet das Künftige anders, und das Künftige iſt ja 
leicht und flüchtig, bildſamer als Lehm, ſo daß jeder es bildet, 
je nachdem er ſelbſt gebildet iſt. Der Bekümmerte erwartet 
nicht Sieg, er hat nur allzu ſchwer ſeinen Verluſt gefühlt; 
und gehört dies auch einer vergangenen Zeit, er nimmt es doch 
mit ſich, er erwartet, daß die künftige Zeit zum mindeſten ihm 
Frieden zu der ſtillen Beſchäftigung mit ſeinem Schmerz ver⸗ 
gönnen werde. — Der erfahrene Mann mißbilligt beider Be⸗ 


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Sören Kierkegaard Religisſe Reden 


nehmen. Wenn man im Beſitz von faſt all dem Guten iſt, das 
man wünſchen konnte, ſo darf man auch darauf vorbereitet ſein, 
daß die Bekümmerungen des Lebens das Haus der Glücklichen 
auch beſuchen werden; wenn man alles verloren hat, ſo darf 
man bedenken, daß die Zeit manch köſtliches Heilmittel für die 
kranke Seele birgt, daß das Künftige, wie eine liebende Mutter, 
auch gute Gaben birgt: im Glück ſoll man in einem gewiſſen 
Grad auf Unglück vorbereitet ſein, im Unglück in einem ge⸗ 
wiſſen Grad auf Glück. Seine Rede iſt auch nicht vergeblich: 
denn der Frohe, der nicht leichtſinnig iſt, und der Bekümmerte, 
der nicht verzweifelt iſt, ſie werden beide gern auf ſeine Worte 
achten; beide gern ihr Leben nach ſeinem Ratſchlag einrichten. 
Der Glückliche überſchlägt alſo die Güter, in deren Beſitz er iſt. 
Einige meint er ohne Schmerz verlieren zu können, andere ſo, 
daß es ihm doch leicht werden wird, den Schmerz zu verwinden. 
Nur ein einziges Gut kann er nicht verlieren, ohne ſeine Freude 
zu verlieren, er kann es nicht verlieren bis zu einem gewiſſen 
Grad, ohne es ganz und damit ſeine Freude zu verlieren. Er 
wird alſo vorbereitet ſein, ſeine Güter zu verlieren, und ſo iſt 
er ja, nach dem Rat des erfahrenen Mannes, auf einen ge⸗ 
wiſſen Grad von Unglück vorbereitet. Doch der erfahrene Mann 
ſagte: bis zu einem gewiſſen Grad. Dieſe Worte könnten aber 
auch für jenes eine Gut gelten, das er nicht verlieren konnte, 
ohne ſein Glück zu verlieren, nicht bis zu einem gewiſſen Grad 
verlieren, ohne es ganz zu verlieren. Der erfahrene Mann will 
ſeine Worte nicht erklären, er wiederholt ſie unverändert, uner⸗ 


54 


Über den Glauben 


ſchütterlich; er überläßt die Erklärung und die Anwendung 
denen, die ſie führen ſollen. So wird der Glückliche, nicht 
minder der Bekümmerte ratlos. Dieſes Wort: bis zu einem 
gewiſſen Grad, das die Löſung ſein ſollte, wird die bindende 
Macht, die ſie umſtrickt, und das Wort lautet fort, hat keine 
Teilnahme, bekümmert ſich nicht um ihre Anſtrengung, es zu 
verſtehen, achtet nicht auf ihre Bitten um eine Erklärung. Die 
Erfahrung, die ſie führen ſollte, gebar den Zweifel; die Rede 
des erfahrenen Mannes war eine zweifelhafte Rede. 
Dieer Glaubende dagegen ſagt: ich erwarte Sieg. Dieſe Rede 
iſt auch nicht vergeblich; denn der Glückliche, der nicht leicht⸗ 
ſinnig war, der Bekümmerte, der nicht verzweifelt war, ſie 
wollten beide gerne auf ſeine Rede achten. Die Freude kehrt 
wieder zurück in den frohen Sinn. Sieg iſt ſeine Erwartung, 
Sieg in allen Streiten, in allen Anfechtungen, denn daß von 
Kampf die Rede ſein könnte, das lehrte die Erfahrung. Doch 
mit des Glaubens Hilfe wartet der Sieg in ihnen allen; nur 
einen Augenblick hält ſie ſich ſelbſt auf: „Das iſt zu viel,“ ſagt 
ſie, „das iſt unmöglich, ſo herrlich kann das Leben nicht ſein; 
wo gab es eine Jugend, die ſo reich war in ihrem höchſten Glück, 
das iſt mehr als der Jugend froheſte Hoffnung.“ — Gewiß 
iſt das mehr als der Jugend froheſte Hoffnung, und doch iſt es 
ſo, wenn auch nicht ganz, wie du es meinſt. Du redeſt von vielen 
Siegen, aber der Glaube erwartet nur einen, oder beſſer: er 
erwartet Sieg. Wenn da ein Menſch wäre, der gehört hätte, 
daß es eine Lehre gäbe, die jedem das Nötige zu ſchenken ver⸗ 


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Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


möchte, und er dann ſagen würde: das iſt unmöglich — all 
das für einen Menſchen Nötige, wie jetzt für mich all das Viele, 
das mir not tut, ſo würde der, welcher ihn an die Heiligen 
Schriften verwies, mit Recht von ihnen zeugen dürfen, daß 
er darin das Mötige finden würde, und doch würde der Suchende 
finden, daß es ſich nicht ganz ſo verhielte, wie er vermeint hatte. 
Die Schrift ſagt: „Eines tut not.“ So auch mit dem Glauben, 
wenn du von vielen Siegen redeſt, ſo biſt du wie der, welcher 
davon redet, daß Vieles not tut. Nur Eines tut not, und der 
Glaube erwartet Sieg. 

Aber Sieg erwartet er, und deshalb iſt er froh und 
freudig, und wie ſollte er es nicht ſein, da er Sieg erwartet! 
Doch ich höre eine Stimme, die auch du kennſt. Sie ſagt: 
„Darauf iſt gut zuhören, das ſind große Worte und klingende 
Redensarten, aber der Ernſt des Lebens lehrt in Wahrheit 
etwas anderes.“ Was lehrte der Ernſt des Lebens dich, der ſo 
redet? Wohl, er lehrte dich, daß deine Wünſche nicht erfüllt 
wurden, daß deine Begierden nicht geſättigt wurden, daß deinem 
Gelüſte nicht gehorcht wurde, deine Sehnſucht nicht geſtillt 
wurde. Dieſes lehrte er dich, all das, wovon wir gar nicht reden; 
und zugleich lehrte er dich, mit falſchem Mund den Menſchen 
zu Hilfe zu kommen, den Glauben und die Zuverſicht aus ihren 
Herzen zu ſaugen, und dieſes zu tun im heiligen Namen des 
Ernſtes. Warum lehrte er dich das? Könnte er dich nicht etwas 
anderes gelehrt haben? Wenn zwei Menſchen verſchiedene Dinge 
vom Leben lernen, ſo kann es daher kommen, daß ſie Ver⸗ 


56 


über den Glauben 


ſchiedenes erleben, aber es kann auch daher kommen, daß fie 
ſelbſt verſchieden waren. Wenn zwei Kinder zuſammen auf⸗ 
erzogen und immer am Gleichen teilnehmen würden, ſo daß, 
wenn das eine ausgezeichnet wurde, auch das andere es wurde, 
wenn das eine zurechtgeſetzt wurde, das andere es auch wurde, 
wenn das eine geſtraft wurde, das andere es auch wurde, ſo 
könnten ſie doch ganz verſchiedene Dinge lernen; denn das eine 
könnte lernen, jedesmal, da es ausgezeichnet wurde, nicht ſtolz 
zu werden; jedesmal, da es zurechtgeſetzt wurde, unter die Ver⸗ 
mahnung ſich zu demütigen; jedesmal, da es geſtraft wurde, 
durch Leiden ſich heilen zu laſſen; das andere konnte lernen, 
jedesmal, da es ausgezeichnet wurde, ſich zu überheben; jedes⸗ 
mal, da es zurechtgeſetzt wurde, ſich zu erbittern; jedesmal, da 
es geſtraft wurde, heimlichen Zorn zu ſammeln. So auch mit 
dir. Wenn du die Menſchen geliebt hätteſt, ſo hätte der Ernſt 
des Lebens dich vielleicht gelehrt, nicht laut zu ſein, ſondern zu 
verſtummen, und wenn du in Meeresnot lagſt und kein Land 
ſahſt, dann zum mindeſten nicht andere darein einzuweihen; er 
könnte dich vielleicht gelehrt haben, zu lächeln, ſolange wenig⸗ 
ſtens, als du glaubteſt, daß einer in deiner Miene eine Er⸗ 
klärung ſuchte, ein Zeugnis. Das Leben hätte dann vielleicht 
dir die wehmütige Freude verſchafft, zu ſehen, wie andern 
glückte, was dir nicht glücken wollte; den Troſt, daß du das 
Deine dazu getan hatteſt, indem du den Angſtſchrei in deinem 
Innern erſtickteſt, der ſie ſtören würde. Warum lernteſt du 
dieſes nicht? Da du dieſes nicht lernteſt, ſo können wir auf 


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Sören Kierkegaard Neligidfe Reden 


deine Rede nicht achten. Wir richten dich nicht, weil du zweifelſt; 
denn der Zweifel iſt eine hinterliſtige Leidenſchaft, und es kann 
wohl ſchwierig ſein, aus ſeinen Schlingen ſich zu reißen. Was 
wir von dem Zweifelnden fordern, iſt, daß er ſchweigen ſoll. 
Er vernahm wohl, daß der Zweifel ihn nicht glücklich machte, 
warum andern anvertrauen, was ſie ebenſo unglücklich machen 
wird. Und was gewinnt er durch dieſe Mitteilung? Er verliert 
ſich ſelbſt, anſtatt daß er vielleicht durch ſein Schweigen Ruhe 
gefunden hätte, indem er ſtill ſeinen einſamen Schmerz zu 
tragen dem vorzog, laut zu werden, ſich wichtig zu machen in 
den Augen der Menſchen, indem er ſich mitbewarb um die Ehre 
und Auszeichnung, nach der ſo viele trachten: zu zweifeln oder 
doch gezweifelt zu haben. Der Zweifel iſt eine tiefe und hinter⸗ 
liſtige Leidenſchaft, aber der, deſſen Seele er nicht ſo innerlich 
ergriff, daß er ſtumm wurde, der lügt ſich dieſe Leidenſchaft 
bloß zu; was er ſagt, iſt deshalb nicht bloß Unwahrheit an 
und für ſich, ſondern vor allem in ſeinem Mund. Siehe, darum 
achten wir ihn nicht. 

Des Glaubens Erwartung iſt Sieg. Der Zweifel, der von 
außen kommt, ſtört ihn nicht; denn der beſchämt ſich ſelbſt durch 
ſein Reden. Doch der Zweifel iſt verſchlagen, auf ſeinen ver⸗ 
borgenen Wegen ſchleicht er ſich um einen Menſchen, und wenn 
der Glaube Sieg erwartet, ſo flüſtert er, daß dieſe Erwartung 
eine Täuſchung ſei. „Eine Erwartung, der man nicht Zeit und 
Ort beſtimmt, iſt nur eine Täuſchung; ſo kann man immer fort⸗ 
fahren zu warten; eine ſolche Erwartung iſt ein Kreis, in den 


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Über den Glauben 


die Seele verhext iſt, aus dem fie nicht entſchlüpfen kann.“ Ge⸗ 
wiß iſt die Seele in der Erwartung des Glaubens verhindert, 
gleichſam aus ſich ſelbſt in das Mannigfaltige zu fallen; ſie 
bleibt in ſich ſelbſt; aber das wäre das größte Übel, das einem 
Menſchen widerfahren könnte, wenn er aus dieſem Kreislauf 
herausfiele. Daraus folgt doch keineswegs, daß die Erwartung 
des Glaubens eine Täuſchung ſei. Ja der, welcher etwas Ein⸗ 
zelnes erwartet, deſſen Erwartung kann getäuſcht werden, aber 
ſo geht es nicht dem Glaubenden. Wenn die Welt ihre ſcharfe 
Prüfung beginnt, wenn die Stürme des Lebens der Jugend 
üppige Erwartungen knicken, wenn das Daſein, das ſo lieb und 
mild ſchien, in einen unbarmherzigen Eigentümer ſich ver⸗ 
wandelt, der alles zurückverlangt, alles, was er ſo gab, daß er 
es nehmen kann, ſo ſieht der Glaubende wohl mit Wehmut und 
Schmerz auf ſich und das Leben, aber er ſagt doch: „Da iſt eine 
Erwartung, die die ganze Welt nicht von mir nehmen kann, 
das iſt die Erwartung des Glaubens, und ſie iſt Sieg. Ich bin 
nicht getäuſcht, denn was die Welt mir zu verſprechen ſchien, 
das habe ich doch nicht geglaubt, daß ſie es halten werde; meine 
Erwartung war nicht zur Welt, ſondern zu Gott. Dieſe Er⸗ 
wartung iſt nicht getäuſcht; ſelbſt in dieſem Augenblick fühle 
ich ihren Sieg herrlicher und froher als allen Schmerz des 
Verluſtes. Verlöre ich dieſe Erwartung, ſo wäre alles verloren. 
Noch habe ich geſiegt, geſiegt durch meine Erwartung, und meine 
Erwartung iſt Sieg.“ Ging es nicht ſo zu im Leben? Wenn 
da ein Menſch wäre, zu dem du dich ſo ſtark hingezogen fühlteſt, 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


daß du ſagen durfteſt: „Ich glaube ihm;“ gut, wenn dann alles 
nach Wunſch ging, oder wenn nicht ganz nach Wunſch, doch ſo, 
daß du es leicht in Übereinftimmung mit deinen Vorſtellungen 
bringen konnteſt, ſo glaubteſt du ihm ſo, wie auch andere ihm 
glaubten; aber wenn das Unerklärliche geſchah, das Unbegreif⸗ 
liche, da fielen die andern ab; oder beſſer (laß uns die Sprache 
nicht verwirren), da zeigen ſie, daß ſie ihm niemals geglaubt 
hatten. Nicht ſo du. Du fühlteſt, daß es nicht dieſer Umſtand 
war, auf den du deinen Glauben gegründet hatteſt, daß du er⸗ 
klären konnteſt, was da geſchah; denn ſo wäre er ja gegründet 
auf deine Einſicht, und weit entfernt, Hingebung zu ſein, eher 
Selbſtvertrauen. Es ſchien dir, daß es eine Schmach für dich 
wäre, wenn du ihn losließeſt; denn wie du vermeint hatteſt, 
daß dieſe Worte in deinem Mund: „Ich glaube ihm“, etwas 
anderes zu bedeuten haben, als wenn die andern ſie ſagten, ſo 
fühlteſt du, daß die Veränderung unmöglich dich dazu bringen 
könnte, dasſelbe zu tun wie die andern, es ſei denn, daß dein 
Glaube urſprünglich nicht mehr zu bedeuten hatte. Du hörteſt 
alſo nicht auf zu glauben. Doch tateſt du vielleicht unrecht darin; 
nicht im Glauben; nicht, ſo zu glauben, ſondern: einem Men⸗ 
ſchen ſo zu glauben. Vielleicht war das Unerklärliche leicht er⸗ 
klärt; vielleicht gab es eine traurige Gewißheit, die ſo ſtark 
zeugte, daß dein Glaube nur eine ſchöne Einbildung war, die 
du beſſer aufgeben ſollteſt. Wir wiſſen es nicht. Doch dieſes 
wiſſen wir, daß, wenn du über dieſem Glauben vergäßeſt, daß 
es einen höheren Glauben gibt, er trotz ſeiner Schönheit doch 


60 


Über den Glauben 


nur zu deinem Verderben wäre. Wenn du dagegen Gott 
glaubteſt, wie ſollte dein Glaube je in eine ſchöne Einbildung 
verwandelt werden? Sollte Er verändert werden können, bei 
welchem keine Veränderung iſt, noch Wechſel von Licht und 
Finſternis? Sollte Er nicht treu ſein, durch den jeder Menſch, 
der es iſt, treu iſt; Er nicht ohne Trug, durch den du ſelbſt 
den Glauben hatteſt? ſollte da je eine Erklärung kommen, die 
anderes erklären könnte, als daß Er ehrlich iſt und Sein Ver⸗ 
ſprechen hält? Und doch ſehen wir, daß die Menſchen dieſes 
vergeſſen. 

Wenn alles ihnen glückt, wenn ſie gute Tage ſehen, wenn ſie 
auf wunderliche Weiſe im Einverſtändnis mit allem um ſie 
herum ſich fühlen, da glauben fie, und in ihrer Freude vergeſſen 
ſie wohl nicht, allzeit Gott zu danken; denn jeder Menſch will 
gerne für das Gute dankbar ſein, das er empfängt, aber jedes 
Menſchen Herz iſt auch ſchwach genug, ſo gerne ſelbſt beſtimmen 
zu wollen, was das Gute iſt. Wenn alles ſich verändert, wenn 
das Leid die Freude ablöſt, fallen ſie ab, verlieren ſie den Glau⸗ 
ben, oder beſſer, denn laßt uns nicht die Sprache verwirren, dann 
zeigen ſie, daß ſie ihn niemals gehabt haben. So tateſt du nicht. 
Wenn du dich ſelbſt dabei ertappteſt, daß du dich verändert hatteſt 
dadurch, daß alles um dich verändert wurde, ſo ſagteſt du: „Ich 
geſtehe, nun ſehe ich ein, daß, was ich meinen Glauben nannte, 
nur eine Einbildung war. Was das Höchſte iſt, das ein Menſch 
im Verhältnis zu einem andern tun kann: ihm glauben, was 
noch höher und ſchöner ift, ſeliger, als daß die Sprache es be- 


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LIBRARY ST. MARY'S COLLEGE 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſchreiben kann: Gott glauben, das habe ich vermeſſen mir ſelbſt 
eingebildet zu tun: zu all meiner übrigen Freude habe ich auch 
dieſe gefügt; und doch war mein Glaube, wie ich nun ſehe, nur 
eine flüchtige Rührung, ein Widerſchein meines irdiſchen 
Glückes; aber ich will mich nicht erbauen mit vermeſſener und 
ſinnloſer Rede, nicht ſagen, daß ich den Glauben verloren habe, 
nicht die Schuld auf Welt und Menſchen laden, oder ſogar 
Gott anklagen.“ So ſuchteſt du dich ſelbſt aufzuhalten, wenn 
du im Leid irre gehen wollteſt; du verhärteteſt nicht deinen 
Sinn, du warſt nicht töricht genug, dir einbilden zu wollen, 
daß, wenn das Einzelne nicht geſchehen wäre, du den Glauben 
bewahrt hätteſt, oder erbärmlich genug, Gemeinſchaft mit 
ſolcher Weisheit ſuchen zu wollen. Siehe, deshalb gewannſt du, 
wenn auch langſam, wieder den Weg zu der Erwartung des 
Glaubens. Wenn dann alles dir mißglückte, wenn, was du 
langſam aufbauteſt, in einem Augenblick hingeweht ward, und 
du wieder mit Mühe von vorne anfangen mußteſt; wenn dein 
Arm matt war, dein Gang ſchwankend, ſo hieltſt du feſt an 
der Erwartung des Glaubens, welche Sieg iſt. Verkündeteſt du 
dieſes auch nicht für andere, daß ſie deſſen nicht ſpotten ſollten, 
weil du in all deinem Elend noch Sieg erwarteteſt: in deinem 
innerſten Herzen verbargſt du doch deine Erwartung. „Die 
frohen Tage können wohl meinen Glauben verſchönen,“ ſagteſt 
du, „ich ſchmücke ihn mit dem Kranze der Freude, aber ihn 
beweiſen können ſie nicht; die ſchweren Zeiten können die Tränen 
in mein Auge bringen und das Leid in meinen Sinn, aber des 


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Über den Glauben 


Glaubens mich berauben können ſie nicht.“ Und wenn auch das 
Unglück nicht aufhörte, ſo ward deine Seele doch mild. „Das 
iſt doch ſchön,“ ſagteſt du, „daß Gott ſo in den ſichtbaren 
Dingen ſich für mich nicht zeigen will; wir trennen uns, um 
uns doch wieder zu begegnen; ich könnte nicht wünſchen, immer 
ein Kind zu bleiben, das jeden Tag Beweiſe verlangt, Zeichen 
und Wunder. Führe ich fort, ein Kind zu ſein, ſo könnte ich doch 
nicht mit aller Macht und von meiner ganzen Seele lieben. 
Nun ſind wir getrennt, wir ſehen uns nicht täglich, nur heim⸗ 
lich begegnen wir uns im ſiegreichen Augenblick der gläubigen 
Erwartung.“ 

Die Erwartung des Glaubens iſt Sieg, und dieſe Er- 
wartung kann nicht getäuſcht werden außer dadurch, daß man 
ſelbſt ſich täuſcht, indem man der Erwartung ſich beraubt, ſo 
wie der, der töricht meinte, daß er den Glauben verloren habe, 
oder töricht meinte, daß etwas Einzelnes ihn von ihm genommen 
habe, oder ſuchte, ſich ſelbſt in der Vorſtellung zu betören, daß 
es etwas Einzelnes gäbe, das die Macht hätte, einen Menſchen 
des Glaubens zu berauben — Zufriedenheit fand in dem eiteln 
Gedanken, daß gerade dieſes ihm zugeſtoßen ſei, Freude darin, 
andere durch die Verſicherung zu ängſtigen, daß es ſo etwas 
gebe, das ſeinen Spott mit dem Edelſten im Menſchen triebe, 
und das den berechtigte, der darin verſucht ward, ſeinen Spott 
mit anderen zu treiben. 

Indes ſagt vielleicht der eine oder andere: „Dieſe Rede 
hat wohl Zuſammenhang und iſt in Übereinſtimmung mit ſich 


63 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſelbſt; aber man kommt mit ihr nicht weiter und inſoweit iſt 
ſie doch eine törichte und nichtsſagende Rede.“ — Man kommt 
nicht weiter. Sollte ein Menſch wünſchen können, weiter zu 
kommen, als zu ſiegen, ſo müßte er ja den Sieg verlieren? 
Sollte das ſo töricht und nichtsſagend ſein, daß ein Menſch 
recht ſich ſelbſt bewußt wurde, ob er den Glauben habe oder 
nicht? Aber wenn ich ſage: „Ich glaube,“ ſo kann es nur allzu⸗ 
oft dunkel für mich ſein, was ich damit meine. Vielleicht irre ich, 
vielleicht bilde ich mir nur eine Vorſtellung vom Künftigen, 
vielleicht wünſche, hoffe ich, vielleicht ſehne ich mich nach etwas, 
verlange, begehre, vielleicht bin ich des Künftigen gewiß, und 
indem ich dieſes tue, kann es mir vorkommen, daß ich glaube, 
unerachtet ich es doch nicht tue. Wenn ich dagegen mir ſelbſt 
die Frage vorlege: erwarteſt du Sieg, ſo wird jede Unklarheit 
ſchwieriger; ſo ſehe ich ein, daß nicht bloß der nicht glaubt, 
der gar nichts erwartet, ſondern auch der, der etwas Einzelnes 
erwartet, oder ſeine Erwartung auf etwas Einzelnes gründet. 
Und ſollte dieſes nicht von Wichtigkeit ſein, da ja erſt der, der 
mit dem Künftigen fertig geworden iſt, ganz und ungeteilt im 
Gegenwärtigen ſein kann; aber fertig mit dem Künftigen wird 
man nur dadurch, daß man es beſiegt, aber dieſes tut nur der 
Glaube, denn ſeine Erwartung iſt Sieg. Jedesmal, wenn ich 
meine Seele ertappe, daß ſie den Sieg nicht erwartet, ſo weiß 
ich, daß ich nicht glaube; wenn ich das weiß, dann weiß ich auch, 
was ich zu tun habe; denn iſt es auch keineswegs eine leichte 
Sache, zu glauben, die erſte Bedingung, daß ich dazu kommen 


64 


Über den Glauben 


kann, iſt doch die, daß ich mir bewußt werde, ob ich es tue 
oder nicht. | 

Deshalb gehen wir fo oft irre, weil wir eine Über⸗ 
zeugung für unſere Erwartung ſuchen, anſtatt des Glaubens 
Überzeugung davon, daß wir glauben. Der Glaubende fordert 
keinen Beweis für ſeine Erwartung; „denn,“ ſagt er, „wenn 
ich etwas dafür halten müßte, ſo würde es, indem es meine Er⸗ 
wartung bewieſe, zugleich ſie widerlegen. Nicht iſt meine Seele 
fühllos für die Freude des Einzelnen oder den Schmerz, aber 
Gott ſei gelobt, ſo iſt es nicht, daß das Einzelne die Erwartung 
des Glaubens beweiſen oder widerlegen kann. Gott ſei gelobt! 
Die Zeit kann ſie weder beweiſen noch widerlegen; denn der 
Glaube erwartet eine Ewigkeit. Und heute am erſten Tage des 
Jahres, da der Gedanke an das Künftige mir ſich aufnötigt, 
will ich meine Seele nicht ermatten mit allerhand Erwartung, 
nicht ſie zerſtreuen in mannigfaltigen Vorſtellungen; ich will 
ſie in ſich ſelbſt ſammeln und geſund und froh, wenn möglich, 
dem Künftigen entgegengehen. Das bringe, was es bringen 
mag und ſoll, manche Erwartung werde getäuſcht, manche er⸗ 
füllt, ſo wird das wohl kommen, was die Erfahrung mich ge⸗ 
lehrt hat, aber es gibt eine Erwartung, die nicht getäuſcht wer⸗ 
den ſoll, das hat nicht die zeitliche Erfahrung mich gelehrt, aber 
auch nie die Macht gehabt, es zu leugnen, das iſt die Erwartung 
des Glaubens, und dieſe iſt Sieg.“ | | 

Es enden mehrere der heiligen Gebete, die in den Kirchen 
vorgeleſen werden: „und fo endlich felig werden.“ Der Ältere 


5 65 


Sören Kierkegaard NReligidfe Reden 


unter uns, der faſt am Ziele ſteht, er ſchaut in Gedanken hin 
über den zurückgelegten Weg, er erinnert den Gang der Be⸗ 
gebenheiten, die bleichen Geſtalten werden wieder lebendig, er 
wird überwältigt von des Erlebten mannigfachem Inhalt, er 
iſt müde und ſagt: und ſo endlich ſelig werden. Der Jüngere, 
der noch am Anfang des Weges ſteht, er ſchaut in Gedanken 
über die lange Bahn, in Gedanken erlebt er, was kommen 
ſoll! die ſchmerzliche Entbehrung, die ſtillen Bekümmerungen, 
die wehmütige Sehnſucht, die bangen Anfechtungen, er iſt müde 
in Gedanken und ſagt: und ſo endlich ſelig werden. Das wäre 
eine große Gabe, wenn ein Menſch recht dieſes Wort ge⸗ 
brauchen könnte; doch dieſes lernt kein Menſch vom andern, 
ſondern jeder im beſondern nur von und durch Gott. Deshalb 
wollen wir Dir anbefehlen, Vater im Himmel! unſern Sinn 
und unſern Gedanken, daß unſere Seele nie ſo ſich feſſeln laſſe 
von des Lebens Freuden oder ſeinen Sorgen, daß ſie dieſes 
löſende Wort vergeſſe; aber daß es auch nicht zu oft Ungeduld 
und innere Unruhe ſei, die es auf unſere Lippen bringe, ſo daß, 
wenn dieſes Wort wie ein treuer Freund uns in des Lebens 
vielen Umſtänden begleitet hat, uns ſich angepaßt hat, ohne 
doch ſich ſelbſt untreu zu werden, unſer Troſt geweſen iſt, unſere 
Hoffnung, unſere Freude, unſer Jubel; uns hoch und be⸗ 
geiſternd, ſanft und leiſe geklungen hat; zu uns mahnend und 
fordernd, aufmunternd und einladend geredet hat — unſere 
Seele in ihrer letzten Stunde auf dieſem Wort gleichſam von 
dieſer Welt weg dorthin getragen werde, wo wir ſeine volle 


66 


Über den Glauben 


Bedeutung faſſen ſollen, ſo wie es derſelbe Gott iſt, der, nach⸗ 
dem Er uns mit Seiner Hand durch die Welt geführt hat, dieſe 
zurückzieht, Seinen Arm öffnet, um in ihm die ſehnſüchtige 
Seele zu empfangen. Amen! — 


67 


Die Bekräftigung im inneren Menfchen 


Gebet 

Vater im Himmel! Du hältſt alle guten Gaben in Deiner 
Hand. Dein Überfluß iſt reicher, als daß menſchlicher Verſtand 
ihn faſſe, Du biſt willig zu geben, und Deine Güte iſt größer, 
als daß eines Menſchen Herz ſie verſtehe; denn Du erfüllſt jede 
Bitte und gibſt, um was wir bitten, oder gibſt noch Beſſeres, 
als was wir bitten. So gib Du denn jedem ſeinen zugewieſenen 
Teil, wie es Dir wohlgefällt; aber gib Du auch jedem die Über- 
zeugung, daß alles von Dir kommt, damit nicht die Freude uns 
von Dir reiße in der Vergeſſenheit der Luſt, damit nicht das 
Leid die Scheidewand ſetze zwiſchen Dich und uns; ſondern daß 
wir in der Freude hinſuchen zu Dir und im Leide bei Dir 
bleiben, damit, wann unſere Tage gezählt ſind, und der äußere 
Menſch verdorben iſt, der Tod nicht kalt und furchtbar in ſeinem 
eigenen Namen komme, ſondern mild und freundlich mit Gruß 
und Botſchaft, mit Zeugnis von Dir, unſerem Vater, der Du 
im Himmel biſt! Amen! c 


Ep.: Epheſ. 3, 13 bis Schluß. 
In der Hauptſtadt der Welt, im ſtolzen Rom, wo aller 
Glanz der Welt und alle Herrlichkeit vereinigt waren; wo alles 


68 


Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


aufgetrieben ward, womit menſchliche Klugheit und Wildheit 

in der Angſt der Verzweiflung den Augenblick verſuchen, was | 
er ausfindig mache, um den ſinnlichen Menſchen in Erſtaunen 
zu ſetzen; wo jeder Tag Zeuge des Merkwürdigen war, des Ent⸗ 
ſetzlichen und der nächſte Tag es vergeſſen hatte beim Anblick 
des noch Merkwürdigeren, des noch Entſetzlicheren; im ruhm⸗ 
reichen Rom, wohin jeder, der in irgendeiner Weiſe der Menge 
Aufmerkſamkeit feſſeln zu können glaubte, als zu ſeinem rechten 
Schauplatz haſtete, alles im voraus zu ſeinem Empfang vor⸗ 
bereitete, um, wiewohl berauſcht in Selbſtvertrauen, ſchlau doch 
den knapp zugemeſſenen, den beneideten, den glücklichen Augen⸗ 
blick zu benützen — dort lebte der Apoſtel Paulus als Ge⸗ 
fangener, dort ſchrieb er den Brief, aus dem unſer Text ge⸗ 
nommen iſt. Als Gefangener ward er dorthin gebracht, von nie⸗ 
mand faſt gekannt, und doch brachte er mit ſich eine Lehre, von 
welcher er zeugte, daß ſie göttliche Wahrheit ſei, ihm mitgeteilt 
durch eine beſondere Offenbarung, und die unerſchütterliche 
Überzeugung, daß dieſe Lehre über die ganze Welt ſiegen ſollte. 
Wäre er ein Aufrührer geweſen, der das Volk erhitzte und den 
Tyrannen erbeben machte; wäre er gefangen nach Rom geführt 
worden, damit der Herrſcher ſeine Rache an ſeinem Leiden 
ſättigen könnte, ihn mit den ausgeſuchteſten Qualen martern 
laſſen könnte — ja! dann wäre doch Wahrſcheinlichkeit dafür, 
daß fein Schickſal eine kurze Zeit jeden erſchüttert hätte, in 
deſſen Bruſt menſchliches Gefühl noch nicht ausgeſtorben war; 
daß er einen Augenblick durch ſeinen Schrecken die wollüſtige 


69 


Sören Kierkegaard Religiösſe Reden 


und neugierige Menge erregt hätte — ja vielleicht wäre der 
Thron des Tyrannen geſtürzt worden! Doch ſo ward Paulus 
nicht behandelt. Er war zu unbedeutend, als daß Rom ihn 
fürchten mußte, ſeine Torheit zu unſchuldig, um die Macht gegen 
ihn zu wappnen. Wer war er auch? Ein Mann, der einem 
verachteten Volke angehörte; ein Mann, der nicht einmal dem 
mehr angehörte, ſondern von ihm als ein Argernis ausgeſtoßen 
war — ein Jude, der Chriſt geworden war, der einſamſte, der 
verlaſſenſte, der unſchädlichſte Mann im ganzen Rom. Wie ein 
ſolcher ward er auch behandelt. Sein Gefängnis war mild, nur 
war er Gefangener; und dem, der jene ſiegreiche Überzeugung 
mit ſich brachte, war nun als Wirkungsplatz die Einſamkeit des 
Gefängniſſes angewieſen, und der Kriegsmann, der täglich zu 
ſeiner Bewachung geſtellt wurde. — In der Hauptſtadt der 
Welt, im lärmenden Rom, wo nichts der zügelloſen Macht der 
Zeit widerſtehen konnte, die alles verſchlang, ſo hurtig wie es 
aufkam, die alles ſpurlos mit ihrer Vergeſſenheit auslöſchte — 
dort lebte der Apoſtel Paulus, ein unbedeutender Mann, im 
einſamen Gefängnis, ſtill und zurückgezogen, aber während alles 
außen um ihn in Nichtigkeit hinfährt, ſchneller als ein Schatten, 
ſtand die Überzeugung feſt für ihn, daß die Lehre, die er be⸗ 
kannte, über die ganze Welt ſiegen würde — über die ganze 
Welt, von der er nun abgeſondert war. Wenn ein Menſch, 
der ſchuldig leidet, ſeine Strafe mit Geduld trägt, ſo hat er 
kein Lob davon, aber wenn er unſchuldig mit Geduld leidet, ſo 
hat er Lob. Das iſt ſchön zu bedenken, lieblich zu hören, gut 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


zu bekennen; aber es iſt ſchwer, es zu tun. Doch der, in deſſen 
Herz die Furcht Gottes und Frömmigkeit iſt, wird mit Gottes 
Hilfe ſeine Seele in Demut beſcheiden, bis ſie wieder freudig 
in Gott wird und ſtill im Herrn; ſo wird er in Geduld ſich 
retten, wenn es auch ſchwer zu tragen war, daß ſeine Erwartung 
wie ein Traum hinſchwand, daß er, der die ganze Welt gewinnen 
wollte, ſelbſt damit endete, Gefangener zu ſein; daß er nicht 
einmal im Streit unterlag, ſondern wie eine Täuſchung auf⸗ 
gezehrt ward. Wenn da ſolche waren, die ihr Vertrauen auf 
ihn geſetzt und auf ihn gehofft hatten, ſo wird er ſich ihrer er⸗ 
innern, und ſeine Seele wird nicht unbekannt ſein mit der 
ſchmerzlichen Bekümmerung, ob auch ſie ihn verlaſſen wollen; 
von ſeinem Gefängnis wird er ihnen vielleicht ſchreiben: „Ver⸗ 
laßt mich nicht jetzt, da ich von allen verlaſſen bin, bewahret 
euer Vertrauen zu mir wie vordem, vergeſſet mich nicht jetzt, 
da ich von allen vergeſſen bin.“ Vielleicht würde er ihre Herzen 
bewegen, vielleicht würde ein Einzelner zu ihm kommen, und 
wenn dies erlaubt würde, den Gefangenen beſuchen, mit ihm 
trauern, ihn tröſten und mit ihm ſich erbauen. Es iſt ſchön, 
davon zu reden, der Gedanke allein ſchon bewegt jedes beſſeren 
Menſchen Herz. Doch Paulus war ein Apoſtel. Wenn auch be⸗ 
trübt, war er doch allzeit freudig; wenn auch arm, machte er all⸗ 
zeit viele reich; wenn er auch nichts hatte, beſaß er doch alles. 
Von ſeiner Gefangenſchaft ſchreibt er der fernen Gemeinde: 
„Darum bitte ich, daß Ihr nicht müde werdet um meiner Trüb⸗ 
ſale willen, die ich für Euch leide, welche Euch eine Ehre ſind.“ 


71 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Er, der ſelbſt Troſt zu brauchen ſcheinen könnte, er iſt hurtig, 
ſozuſagen in gutem Einverſtändnis mit dem Herrn, freudig in 
der Trübſal, mutig in der Gefahr, nicht beſchäftigt mit ſeinem 
eigenen Leiden, ſondern bekümmert um die Gemeinde; und nur 
inſoweit bedenkt er ſeine Trübſal, als ſie die Gemeinde veran⸗ 
laſſen könnte, zu verzagen. 

Wenn ein Menſch Friede und Ruhe in ſeinem Unglück ge⸗ 
funden hätte, würde vielleicht das Leid, daß andere über ſeiner 
Widerwärtigkeit die Freimütigkeit und den Glauben verlieren 
könnten, in ihm neue Unruhe wecken. Doch ſoll die Gottesfurcht 
in ihm ſiegen, und er ſoll vertrauensvoll die Geliebten in Gottes 
Hand befehlen. Es rührt das Herz, davon zu reden, jeder beſſere 
Menſch fühlt, daß dieſe ſtille Hingebung wohl des Strebens 
wert iſt. Doch Paulus war ein Apoſtel, er ſchreibt aus ſeiner 
Gefangenſchaft: „Dieſe meine Trübſale, die ich für Euch leide, 
ſind Eure Ehre.“ 

Der, welcher eine Lehre den Menſchen anzubefehlen hat und 
ſtrebt, ſie zu gewinnen, hat ja ein Zeugnis, auf das er getroſt 
den Einzelnen hinweiſt. Aber wenn dieſes Zeugnis trügt, ſieht 
er wohl ein, daß die Macht von ihm genommen iſt, und wiewohl 
es ſehr ſchwer iſt, verſöhnt er ſich doch mit Gott in ſeinem 
Herzen; und trauert wohl wie die, welche der Bräutigam ver⸗ 
ließ und die Freude, aber auch wie der, der nicht ins Ungewiſſe 
lief, der nicht vergaß, daß höher als die Rettung anderer die 
Rettung der eigenen Seele iſt, den unruhigen Sinn dem Ge⸗ 
horſam des Glaubens zu unterwerfen, die irrenden Gedanken 


72 


Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


mit der Macht der Überzeugung in den Banden der Liebe zu 
halten. Es iſt wohltuend, davon zu reden, und jeder redliche 
Menſch bekennt, daß es ſelig iſt, ſo ſein eigenes Haus zu be⸗ 
ſtellen, wenn man ausgedient hat beim großen Werk und über 
das Geringere geſetzt wird. — Aber Paulus! Lebte er in der 
Gunſt der Mächtigen, daß ſie ſeine Lehre anbefehlen könnte? 
Nein, er war gefangen. Huldigten die Weiſen ſeiner Lehre, 
daß ihr Anſehen für die Wahrheit bürgen könnte? Nein, ſie 
war ihnen eine Torheit. Vermochte ſeine Lehre hurtig den Ein⸗ 
zelnen in den Beſitz einer übernatürlichen Macht zu ſetzen, bot 
ſie ſich den Menſchen feil durch Gaukelwerk? Nein, ſie mußte 
langſam erworben werden, in Prüfungen angeeignet werden, 
die mit dem Verzicht auf alles begannen. Hatte Paulus irgend⸗ 
ein Zeugnis? Ja, er hatte das menſchliche Zeugnis gegen ſich, 
und dazu hatte er noch die Bekümmerung, daß die Gemeinde 
verzagen würde, oder was ſchlimmer war, an ihm ſich ärgerte; 
denn das Argernis liegt niemals näher, als wenn Wahrheit 
unterdrückt wird, wenn Unſchuld leidet, wenn Ungerechtigkeit 
ihres Sieges ſicher iſt, wenn Gewalt Glück hat, wenn Un⸗ 
wiſſenheit nicht einmal nötig hat, Gewalt gegen das Gute zu 
gebrauchen, ſondern ſorglos und unbekümmert unwiſſend darum 
bleibt, daß es da iſt. Aber verzagt Paulus, vom Zeugnis ver⸗ 
laſſen? Keineswegs. Als er kein anderes Zeugnis hatte, ſich 
darauf zu berufen, berief er ſich auf feine Trübſale. Iſt dieſes 
nicht wie ein Wunder? Wenn Paulus nicht anders kräftig be⸗ 
wieſen hätte, daß er wundertätige Macht beſitze, iſt dieſes nicht 


73 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ein Beweis? Trübſale in ein Zeugnis für der Lehre Wahrheit 
verwandeln, Schande in Ehre für ſich und die glaubende Ge⸗ 
meinde verwandeln; die verlorene Sache in eine Ehrenſache ver⸗ 
wandeln, die die ganze begeiſternde Macht des Zeugniſſes hat, 
iſt das nicht gleich wie den Lahmen zum Gehen bringen und 
den Stummen redend machen! 

Was gab Paulus die Macht dazu? Er hatte ſelbſt ein 
Zeugnis; er war kein zweifelnder Mann, der in ſeinem 
Innerſten die ſtarken Gedanken doch widerrief. Ein Zeugnis 
hatte er höher als alles in der Welt, ein Zeugnis, das ſtärker 
zeugte, je mehr die Welt gegen ihn war. War er ein ſchwacher 
Mann? Nein, er war mächtig. War er wankend? Nein, er 
war feſt; denn er war machtvoll bekräftigt durch den Geiſt 
Gottes im inneren Menſchen. 

Was der Apoſtel ſelbſt war, wofür ſein ganzes Leben den Be⸗ 
weis führt, das wünſcht er jedem Einzelnen in der Gemeinde. 
Wenn auch die Bedingungen jener Zeit andere waren, wenn auch 
Kampf und Streit es notwendiger machten, aber vielleicht auch 
ſchwieriger, dieſe Bekräftigung im inneren Menſchen zu gewin⸗ 
nen, es bleibt doch zu allen Zeiten und unter allen Umſtänden 
das einzige, das einem Menſchen nottut: ſeine Seele in der in⸗ 
neren Bekräftigung zu retten; denn jeder Menſch, zu jeder Zeit, 
hat ja doch ſeinen Streit und ſeine Anfechtung, ſeine Not, 
feine Einſamkeit, in der er verſucht wird, feine Angſt und 
Ohnmacht, wenn das Zeugnis fehlt. So will ich tiefer überlegen 

die Bekräftigung im inneren Menſchen 


74 


Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


Nur eine gedankenloſe Seele kann alles um ſich wechſeln 
laſ ſen, ſich ſelbſt den unſteten, launenvollen Verwandlungen des 
Lebens als Beute hingeben, ohne Angſt zu bekommen vor einer 
ſolchen Welt, ohne ſich um ſich ſelbſt zu bekümmern. Wie un⸗ 
wür dig und widerwärtig iſt ein ſolches Leben, wie weit iſt ein 
ſolcher entfernt von der hohen Beſtimmung des Menſchen, 
zu zeugen, der Herr der Schöpfung zu ſein. Denn ſoll der 
Menſch herrſchen, muß es eine Ordnung in der Welt geben; es 
wäre ja anders nur ein Spott über ihn, ihn als Herrſcher über 
wilde Mächte zu ſetzen, die keinem Geſetze gehorchen. Und wenn 
er herrſchen ſoll, muß ein Geſetz in ihm ſelber ſein, denn anders 
könnte er unmöglich herrſchen; er würde entweder ſtörend ein⸗ 
greifen, oder es bliebe einem Zufall überlaſſen, ob er weiſe 
herrſchte oder nicht. Wäre es ſo, da wäre der Menſch ſo weit 
entfernt, der Herr der Schöpfung zu ſein, daß dieſe eher wün⸗ 
ſchen müßte, daß er gar nicht da wäre. Sobald deshalb bloß ein 
Menſch zu einer verſtändigeren Betrachtung des Lebens ſich 
ſammelt, ſucht er ſich von einem Zuſammenhang in allem zu 
vergewiſſern, und als Herr der Schöpfung legt er dieſer ſo⸗ 
zuſagen die Frage vor, nötigt ihr eine Erklärung ab, fordert 
ein Zeugnis. 

Nur der, welcher ſeine Seele den weltlichen Begierden hin⸗ 
gab; der, welcher die glänzende Knechtſchaft der Luſt wählte 
und nicht vermochte, ſich von ihrer leichtſinnigen oder ſchwer⸗ 
mütigen Angſt freizumachen, nur der begnügt ſich, die Schöp⸗ 
fung ihr Zeugnis ablegen zu laſſen, daß er ſchlau und klug 


75 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſie im Dienſte des Augenblicks benützen kann. Und der Menſch 
iſt der Herr der Schöpfung, deshalb gehorcht ſie ſogar der un⸗ 
würdigen Herrſchaft. Wie traurig iſt ſolche Verlorenheit, die 
doch nicht glaubt, gedankenlos hinzuleben, ſondern eher, alles 
zu verſtehen, und in des Herzens Verwirrung meint, alles zum 
eigenen Vorteil zu wenden. Wenn er am Himmel die Abend⸗ 
röte ſieht, ſo ſagt er: „Es wird morgen ein ſchöner Tag wer⸗ 
den“, aber ſieht er am Morgen den Himmel rot und trübe, 
ſo ſagt er: „Es wird heute ein Unwetter geben“; denn über des 
Himmels Geſtalt, über Wind und Wetter weiß er zu urteilen. 
Darum ſagt er: „Heute oder morgen wollen wir gehen in die 
oder die Stadt, und wollen ein Jahr da liegen und Handel 
treiben und gewinnen.!“ Wenn er feinen Boden mit Verſtand 
anbaut, ſo rechnet er, daß er ihm vielfältig geben wird. Sein 
Auge ergötzt ſich am Anblick der reichen Saat, die er ſelbſt 
vielleicht gedankenlos die geſegnete Frucht nannte. Er baut 
raſch ſeine Scheunen größer; denn es iſt ihm leicht, voraus⸗ 
zuſehen, daß die alten dieſen Überfluß nicht faſſen werden. Da 
iſt er ſicher und froh, preiſt das Daſein, und legt ſich zum 
Schlafe; doch da heißt es: „Du Narr, dieſe Nacht wird man 
deine Seele von dir fordern.“ — Seine Seele von ihm, iſt 
es nicht zu viel verlangt, ob er es wohl verſtände? Es iſt 
nicht die Rede von der reichen Ernte, oder von den neulich er⸗ 
richteten Scheunen, aber wenn er nun über alledem vergeſſen 
hätte — daß er eine Seele hat. — Indes der, welcher bloß 
mit wenig Ernſt das Leben betrachtet, ſieht leicht, daß er nicht 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


alſo Herr iſt, daß er nicht zugleich Diener iſt; daß der Menſch 
nicht bloß dadurch vom Tiere verſchieden iſt, daß er verſtändiger 
iſt als dieſes. 

Nur der, welcher feig jede tiefere Erklärung flieht; der, 
welcher nicht den Mut hat, die Verantwortung des Herrn 
auf ſich zu nehmen, indem er ſich der Verpflichtung des Dieners 
unterwirft; nicht Demut hat, gehorchen zu wollen, um herrſchen 
zu lernen, und beſtändig nur herrſchen zu wollen, inſoweit er 
ſelbſt gehorcht — nur er füllt die Zeit mit unaufhörlichen Über- 
legungen aus, die ihn doch nicht weiter führen, ſondern eher zur 
Zer ſtreuung dienen, in welcher feine Seele, fein Vermögen zu 
faſſen und zu wollen, verſchwindet wie ein Dampf und ausge⸗ 
löſcht wird wie eine Flamme. Wie traurig iſt ſolche Selbſt⸗ 
verzehrung, wie weit iſt ein Solcher davon entfernt, durch ſein 
Leben zu zeugen, in ſeinem Leben auszudrücken des Menſchen 
erhabene Beſtimmung: Gottes Mitarbeiter zu ſein. 

Durch jede tiefere Beſinnung, die ihn älter macht als den 
Augenblick und ihn das Ewige ergreifen läßt, vergewiſſert ſich 
der Menſch davon, daß er ein wirkliches Verhältnis zu einer 
Welt hat, und daß alſo dieſes Verhältnis nicht ein bloßes 
Wiſſen von dieſer Welt und von ſich ſelbſt als einem Teil ihrer 
ſein kann, da ein ſolches Wiſſen kein Verhältnis iſt, eben 
weil er ſelbſt in dieſem Wiſſen gleichgültig gegen dieſe Welt 
iſt und dieſe Welt gleichgültig gegen ſein Wiſſen von ihr. Erſt 
in dem Augenblick, da die Bekümmerung in ſeiner Seele er⸗ 
wacht, was die Welt für ihn zu bedeuten habe, und er für 


77 


Sören Kierkegaard Religidöfe Reden 


ie Welt, was all das in ihm, wodurch er ſelbſt zur Welt 
gehört, für ihn zu bedeuten habe und er darin für die Welt, 
erſt da verkündigt ſich der innere Menſch in dieſer Bek ümme⸗ 
rung. Dieſe Bekümmerung wird nicht geſtillt durch ein 
näheres oder umfaſſenderes Wiſſen, ſie begehrt eine andere Art 
von Wiſſen, ein Wiſſen, das in keinem Augenblick dabei bleibt, 
Wiſſen zu ſein, ſondern im Augenblick des Beſitzes in ein Han⸗ 
deln ſich verwandelt; denn anders wird es nicht beſeſſen. Dieſe 
Bekümmerung verlangt auch eine Erklärung, ein Zeugnis, aber 
von einer andern Art. Wenn ein Menſch in ſeinem Wiſſen 
alles wiſſen könnte, aber nichts wüßte vom Verhältnis dieſes 
Wiſſens zu ihm, ſo hätte er wohl in ſeinem Streben, vom 
Verhältnis ſeines Wiſſens zu deſſen Gegenſtand ſich zu ver⸗ 
gewiſſern, ein Zeugnis verlangt, aber er hätte nicht gefaßt, daß 
es ein ganz anderes Zeugnis braucht: ſo wäre die Bekümmerung 
in ſeiner Seele noch nicht erwacht. Sobald dieſe erwacht, wird 
ſein Wiſſen als troſtlos ſich erweiſen, weil all das Wiſſen, 
in welchem ein Menſch vor ſich ſelber verſchwindet, ebenſo jede 
Erklärung, die durch ein ſolches Wiſſen zuſtande kommt, zwei⸗ 
deutig iſt, bald dies, bald jenes erklärt und das Gegenteil be⸗ 
deuten kann, ebenſo jedes Zeugnis dieſer Art, gerade wenn es 
zeugt, voll Trug und Rätſel iſt und nur Angſt gebiert. Wie 
ſollte auch ein Menſch in dieſem Wiſſen ſich davon ver⸗ 
gewiſſern, ob Glück Gottes Gnade iſt, ſo daß er an ihm ſich 
freuen, ſicher ſich ihm hingeben darf, oder ob es des Himmels 
Zorn iſt, und trügeriſch nur den Abgrund der Verlorenheit vor 


78 


Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


ihm verbirgt, daß ſein Untergang um ſo ſchrecklicher ſei? Wie 
ſollte ein Menſch in dieſem Wiſſen ſich davon vergewiſſern, 
ob Unglück des Himmels Strafe iſt, daß er von ihm ſich zer⸗ 
malmen laſſen kann, oder daß es Gottes Liebe iſt, die ihn in 
Prüfungen liebt, daß er freudig und zuverſichtlich in der Not 
der Verſuchung an die Liebe denken muß? Wie ſollte ein 
Menſch durch ein ſolches Wiſſen ſich davon vergewiſſern, ob 
er in der Welt hochgeſtellt und ihm viel anvertraut wurde, weil 
Gott in ihm ſein auserwähltes Werkzeug liebte, oder dies ge⸗ 
ſchah, weil er zum Sprichwort für die Menſchen werden ſollte, 
eine Warnung, ein Schreck für andere? Denn ſein Wiſſen kann 
ihn wohl davon vergewiſſern, daß alles ihm glücke, daß alles 
ihm ſich füge, daß alles geſchehe, wie er es will, daß alles ihm 
gegeben werde, worauf er zeigt, daß er hoch betraut ſei wie 
keiner — aber mehr kann dieſes Wiſſen ihn nicht lehren. Und 
dieſe Erklärung iſt ſehr zweideutig, und dieſes Wiſſen iſt ohne 
Troſt. 

In jener Bekümmerung verkündigt ſich der innere Menſch 
und verlangt eine Erklärung, ein Zeugnis, das die Bedeutung 
des Ganzen für ihn und ſeine eigene Bedeutung erklärt, indem es 
ihn ſelbſt in dem Gott erklärt, der alles in Seiner ewigen Weis⸗ 
heit zuſammenhält, und den Menſchen zum Herrn der Schöpfung 
machte dadurch, daß er Gottes Knecht wurde, und für ihn ſich er⸗ 
klärte dadurch, daß Er ihn zu Seinem Mitarbeiter machte, und 
durch jede Erklärung, die Er einem Menſchen gibt, ihn beſtärkt 
im inneren Menſchen. In jener Bekümmerung verkündigt ſich 


79 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


der innere Menſch, der nicht bekümmert iſt um die ganze Welt, 
ſondern nur um Gott und um ſich ſelbſt, und um die Erklärung, 
die ihm die Beziehung verftändlich macht, und um das Zeugnis, 
das ihn in der Beziehung bekräftigt. Dieſe Bekümmerung 
hört keinen Augenblick auf; denn das Wiſſen, das er gewinnt, 
iſt kein gleichgültiges Wiſſen. Wenn nämlich ein Menſch 
meinte, gleichſam ein für allemal dieſe Sache zu entſcheiden 
und dann fertig zu ſein, ſo wäre der innere Menſch in ihm 
nur totgeboren und verſchwände wieder. Aber wenn er in Wahr⸗ 
heit bekümmert iſt, wird alles durch Gott zur Bekräftigung im 
inneren Menſchen dienen; denn Gott iſt treu und läßt Sich nicht 
ohne Zeugnis. Aber Gott iſt Geiſt und kann deshalb ein 
Zeugnis geben nur im Geiſt: im inneren Menſchen. 

So wird Glück einem ſolchen Menſchen zur 
Bekräftigung im inneren Menſchen dienen. Oft 
hört man die Menſchen ſagen, daß das Leben ſo trugvoll ſei, 
und wie verſchieden auch die Hoffnungen und Wünſche der Ein⸗ 
zelnen waren, ſo einigten ſich doch ſo ſehr viele in der Entſchei⸗ 
dung, daß die ſchöne Forderung der Erwartungen niemals ſich 
erfüllte, wenn auch nur allzu viele zuerſt ſich ſelber betrogen da⸗ 
durch, daß ſie Troſt ſuchten in der Einbildung, daß ſie einmal 
in Wahrheit große Erwartungen genährt hätten. So klagen 
ſie über die Welt, daß ſie das Land des Elends ſei; über die 
Zeit, daß ſie eitel Mühe und verlorene Arbeit ſei, die den 
Menſchen dem Ziel ſeines Wunſches nicht näher führe; über 
die Menſchen, daß ſie treulos ſeien, oder doch träge, lau, ſelbſt⸗ 


80 


Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


ſüchtig; über ſich ſelbſt auf dieſelbe Weiſe wie über andere 
Dinge im Leben, daß ſie nicht als das ſich erwieſen, was ſie 
einmal zu ſein ſchienen; über die Ordnung aller Dinge hier auf 
Er den, daß all das eitle und äußere Weſen Fortgang habe, daß 
alle Tat gekrönt werde, deren Kraft Wortſchwall iſt; das Ge⸗ 
fühl geprieſen, deſſen Stärke in Redensarten iſt; die Not Teil⸗ 
nahme finde, deren Beweis im Schreien liegt; aber daß das 
redliche Streben nur Undank und Verkennung gewinne, daß 
das ſtille innerliche Gefühl nur Mißverſtändnis begegne, das 
tiefe, einſame Leid nur Kränkung finde. Selten hört man eine 
ernſtere Stimme, die jeden ermahnt, des Lebens Unterweiſung 
anzunehmen und in der Schule der Widerwärtigkeiten ſich 
erziehen zu laſſen, eine erprobte Rede, die mit allem Nachdruck 
fragt: „Sollte ein Reicher gerettet werden, ſollte der Mächtige 
auf dem engen Pfade gehen, ſollte der Glückliche ſich ſelbſt ver⸗ 
leugnen, ſollte der Gelehrte und Kluge die verachtete Wahrheit 
annehmen?“ Doch dieſe Rede wird nicht beachtet, ſondern die 
Klage fährt fort zu tönen, daß nicht bloß der Einzelne im Leben 
Unglück habe, ſondern daß das ganze Leben nur Unglück ſei, 
und daß dies das ganze Daſein zu einer finſteren Rede mache, 
welche keiner verſtehen kann. — Aber Glück — das iſt leicht zu 
verſtehen. Und doch: — Hiob war ein alter Mann und war 
alt geworden in der Furcht Gottes, er opferte Brandopfer für 
jedes ſeiner Kinder, ſo oft ſie zum Mahle gingen. — „Aber 
Glück iſt leicht zu verſtehen!“ — und doch kann nicht einmal 
der Glückliche ſelbſt es verſtehen. Sieh ihn an, den Glück⸗ 


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Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


lichen, welchem in allem fügſam zu ſein das Glück ſich zur Freude 
machte. Er arbeitet nicht und doch iſt er herrlich wie Salomo, 
ſein Leben iſt Tanz, ſein Gedanke berauſcht im Traum der 
Wünſche, und jeder Traum wird erfüllt, ſein Auge iſt hurtiger 
geſättigt, als es begehrt, ſein Herz birgt keinen geheimen Ge⸗ 
danken, ſein Sehnen hat keine Grenze kennengelernt. Aber wenn 
du ihn fragen wollteſt: „Woher kommt all dieſes?“, ſo würde 
er wohl leichtſinnig antworten: „Ich weiß es ſelber nicht.“ Dieſe 
Antwort möchte ihn wohl ſogar ergötzen in ſeinem Leichtſinn 
wie ein Scherz, der mit zum übrigen paßte, aber er würde nicht 
faſſen oder bloß ahnen, was er eigentlich ſagte, und wie er 
ſelbſt ſich richtete. Die bürgerliche Obrigkeit wacht darüber, 
daß jeder behalte, was ihm mit Recht gehört. Wenn ſie einen 
Menſchen entdeckt, deſſen Überfluß und Reichtum alle in Ver⸗ 
wunderung ſetzen, fordert ſie eine Erklärung von ihm, woher 
er es habe. Und kann er es nicht erklären, wirft ſie einen Ver⸗ 
dacht auf ihn, daß er nicht auf ehrliche Weiſe es erhielt, daß 
er nicht im rechtmäßigen Beſitz davon ſei, daß er vielleicht ein 
Diͤeb ſei. Die menſchliche Gerechtigkeit iſt nur ein ſehr unvoll⸗ 
kommenes Gleichnis der göttlichen. Dieſe hat ein wachſames 
Auge auf jeden Menſchen. Wenn ein Menſch auf die Frage, 
woher er das alles habe, keine andere Antwort hat, als daß er 
ſelbſt es nicht wiſſe, richtet ſie ihn, und bleibt bei ihm wie ein 
Verdacht gegen ihn, daß er nicht in rechtmäßigem Beſitz 
davon ſei! Dieſer Verdacht iſt nicht ein Diener der Gerechtig⸗ 
keit, ſondern die Gerechtigkeit ſelbſt; iſt die, welche anklagt und 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


richtet und ihm das Urteil verkündet und ſeine Seele im Ge⸗ 
fängnis bewacht, daß ſie nicht entweiche. Was fordert man 
denn von dem Glücklichen? Was anderes, als auch eine Be⸗ 
kräftigung im inneren Menſchen? Aber er hatte keine Be⸗ 
kümmerung, keinen inneren Menſchen; war er je dageweſen, 
ſo war er verſchwunden und ausgelöſcht. Der dagegen, in deſſen 
Seele der innere Menſch ſich verkündigt in jener Be⸗ 
kümmerung, wird nicht froh, wenn das Glück in allem ihm 
ſich fügen will. Ein heimliches Grauen bemächtigt ſich ſeiner 
vor der Macht, die ſo launiſch alles verſchwenden will, er hat 
Angſt, mit ihr zu tun zu haben, denn es iſt, als forderte ſie 
zum Erſatz etwas von ihm, das ſo furchtbar iſt, daß er kaum 
der Angſt davor einen Namen zu geben weiß. Einen weit ge⸗ 
ringeren Teil will er mit Dankbarkeit annehmen, wenn er bloß 
wiſſen darf, von wem er kommt. Aber dieſes verlangt die Be⸗ 
kümmerung in ihm, dieſe Erklärung, dieſes Zeugnis. Ob er 
auf des Berges Spitze geſtellt würde, um auszuſchauen über 
die Reiche und Länder der Welt, und ihm geſagt würde: „Das 
iſt alles dein“, er möchte doch zuerſt wiſſen, wer ihn hinauf⸗ 
geſtellt habe, wem er zu danken habe. Aber wenn das Glück 
deſſenungeachtet fortfährt, wie er es ausdrücken müßte, ihn zu 
verfolgen, wird ſeine Bekümmerung größer und größer; jedoch 
im Maß, wie ſeine Bekümmerung zunimmt, gewinnt ſeine 
Seele zuletzt die Bekräftigung im inneren Menſchen. So ward 
Glück ihm Anlaß, daß die Bekümmerung zunahm, und ſo 
diente Glück ihm zur Bekräftigung im inneren Menſchen; denn 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


der, welcher die ganze Welt beſitzt und Gott dankt, wird be⸗ 
kräftigt im inneren Menſchen. So wird er ſich ganz anders 
freuen als jener Glückliche; denn der, welcher, wenn er die Welt 
hat, wie der iſt, der ſie nicht hat, er hat die Welt; anders wird 
er gehabt von ihr. So freut er ſich über alle die guten Gaben, 
aber noch mehr freut er ſich über Gott und mit Gott, der ſie 
gab. So ergötzt er ſein Auge am Glanz der Erde, freut ſich 
darüber, daß die Vorratskammern voll ſind, ſo baut er ſeine 
Scheunen größer, ſo legt er ſich ruhig zum Schlafen, und wenn 
es heißt: „In dieſer Nacht will ich deine Seele von dir for⸗ 
dern“, ſo verſteht er dieſe Forderung und iſt hurtig fertig und 
weiß beſſer Beſcheid um ſeine Seele, die er mit ſich nehmen ſoll, 
als um all die Herrlichkeit, die er beſaß und nun verläßt, all die 
Herrlichkeit, an der er ſich freute, und die von Tag zu Tag 
ihm zur Bekräftigung im inneren Menſchen ward durch 
Dankſagung. 

„Aber Glück iſt ſo leicht zu verſtehen“, und doch kann nicht 
einmal der Begabte es recht verſtehen. Sieh ihn an, den Be⸗ 
gabten, den die Natur mit allem Herrlichen ausrüſtete, dem 
ſie Macht gab und Klugheit und des Geiſtes Kraft und des 
Herzens Unerſchrockenheit und des Willens Ausdauer. Sieh 
ihn an! Warum bebt er zuweilen in ſeinem Innerſten, der die 
ganze Welt zum Beben brachte? Warum erbleicht zuweilen der 
in feinem Innerſten, der alles durch feine Klugheit beherrſchte? 
Warum ward der zuweilen ohnmächtig in ſeinem Innerſten, 
der unerſchrocken alles unter ſeinen Augen hatte? Oder ſollte 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


man nicht ſchaudern in einer ſtillen Stunde, ohnmächtig werden 
in einem freien Augenblick —, die Macht zu haben, und nicht 
zu wiſſen, wozu man ſie hat. Die bürgerliche Gerechtigkeit 
wacht darüber, daß jeder innerhalb ſeiner Grenzen bleibt, 
daß jeder Einzelne dem Ganzen dienen muß. Wenn ſie einen 
Mann entdeckt, deſſen Macht die Aufmerkſamkeit aller weckt, 
fordert ſie eine Erklärung von ihm, wozu er ſie brauche, und 
kann er die nicht geben, fällt ein Verdacht auf ihn, daß er kein 
guter Bürger ſei, ſondern vielleicht ein Friedensſtörer. Die 
menſchliche Gerechtigkeit iſt nur ein Gleichnis der göttlichen. 
Dieſe geht auch zu dem Einzelnen, und ihre Unterſuchung iſt 
ſtrenger. Trifft ſie einen Menſchen, der auf die Frage, wozu 
er ſie habe, nichts anderes antworten kann, als daß er ſelbſt 
es nicht recht wiſſe, ſo bleibt die Gerechtigkeit bei ihm wie ein 
Verdacht auf ihn. Sie nimmt vielleicht nicht die Macht von 
ihm; denn möglicherweiſe hat er ſie noch nicht mißbraucht, aber 
ſie wird zu einer Angſt in ſeiner Seele, die wacht, wann er es 
am wenigſten erwartet. Was fehlt denn einem ſolchen Men⸗ 
ſchen? Was anderes, als eine Bekräftigung im inneren Men⸗ 
ſchen? — Aber der, in deſſen Seele der innere Menſch ſich 
verkündigt in jener Bekümmerung, wird nicht froh, wenn er 
entdeckt, daß er die Macht hat. Er wird unruhig, faſt bange 
vor ſich ſelber. Mit Angſt vergewiſſert er ſich davon, wieviel 
er vermag. Aber wenn er deſſenungeachtet die Macht nicht los⸗ 
werden kann, wird ſeine Bekümmerung und ſeine Herzensangſt 
größer und größer, bis dieſe Bekümmerung die Bekräftigung 


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Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


im inneren Menfchen gebiert. So weiß er nicht bloß, daß er die 
Macht hat, fondern er weiß auch, was jener Begünſtigte nicht 
wußte, wem die Ehre zukommt und wem ſie mit Recht gehört. 
So freut er ſich darüber, daß jedes Unternehmen glückt, ſo 
ſehnt er ſich, das Ziel ſeines Strebens zu erreichen, aber noch 
mehr freut er ſich doch über Gott, und noch mehr ſehnt er ſich 
nach dem Augenblick, da er mit ſeinem Gott ſich darüber freuen 
wird, daß es geglückt iſt. So umfaßt ſeine Seele die ganze 
Welt, und ſeine Pläne gehen weit um die Länder, aber wenn 
es in der Stille der Nacht heißt: „Tu Rechnung von deinem 
Haushalten!“, ſo weiß er, was dieſer Befehl zu bedeuten hat, er 
weiß, wo er die Rechenſchaft liegen hat, und ob auch Mängel 
in ihr ſind, er verläßt getroſt die Welt der Gedanken und Ge⸗ 
ſchäfte, in welcher er doch nicht ſo ſeine Seele hatte, verläßt 
die kunſtreich verwickelte und weit ausgeſtreckte Arbeit, die ihm 
Tag für Tag Anlaß geweſen war zur Bekräftigung im inneren 
Menſchen. | 

„Aber Glück ift fo leicht zu verſtehen“ — und doch wird es 
zuweilen auch nicht einmal von einem Menſchen verſtanden, der 
mit Widerwärtigkeiten vertraut iſt. Sieh ihn an! Er hatte ge⸗ 
lernt, daß es Not im Leben gibt, er hatte in ſchweren Schick⸗ 
ſalen ſich ſelbſt geſtanden, wie ſchwach und ohnmächtig doch ein 
Menſch mit ſeinen eigenen Kräften ſei. Dennoch gab er den 
Mut nicht auf; er verzagte nicht, er fuhr fort zu arbeiten. Ob 
er etwas erreichte dadurch, ob er vorwärts oder rückwärts kam, 
ob er ſich bewegte oder ſtille ſtand, das wußte er nicht; denn 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


es hatte eine Finſternis um ihn ſich ausgebreitet und es war 
wie eine beſtändige Nacht. Dennoch ſtrengte er ſeine letzten 
Kräfte an. Siehe! da ging die Sonne des Glückes wieder auf, 
beleuchtete alles, verklärte alles, vergewiſſerte ihn, daß er ſehr 
weit gekommen war, daß es gewonnen war, wofür er gearbeitet 
hatte. So brach er in Freude aus: „So mußte es kommen; denn 
eines Menſchen Anſtrengung iſt nicht eine unfruchtbare und be⸗ 
deutungsloſe Mühe.“ So hatte er alles verſcherzt und bekam 
keine Bekräftigung im inneren Menſchen. Er hatte vergeſſen 
das Bekenntnis der Stunde der Not, vergeſſen, daß die Er- 
füllung nicht ſicherer iſt, weil ſie gekommen iſt, als ſie war, 
da er geſtand, daß er nicht darauf rechnen könne, ſie mit eigenen 
Kräften zu erreichen. Unglück hatte er verſtanden, aber Glück 
konnte er nicht verſtehen. So ging der innere Menſch gleichſam 
aus in ſeiner Seele. Oder wenn die Gerechtigkeit ihn beſuchte 
und eine Erklärung von ihm verlangte, — ob ihr ſeine Antwort 
wohl genügen könnte? Er hatte den Herrn beſſer in der Feuer⸗ 
ſäule verſtehen gekonnt, die ein einzelnes Mal in der Nacht 
leuchtete, aber als es Tag ward, konnte er den Blick nicht auf 
die Wolkenſäule richten. — Der dagegen, in deſſen Seele der 
innere Menſch ſich verkündigt in jener Bekümmerung, gewann, 
als der Tag der Freude über die Finſternis ſiegte, eine volle 
Bekräftigung im inneren Menſchen; denn die Freude nehmen 
ohne dieſe Bekümmerung um das Zeugnis, hieße einer Täu⸗ 
ſchung ſich hingeben. Aber das Zeugnis empfing er mit froher 
Dankbarkeit, weil es zu dem kam, den es nicht ſchlafend fand. 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Und der innere Menſch nahm zu Tag für Tag an Wohlgefallen 
vor Gott. Und wenn der Herr einmal den Knecht wegrief, 
ſo kannte er den Weg und verließ alles, und nahm nur die 
Zeugniſſe mit ſich, in denen er ſeine Seligkeit gehabt hatte. 

„Aber Glück iſt ſo leicht zu verſtehen“, und doch verſteht oft 
auch der Unglückliche es nicht, oder weiß recht, wovon er redet. 
Zu dem Glücklichen redet man getroſt; denn wenn das Geſagte 
ihm nicht behagt, ſo kann er ja an ſeinem Glücke ſich freuen 
und des Redenden ſpotten. Mit dem Unglücklichen iſt es eine 
andere Sache, daß nicht die Rede, wenn ſie ihm nicht zuſagt, 
eine neue Plage werde; daß er nicht, wenn er meint, daß der 
Redende ſelbſt nichts erfahren hat, noch ungeduldiger werde 
und es als eine neue Kränkung empfinde, daß der ihn tröſten 
will, der ſein Leiden nicht kennt. Aber wer auch dies geſagt 
hat, es bleibt doch wahr, daß der Unglückliche oft nicht verſteht, 
was Glück iſt. Und wer verſteht es doch in einem andern Sinn 
beſſer als eben der Unglückliche? Denn wer verſtände beſſer 
von der Luſt des Reichtums zu reden als der, welcher von 
Broſamen lebt, wer ſchilderte Macht und Gewalt glühender 
als der, welcher in Knechtſchaft ſeufzte, wer ſchilderte der Men⸗ 
ſchen Vereinigung hinreißender als der, welcher einſam blieb 
im Leben? Aber der, welcher zu ſchildern verſtand, verſtand 
doch vielleicht nicht immer ſich ſelbſt; aber der, welcher nicht 
ſich ſelbſt verſtand, wie ſollte er in tieferem Sinne faſſen, was 
außer ihm iſt? Wenn er dagegen ſich ſelbſt verſtand, oder ſich 
ſelbſt zu verſtehen ſuchte, wenn er in Wahrheit bekümmert war, 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


ſich ſelbſt zu verſtehen, wenn der innere Menſch in ihm ſich 
verkündigte in jener Bekümmerung: ſo wird er das Glück ver⸗ 
ſtehen, wird er die Bedeutung deſſen verſtehen, daß ihm es ver⸗ 
weigert ward, ſo wird er nicht mit Bildern der Einbildung 
umgehen und nicht mit Träumen ſich ſtärken, ſondern in ſeinem 
Unglück bekümmert ſein um ſich ſelbſt. So wird einem 
ſolchen Menſchen Unglück zur Bekräftigung im 
inneren Menſchen dienen. Und wie ſollte es nicht? Der 
innere Menſch verkündigt ſich ja in jener Bekümmerung, und 
Unglück läßt ja gerade das Außere, das Sinnliche, das Hand⸗ 
greifliche verſchwinden und ſich verwirren; aber ruft es darum 
zugleich immer das Innere ins Leben? Und Widerwärtigkeit 
macht ja jeden Menſchen bekümmert, aber macht ſie ihn immer 
bekümmert um Gott? Bekräftigte nicht das Leben öfter die 
Wahrheit des ernſten Wortes, das von demſelben ertönt, der 
vor Glück warnte, und deshalb mit tiefer Bedeutung ertönt: 
„daß auch Widerwärtigkeiten Verſuchungen ſind.“ Sieh ihn 
an, den Bekümmertenl Sieh näher hin auf ihn, du erkennſt 
ihn faſt nicht wieder ſeit der Zeit, da er ſo froh ging, ſo ſtark, 
ſo zuverſichtlich ins Leben. Seine Beſtimmung im Leben war 
ihm ſo deutlich und ſo wünſchenswürdig, ſein Denken kannte 
ſein Streben, und ſein Herz hing daran, ſeine Kraft arbeitete 
getreulich — und die Hoffnung verhieß ihm eine glückliche Er⸗ 
füllung. Denn es gibt eine Hoffnung, die des Himmels väter⸗ 
liche Gabe für das Kind iſt, eine Hoffnung, die mit dem Kind 
aufwächſt, mit welcher der Jüngling in das Leben hinausgeht. 


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Sören Kierkegaard Religisſe Reden 


Dieſe Hoffnung ſteht ihm für alles ein. Wer gab ihm auch 
dieſe Hoffnung, wenn nicht der Herr im Himmel; ſollte fie 
nun nicht gültig ſein in der weiten Welt, in allen den Reichen 
und Landen, die dem himmliſchen König gehören, der ſie ihm 
gab! Doch geſchah es nicht alſo, und bald hatten Widerwärtig⸗ 
keiten die ſchöne Hoffnung dem Stärkeren entwunden, dem 
Schwächeren abgenarrt. So verwirrte alles ſich für ihn. Es 
gab keinen Herrſcher mehr im Himmel, die weite Welt war ein 
Tummelplatz für des Lebens wilden Lärm, da war kein Ohr, 
das die Verwirrung zur Harmonie ſammelte, keine Hand, die 
lenkend eingriff. Wie auch ein Menſch im Leben ſich tröſten 
konnte, die Hoffnung, meinte er, war verloren, und die Hoff⸗ 
nung blieb verloren. So ward ſeine Seele bekümmert. Und 
je mehr er in die Geſetzloſigkeit ſtierte, in der alles ſich aufzu⸗ 
löſen ſchien, um ſo mehr Macht gewann ſie über ihn, bis ſie 
ganz ihn betörte, bis ſeinen Gedanken ſchwindelte, er ſelbſt 
hinabſtürzte und in Verzweiflung ſich verlor. Oder wenn die 
Bekümmerung auch nicht fo eine ver führeriſche Macht über ihn 
bekam, ſeine Seele blieb doch ohne Teilnahme und allem fremd. 
Er ſah darauf, wie die andern, aber ſein Auge las beſtändig 
eine unſichtbare Schrift in allem, daß es Leere ſei und Täu⸗ 
ſchung. Oder er zog von den Menſchen ſich zurück und ermattete 
meuchelmörderiſch ſeine Seele in Bekümmerungen, in düſteren 
Gedanken, im unfruchtbaren Dienſt unruhiger Stimmungen. 
Was mangelte einem ſolchen Menſchen, was war das, was er 
nicht gewann, als er alles verlor, was anderes als die Be⸗ 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


kräftigung im inneren Menſchen? — Der dagegen, in deſſen 
Seele jene Bekümmerung war, ehe die Bekümmerung ihn er⸗ 
reichte, die von außen kommt; der, deſſen Seele die Freude 
niemals ſo zufrieden ſtellte, daß ſie nicht die Bekümmerung um 
das Zeugnis doch behielt, aber die äußere Bekümmerung auch 
nicht fo überwältigte, daß die Möglichkeit der Freude ver- 
ſchwand, ſolange er noch um das Zeugnis ſich bekümmerte — 
für ihn ward die Bekümmerung, die von außen kam, nach und 
nach ein Freund. Sie vereinigte ſich mit der Bekümmerung 
in ihm, ſie verhinderte ihn, fehlzuſehen auf das Leben, ſie half 
ihm dazu, die Seele in Bekümmerung ſinken und ſinken zu 
laſſen, bis ſie das Zeugnis fand. So wurde er nach und nach 
leichter und leichter, er warf ſchließlich die irdiſche Laſt der welt⸗ 
lichen Wünſche ab, und ruhte mit dem Zeugnis in Gott, ſelig 
durch die Hoffnung, die er gewonnen hatte. Denn es gibt eine 
Hoffnung, von welcher die Schrift ſagt, daß fie durch Er- 
fahrung erworben wird. Welche Erfahrung meint nun die 
Schrift; vielleicht die, in der ein Menſch ſich vergewiſſert, daß 
er alles bekommt, was er hofft. Die Schrift ſagt, daß dieſe 
Erfahrung eine Frucht der Anfechtung iſt. Aber eine ſolche 
Hoffnung kann die Welt ja nicht nehmen, denn ſie wird ja 
gewonnen in der Not, und gewinnt Stärke durch die Not. Ihm 
verhalf Unglück zu einer Bekräftigung im inneren Menſchen; 
denn der, welcher das, was er lernte, aus ſeinem Leiden lernte, 
und das Gute durch Leiden lernte, gewann nicht bloß die beſte 
Lehre, ſondern was viel mehr iſt — den beſten Lehrmeiſter, 


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Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


und der, welcher von Gott lernt, wird bekräftigt im inneren 
Menſchen. Wenn er nun auch alles verlor, ſo gewann er doch 
alles, und Abraham beſaß nur ein Grab in Kanaan, und doch 
war er Gottes Auserwählter. 

Sieh ihn an, den Unter drückten. Er klagt nicht über das 
Leben, ſondern über die Menſchen, die alles verderben und bitter 
machen, was Gott gut machte. Sieh ihn näher an! Du erkennſt 
ihn kaum wieder ſeit der Zeit, da er jung und freudig in das 
Leben hinausging voller Erwartung, ſeine Miene ſo offen, ſein 
Herz ſo warm, ſeine Seele ſo raſch bereit, zu jedem Menſchen 
zu eilen, es gab für ihn nur Freude und Herrlichkeit. Doch ſo 
blieb das nicht. Bald hatte, wie er meinte, der Betrug der 
Menſchen ihm ſeinen Glauben abgeliſtet, die Hinterliſt der 
Menſchen ſeiner Offenherzigkeit geſpottet, der Menſchen Kälte 
und Selbſtſucht die Begeiſterung in ihm ermattet, der Men⸗ 
ſchen Neid ſeinen Mut geſtürzt, ſeine Kraft, ſeine Feurigkeit, 
ſein ſtolzes Streben, ſein herrliches Wirken in dasſelbe Elend 
wie das, in welchem ſie ſelbſt leben. Wie man das Leben auch 
aushält, die Menſchen, meinte er, waren verloren. So ver⸗ 
wirrte ſich alles für ihn; da war kein Gott, der alles zum 
Guten dachte, ſondern alles war den Menſchen überlaſſen, die 
alles zum Böſen dachten. Aber je mehr ſeine Seele wieder in 
den Abgrund der finſteren Leidenſchaften ſtierte, die ſich für 
ihn vorſtellten, um ſo mehr Macht bekam die Angſt der Ver⸗ 
ſuchung über ihn, bis er ſelbſt in ſie hinabſtürzte und in Ver⸗ 
zweiflung ſich verlor. Oder wenn der Schmerz ihn auch nicht 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


ſo hinriß, ſo ſtand er doch fühllos im Kreis der Menſchen, 
er ſah es mit andern ſich wiederholen, was ihm zugeſtoßen war, 
aber er fühlte keine Teilnahme, was half es auch, da er keinen 
Troſt zu bieten hatte. Oder er verbarg ſich vor den Menſchen, 
um in der Einſamkeit der Seele in ſeine troſtloſe Weisheit 
ſich zu vertiefen, den Gedanken der Verzweiflung in ſeinem 
ganzen Schrecken zu ergründen. Oder er ward gebeugt wie ein 
Rohr, ſiechte hin in einer langſam zehrenden Wehmut, eine 
Angſtigung für ihn ſelbſt und für jeden, der Zeuge war, wie 
er ausgelöſcht wurde. — Aber der, in deſſen Seele der innere 
Menſch ſich verkündigte in jener Bekümmerung, von der wir 
reden; der, deſſen Seele keines Menſchen Liebe ſo ausfüllte, 
daß das Zeugnis ihm aus dem Sinn kam, fand wohl niemals 
die Menſchen ſo, wie jener Beleidigte, und doch fand er ſie 
vielleicht anders, als er gehofft und gewünſcht hatte. Aber ſelbſt 
wenn das Furchtbare geſchah, wenn die Menſchen gegen ihn 
aufſtanden wie Gewalttäter oder ihn verließen wie Betrüger, 
wenn der Feind ihn verfolgte, der Freund ihn verriet, wenn 
der Neid ſeinen Füßen Fallen legte, was vermochten ſie doch 
über ihn? Sie konnten feine Bekümmerung vermehren, fie 
konnten ihm dazu helfen, aus ſeiner Seele jedes Gefühl zu 
reißen, mit dem er der Schöpfung ſo angehörte, daß er in ihm 
nicht zugleich dem Schöpfer angehörte. Aber ſie konnten nicht 
verhindern, daß die Bekümmerung um Gott, die in ſeiner Seele 
war, tiefer und innerlicher ihren Gegenſtand ſuchte. Und der, 
welcher Gott ſucht, findet allzeit, und der, welcher einen Men⸗ 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſchen nötigt zu ſuchen, hilft ihm zu finden. So ſuchte ſeine Seele 
in der Bekümmerung innerlicher und innerlicher, bis ſie das 
Zeugnis fand; denn der, welcher Gott liebt, wird bekräftigt 
im inneren Menſchen, und der, welcher die Menſchen liebte und 
nur durch dieſe Liebe gleichſam lernte, Gott zu lieben, deſſen 
Erziehung war doch nur unvollkommen; aber der, welcher Gott 
liebte, und in dieſer Liebe die Menſchen lieben lernte, ward be⸗ 
kräftigt im inneren Menſchen. Verweigerte der Menſch ihm 
ſeine Liebe, ſo half er ihm, die Gottes zu finden, die ſeliger 
iſt, als was in eines Menſchen Herzen aufkam; verweigerte 
der Freund ihm ſeinen Troſt, ſo half er ihm, den Gottes zu 
finden, der über alle Maßen iſt; verweigerte die Welt ihm 
ihren Beifall, ſo half ſie ihm, den Gottes zu ſuchen, der über 
allen Verſtand geht. Sieh ihn an, den Ver ſuchten, der ge⸗ 
prüft ward in der Not der Anfechtung. Vielleicht ſahſt du ihn 
ſeltener; denn die Anfechtung kommt ja nicht allzeit mit ſicht⸗ 
baren Zeichen. Es war nicht, was wir eigentlich Unglück nennen, 
worin er geprüft ward; die Menſchen verließen ihn nicht, im 
Gegenteil, in äußerer Hinſicht war alles freundlich und ſchön. 
Dennoch ſaß ſeine Seele in Not, und wie dieſe nicht im Außeren 
lag, ſo konnte er auch nicht der Menſchen Troſt finden. Außer⸗ 
lich glückte ihm alles, und dennoch war ſeine Seele in Angſt, 
ohne Zuverſicht und Freimut. Er ſuchte nicht Frieden und Ruhe 
im Äußeren, und doch war fein Herz ohne Unterlaß beſchwert. 
So erlag der innere Menſch in ihm, es war ihm, als wäre das 
äußere Glück nur da, um das innerliche Leiden einzufrieden, 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


daß er nicht einmal in den Widerwärtigkeiten der Welt Linde⸗ 
rung finden ſollte; es war ihm, als wäre Gott ſelbſt es, der 
Seine gewaltige Hand auf ihn legte, als wäre er ein Kind des 
Zornes, und doch konnte er nicht näher verſtehen oder ſich er⸗ 
klären wie. So empörte ſein Innerſtes ſich in ihm, ſo tat er, 
was in einer alten Erbauungsſchrift ſteht, ſo „rühmte er 
ſich deſſen, daß er verloren ſei“, und daß Gott ſelbſt 
es ſei, der ihn in die Verlorenheit geſtürzt habe. So verſteinerte 
der innere Menſch in ihm. — Aber der, in deſſen Seele der 
innere Menſch ſich verkündigte in jener Bekümmerung, von der 
wir reden, er ließ dennoch nicht die Bekümmerung los. Wenn 
er auch die Erklärung nicht fand, er fand doch die Erklärung, 
er ſolle auf die Erklärung warten. Er fand doch die Erklärung, 
daß Gott prüfte, er fand doch den Troſt, daß, wenn Gott prüft, 
die Zeit wohl ſehr lang wird, aber daß Gott alles wieder ein⸗ 
holen kann, denn für Ihn iſt ein Tag wie tauſend Jahre. So 
ward er ſtiller in ſeiner Not. Er floh nicht den Schmerz der 
Anfechtung, er ward ihm ein vertrauter, ein vermummter 
Freund, wenn er auch nicht faßte wie, wenn er auch vergebens 
ſeinen Gedanken anſtrengte, um ſein Rätſel zu erklären. Aber 
all wie ſeine Bekümmerung zunahm, aber auch zunahm an 
Stille und Demut, ſo daß er, wieviel er auch litt, allzeit lieber 
bei der Anfechtung zu bleiben wählte als irgendwo anders in 
der Welt, brach auch zuletzt das Zeugnis hervor in der vollen 
Gewißheit des Glaubens; denn der, welcher Gott gegen den 
Verſtand glaubt, wird bekräftigt im inneren Menſchen. Ihm 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


diente die Anfechtung zu einer Bekräftigung im inneren Men⸗ 
ſchen, er lernte das Schönſte von allem, das Seligſte, daß Gott 
ihn liebte; denn wen Gott prüft, den liebt er. 

So dient denn Glück und Unglück einem ſolchen Menſchen 
zur Bekräftigung im inneren Menſchen. Aber die Bekräftigung 
kann kein Menſch ſelbſt ſich geben, und der, welcher ein Zeugnis 
empfängt, iſt ja nicht der, welcher es gibt. Hieran erinnert 
Paulus auch in unſerem Text: „Denn das Zeugnis ſelbſt 
iſt eine Gabe von Gott, von dem alle gute und alle voll⸗ 
kommene Gabe kommt, die herrlichſte von allen, eine Gabe vom 
Vater im Himmel, nach dem alle Vaterſchaft genannt wird im 
Himmel und auf Erden.“ Das ſind Worte des Apoſtels, und 
dieſer Vaterſchaft Gottes ſchreibt er die Bekräftigung im 
inneren Menſchen zu, und ſchreibt ſie ihr ſo zu, daß Gottes 
Liebe, gerade in dieſer Außerung, in der Bekräftigung im 
inneren Menſchen, als Vaterliebe ſich beweiſt. Wir nennen 
Gott einen Vater, der Menſch ruht froh und zuverſichtlich in 
dieſer Benennung als der ſchönſten, der erhebendſten, aber 
auch als der wahrſten und bezeichnendſten, und doch iſt dieſer 
Ausdruck ja ein bildlicher, hergeholt vom irdiſchen Leben, wenn 
auch vom Schönſten, das das Erdenleben hat. Aber wenn der 
Ausdruck ein bildlicher iſt, ein übertragener, reicht er wirklich 
bis zum Himmel, um zu bezeichnen, was er bezeichnen ſoll, oder 
verflüchtigt er ſich nicht, je höher er ſteigt, wie ein irdiſches 
Sehnen, das doch allzeit nur dunkel redet? Ja, für den, der 
auf das Äußere ſieht, wird der Ausdruck ein uneigentlicher und 


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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


unwirklicher; denn wenn er meint, Gott gebe die guten Gaben, 
wie ein Vater es tut, aber doch ſo, daß die Gaben es ſind, die 
gleichſam beweiſen, daß Gott unſer Vater iſt, ſo urteilt er 
äußerlich, und für ihn wird die Wahrheit ſelbſt uneigentlich. 
Aber der innere Menſch ſieht nicht auf die Gaben, ſondern auf 
den Geber; die menſchliche Scheidung zwiſchen dem, was man 
Gabe nennen müßte, und dem, was die Sprache nicht geneigt 
iſt ſo zu nennen, verſchwindet für ihn im Weſentlichen, im 
Geber; Freude und Leid, Glück und Unglück, Not und Sieg 
ſind für ihn Gaben; denn ihm iſt der Geber das Wichtigſte. 
Der innere Menſch verſteht das und iſt deſſen gewiß, daß Gott 
ein Vater im Himmel iſt, und daß dieſer Ausdruck nicht ein 
bildlich un vollkommener iſt, ſondern der eigentlichſte und 
wahrſte, weil Er nicht bloß die Gaben gibt, ſondern Sich ſelbſt 
mit, wie kein Menſch es vermag, der nur in einem Gefühl oder 
in einer Stimmung in der Gabe zur Stelle ſein kann, nicht 
weſentlich, nicht der ganzen Gabe Inhalt bis zum mindeſten 
durchdringen, nicht ganz in der ganzen Gabe, noch weniger ganz 
im geringſten Teile ihrer zur Stelle ſein kann. Schien es dir 
deshalb auch einmal, daß, indem der Gedanke aus dem väter⸗ 
lichen Heim hinauswanderte, er ſich verirrte draußen in der 
Welt, um ſich zur Vorſtellung von Ihm zu erheben, von Ihm, 
dem allmächtigen Gott, dem Schöpfer Himmels und der 
Erde als dem gemeinſamen Vater aller, daß dir doch etwas 
verloren ginge, die Verliebtheit nämlich, die dir in dem väter⸗ 
lichen Hauſe zuteil wurde, weil du nur das Kind warſt und er 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


dein irdiſcher Vater, nur dein Vater, ſo wollen wir nicht 
leugnen, daß es dir ſo ſcheinen konnte, daß der Vergleich doch 
nicht ganz paßte. Aber wenn du dann zu ihm kamſt, deinem 
irdiſchen Vater, froh über alle Maßen, weil du die ganze Welt 
gewonnen hatteſt, und du ihn wohl froh fandeſt; denn wie ſollte 
er auch nicht ſich freuen mit dem Frohen, im beſonderen mit 
dem Frohen, der ihm teurer war als alles, aber doch, gerade 
weil er dich liebte, nur froh wie aufs Ungewiſſe, daß nicht, 
was du gewonnen hatteſt, dir zum Verderben gereichen ſollte; 
und du dagegen froh, weil du die ganze Welt gewonnen hatteſt, 
zu Ihm kamſt, deinem himmliſchen Vater, und Er ganz mit 
dir teilnahm an deiner Freude, weil gerade dies, daß du mit 
Ihm dich freuteſt, ein untrüglicher Beweis war, daß, was du 
gewonnen hatteſt, dir zum Guten dienen müßte — oder wenn 
du traurig und weinend zu ihm kamſt, deinem irdiſchen Vater, 
und du ihn wohl weinend fandeſt; denn wie ſollte er nicht 
weinen mit dem Weinenden, im beſonderen mit dem Weinenden, 
den er höher liebte als alles, aber du dich doch nicht recht ver⸗ 
ſtändlich machen konnteſt für ihn, ſo daß er mehr trauerte, weil 
du trauerteſt, als über das trauerte, worüber du trauerteſt; 
und du dagegen traurig, in deiner Seele Bekümmerung zu Ihm 
kamſt, deinem himmliſchen Vater, welcher der einzige iſt, der 
Ohren hat zu hören, was im Verborgenen geſprochen wird, 
und Väterlichkeit, es recht zu verſtehen — oder wenn du be⸗ 
kümmert und niedergebeugt zu ihm kamſt, deinem irdiſchen 
Vater und ihn ſchwach fandeſt, wankend, ohne Troſt für dich, 


98 


Die Bekräftigung im inneren Menſchen 


und nur dein Schmerz ſich mehrte durch ſein Leid; und du da⸗ 
gegen zerknirſcht und vernichtet zu Ihm kamſt, deinem himm⸗ 
liſchen Vater und Ihn ſtark fandeſt, und ſtärker, je ſchwächer 
du wareſt, willig zu helfen und allzeit williger, je größer die 
Not war... mein Zuhörer! da paßt der Vergleich auch nicht 
mehr ganz. Da haſt du gefühlt, daß, nicht weil du einen Vater 
haſt, oder weil die Menſchen Väter haben, daß es nicht deshalb 
iſt, daß Gott der Vater im Himmel genannt wird, ſondern 
daß es iſt, wie der Apoſtel ſagt: nach Ihm wird alle Vater⸗ 
ſchaft genannt im Himmel und auf Erden; fo daß, wenn du 
auch den liebreichſten Vater hätteſt, den es unter Menſchen 
gegeben hat, auch er nur, trotz ſeinem beſten Willen ein Stief⸗ 
vater wäre, ein Schatten, ein Abglanz, ein Gleichnis, ein Bild, 
eine dunkle Rede von der Vaterſchaft, nach welcher alle Vater⸗ 
ſchaft genannt iſt im Himmel und auf Erden. Oh, mein Zu⸗ 
hörer! haſt du dieſe Seligkeit gefaßt, oder beſſer, hat meine 
Rede dich daran erinnert, was du beſſer und innerlicher und 
voller und ſeliger beſitzeſt, als ich es beſchreiben kann; oder 
beſſer: hat meine Rede nichts geſtört in dem, was du beſitzeſt, 
denn was iſt doch ſeliger als dieſer Gedanke, den kein Glück, 
keine Begünſtigung, keine Bekümmerung, keine Kränkung, 
keine Anfechtung, nicht Gegenwärtiges, nicht Zukünftiges einem 
Menſchen entreißen, ſondern nur dazu dienen kann, zu ſtärken 
und zu kräftigen. 


99 


Sören Kierkegaard Religidfe Reden 


Das Erſte, ſagen die Menſchen, iſt doch das Schönſte, und 
das Herz hängt daran: der erſte Menſch, der ihn zur Stunde 
grüßte, als er unter die Lebenden gezählt ward; der erſte Him⸗ 
mel, der über die Stelle ſich wölbte, wo er geboren ward; die 
erſte Sprache, welche die der Mutter heißt; das erſte Volk, 
welches das der Väter heißt; der erſte Unterricht, der feine Seele 
ausweitete; die erſten Gleichaltrigen, die ihn verſtanden; der 
erſte Gedanke, der begeiſterte; die erſte Liebe, die ihn glücklich 
machte — ſelig der Mann, der in Wahrheit ſagen konnte: „Gott 
im Himmel war meine erſte Liebe“; ſelig der Mann, deſſen Leben 
eine geſegnete Bekräftigung dieſer Liebe war, ſelig der Mann, 
der, wenn er auch fehlgriff im Leben und das Außere nahm 
anſtatt das Innere, wenn ſeine Seele auch auf vielerlei Weiſe 
in die Welt verwickelt ward, doch wieder ſich erneuerte im 
inneren Menſchen, indem er zurückkehrte zu ſeinem Gott, be⸗ 
kräftigt im inneren Menſchen. 


100 


Hiob 
Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's genommen, 
der Name des Herrn ſei gelobt. 


„Da ſtand Hiob auf, und zerriß ſein Kleid, 
und raufte fein Haupt und fiel auf die Erde, 
und betete an, und ſprach: Ich bin nacket von 
meiner Mutter Leibe kommen, nacket werde ich 
wieder dahinfahren. Der Herr hat's gegeben, 
der Herr hat's genommen; der Name des Herrn 
ſei gelobt!“ 


Nicht bloß den nennen wir einen Lehrer der Menſchen, der 
durch eine beſonders glückliche Gunſt, oder mit unermüdlicher 
Mühe und durchgreifender Ausdauer die eine oder andere 
Wahrheit entdeckte oder ergründete, das Erworbene als eine 
Lehre hinterließ, welche die folgenden Geſchlechter zu verſtehen 
und in dieſem Verſtehen ſich zuzueignen ſtreben; ſondern auch 
den, vielleicht in noch ſtrengerem Sinn, nennen wir einen Lehrer 
der Menſchheit, der nicht nur Lehre anderen zu übergeben hatte, 
ſondern dem Geſchlecht ſich ſelbſt als ein Vorbild hinter⸗ 
ließ, ſein Leben als eine Führung für jeden Menſchen, ſeinen 


101 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Namen als eine Bürgſchaft für die Vielen, ſeine Tat als eine 
Aufmunterung für die Verſuchten. Ein ſolcher Lehrer und 
Führer der Menſchheit iſt Hiob, deſſen Bedeutung keineswegs 
in dem liegt, was er geſagt hat, ſondern in dem, was er getan 
hat. Wohl hat er eine Ausſage hinterlaſſen, die durch ihre Kürze 
und Schönheit zum Sprichwort geworden iſt, bewahrt von Ge⸗ 
ſchlecht zu Geſchlecht, und keiner hat vermeſſen etwas hinzu⸗ 
gefügt oder etwas weggenommen; aber die Ausſage ſelbſt iſt 
nicht der Führer, und Hiobs Bedeutung liegt nicht darin, daß 
er ſie ſagte, ſondern darin, daß er nach ihr handelte. Das Wort 
ſelbſt iſt wohl ſchön und der Überlegung wert, aber wenn ein 
anderer es geſagt hätte, oder wenn Hiob ein anderer geweſen 
wäre, oder wenn er es bei einer anderen Gelegenheit geſagt 
hätte, ſo wäre auch das Wort ſelbſt ein anderes geworden, be⸗ 
deutungsvoll, wenn anders es dies war, als ausgeſagtes, aber 
nicht bedeutungsvoll dadurch, daß er handelte, indem er es aus⸗ 
ſagte, daß die Ausſage ſelbſt eine Tat war. Wenn Hiob ſein 
ganzes Leben angewendet hätte, um dieſes Wort einzuſchär fen, 
wenn er es als die Summe und Vollendung deſſen betrachtet 
hätte, was ein Menſch vom Leben lernen ſoll, wenn er es be⸗ 
ſtändig bloß von ſich weg gelehrt hätte, aber niemals ſelbſt 
es verſucht, niemals ſelbſt gehandelt, indem er es ausſagte, ſo 
wäre Hiob ein anderer, ſeine Bedeutung eine andere. Es würde 
Hiobs Name vergeſſen ſein, oder es würde doch gleichgültig 
ſein, ob man ihn wüßte, die Hauptſache wäre der Inhalt des 
Wortes, die Gedankenfülle, die in ihm läge. Wenn das Ge⸗ 


102 


Hiob 


ſchlecht das Wort angenommen hätte, jo wäre es dieſes, was 
das eine Geſchlecht dem andern übergäbe; während es jetzt da⸗ 
gegen Hiob ſelbſt iſt, der das Geſchlecht begleitet. Wenn das 
eine Geſchlecht ausgedient, ſein Werk vollbracht, ſeinen Streit 
ausgekämpft hat, ſo hat Hiob es begleitet; wenn das neue Ge⸗ 
ſchlecht mit ſeinen unüber ſchaubaren Reihen und jeder Einzelne 
in dieſen auf ſeinem Platze fertig ſteht, um die Wanderung 
zu beginnen, ſo iſt Hiob wieder zur Stelle, nimmt ſeinen Platz 
ein, welcher ein Außenpoſten der Menſchheit iſt. Sieht das Ge⸗ 
ſchlecht nur frohe Tage in glücklichen Zeiten, fo folgt Hiob ge⸗ 
treu mit, und wenn der Einzelne doch im Gedanken das Furcht⸗ 
bare erlebt, geängſtigt wird durch die Vorſtellung, was das 
Leben an Entſetzen und Not bergen kann, daß niemand weiß, 
wann die Stunde der Verzweiflung für ihn ſchlägt, ſo ſucht 
ſein bekümmerter Gedanke hin zu Hiob, ruht in ihm, beruhigt 
ſich durch ihn; denn er folgt getreulich mit und tröſtet wohl 
nicht ſo, als hätte er ein für allemal gelitten, was nie wieder 
erlitten werden ſollte, aber tröſtet wie der, der zeugt, daß das 
Furchtbare erlitten worden iſt, daß der Schrecken erlebt worden 
iſt, daß der Kampf der Verzweiflung gekämpft worden iſt, Gott 
zur Ehre, ihm zur Rettung, andern zu Nutz und Freude. In 
frohen Tagen, in glücklichen Zeiten geht Hiob an der Seite des 
Geſchlechts und ſichert ihm ſeine Freude, bekämpft den angſt⸗ 
vollen Traum, daß ein plötzlicher Schrecken einen Menſchen 
überfallen ſollte und Macht haben, ſeine Seele zu morden als 
ſeine gewiſſe Beute. Nur der Leichtſinnige könnte wünſchen, 


103 


Sören Kierkegaard Religidfe Reden 


daß Hiob nicht mit wäre, daß ſein ehrwürdiger Name ihn nicht 
daran erinnern ſollte, was er zu vergeſſen ſucht: daß es 
Schrecken gibt im Leben und Angſt; nur der Selbſtſüchtige 
könnte wünſchen, daß Hiob nicht da wäre, damit die Vor⸗ 
ſtellung von ſeinem Leiden mit ihrem ſtrengen Ernſt ſeine ge⸗ 
brechliche Freude nicht ſtören ſollte, ihn aufſchrecken aus ſeiner 
in Verhärtung und Verlorenheit berauſchten Sicherheit. In 
ſturmvollen Zeiten, wenn der Grund des Daſeins wankt, wenn 
der Augenblick bebt in angſtvoller Erwartung deſſen, was 
kommen ſoll, wenn jede Erklärung verſtummt beim Anblick des 
wilden Aufruhrs, wenn das Innerſte des Menſchen ſich windet 
in Verzweiflung und in der Seele Bitterkeit zum Himmel 
ſchreit, ſo geht Hiob noch zur Seite des Geſchlechts und bürgt 
dafür, daß ein Sieg iſt, bürgt dafür, daß, wenn auch der Ein⸗ 
zelne im Streite verliert, doch ein Gott iſt, der, wie Er jede 
Verſuchung menſchlich macht, ſelbſt wenn ein Menſch in der 
Verſuchung nicht beſtände, doch ihren Ausgang ſo machen wird, 
daß wir ihn ertragen können, ja, herrlicher als irgendeine 
menſchliche Erwartung. Nur der Trotzige könnte wünſchen, daß 
Hiob nicht da wäre, damit er ſeine Seele ganz von der letzten 
Liebe freimachen könnte, die doch noch im Klageſchrei der Ver⸗ | 
zweiflung zurückblieb, damit er klagen, ja, das Leben fo ver- 
fluchen könnte, daß nicht einmal ein Mitlaut von Glauben und 
Zuverſicht und Demut in ſeiner Rede wäre, damit er in ſeinem 
Trotz den Schrei erſticken könnte, daß es nicht einmal ſcheinen 
ſollte, als wäre da einer, den er herausforderte. Nur der Weich⸗ 


104 


Hıob 


ling könnte wünſchen, daß Hiob nicht da wäre; damit er je eher 
je lieber jeden Gedanken fahren laſſen, jede Bewegung in der 
widerwärtigſten Ohnmacht aufgeben, ſich ſelbſt in der elendeſten 
und erbärmlichſten Vergeſſenheit auslöſchen könnte. 

Das Wort, das, wenn es genannt wird, ſofort an Hiob er⸗ 
innert, das Wort, das, wenn Hiobs Name genannt wird, ſofort 
lebendig und in jedermanns Gedanken gegenwärtig wird, iſt 
ein einfältiges und ſimples Wort, verdeckt keine heimliche Weis⸗ 
heit in ſich, die von den Tiefſinnigen erforſcht werden müßte. 
Wenn das Kind dieſes Wort lernt, wenn es ihm anvertraut 
wird als eine Mitgift, von der es nicht faßt, wozu es ſie ge⸗ 
brauchen ſoll, ſo verſteht es das Wort, verſteht weſentlich das⸗ 
ſelbe dabei wie der Weiſeſte. Jedoch verſteht das Kind es nicht, 
oder beſſer: es verſteht Hiob nicht, denn was es nicht faßt, iſt 
all die Not und das Elend, in dem Hiob geprüft wurde. 
Davon kann das Kind nur eine dunkle Ahnung haben; und 
doch, wohl dem Kind, welches das Wort verſtand, und den Ein⸗ 
druck bekam von dem, was es nicht faßte, daß es das Furcht⸗ 
barſte von allem ſei, und, ehe Sorge und Widerwärtigkeit ſeinen 
Gedanken verſchlagen machen konnten, die überzeugende und 
kindlich lebendige Entſcheidung beſaß, daß es in Wahrheit das 
Furchtbarſte ſei. Wenn der Jüngling ſeinen Gedanken dieſem 
Worte zuwendet, ſo verſteht er es, und verſteht weſentlich das⸗ 
ſelbe dabei, wie das Kind und wie der Weiſeſte. Jedoch verſteht 
er es vielleicht nicht, oder beſſer: er verſteht nicht Hiob, woher 
all die Not und das Elend kommen ſollte, worin Hiob ge⸗ 


105 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


prüft ward; und doch, wohl dem Jüngling, der das Wort ver⸗ 
ſtand, und demütig unter das ſich beugte, was er nicht ver⸗ 
ſtand, ehe Trübſal ſeinen Gedanken eigenſinnig machte, als ent⸗ 
deckte er, was keiner zuvor gekannt hätte. Wenn der Altere 
das Wort überlegt, ſo verſteht er es und verſteht weſentlich 
dasſelbe dabei, wie das Kind und wie der Weiſeſte. Er verſteht 
auch die Not und den Kummer, in welchem Hiob geprüft ward, 
und doch verſteht er vielleicht nicht Hiob, denn er kann nicht 
verſtehen, wie Hiob imſtande war, es zu ſagen; und doch, wohl 
dem Manne, der das Wort verſtand und bewundernd feſthielt, 
was er nicht verſtand, ehe Kummer und Not ihn mißtrauiſch 
machten, auch gegen Hiob. Wenn der Geprüfte, der den guten 
Streit ſtritt, indem er des Wortes gedachte, es nennt, ſo ver⸗ 
ſteht er das Wort und verſteht weſentlich das ſelbe dabei, wie 
das Kind und wie der Weiſeſte, er verſteht Hiobs Elend, er 
verſteht, wie Hiob es ſagen konnte. — Er verſteht das Wort, 
er erklärt es, wenn er auch nie darüber redete, herrlicher als 
der, der ein ganzes Leben brauchte, um dieſes Wort allein zu 
erklären. 

Nur der Verſuchte, der das Wort prüfte, indem er ſelbſt 
geprüft ward, nur er erklärt das Wort richtig, nur einen ſolchen 
Schüler, nur einen ſolchen Erklärer wünſcht Hiob, nur er lernt 
von ihm, was zu lernen iſt, das Schönſte und das Seligſte, im 
Verhältnis zu dem alle andere Kunſt oder Weisheit ſehr un⸗ 
weſentlich iſt. Darum nennen wir Hiob recht eigentlich einen 
Lehrer der Menſchheit, nicht einzelner Menſchen, weil er vor 


106 


Hiob 


jeden ſich ſtellt als ein Vorbild, jedem mit feinem herrlichen 
Beiſpiel winkt, jeden in ſeinen ſchönen Worten anruft. Wäh⸗ 
rend wohl zuweilen der Einfältigere, der weniger Begabte, oder 
der von Zeit und Umſtänden minder Begünſtigte, wenn nicht 
in Neid, ſo doch in bekümmertem Mißmut Gabe und Gelegen⸗ 
heit ſich wünſchte, um faſſen und ſich darein vertiefen zu können, 
was die Weiſen und Gelehrten zu verſchiedenen Zeiten ergründet 
haben, eine Begierde in ſeiner Seele fühlte, ſelbſt auch andere 
belehren zu können und nicht immer bloß ſelbſt die Belehrung 
entgegenzunehmen, ſo verſucht Hiob ihn nicht alſo. Was ſollte 
auch die menſchliche Weisheit hier helfen; ſollte ſie vielleicht 
ſuchen, das verſtändlicher zu machen, was der Einfältigſte und 
das Kind leicht verſtanden und ebenſogut verſtanden wie der 
Weiſeſte? Was ſollte die Kunſt der Beredſamkeit und die Macht 
des Wortes hier helfen; ſollten ſie imſtande ſein, in dem Reden⸗ 
den oder in irgendeinem andern Menſchen hervorzubringen, was 
der Einfältigſte ebenſogut vermag wie der Weiſeſte — die Tat! 
Sollte nicht eher die menſchliche Weisheit alles ſchwieriger 
machen, ſollte die Kunſt der Überredung, die doch in all ihrer 
Herrlichkeit niemals auf einmal das Verſchiedene auszuſagen 
vermag, das auf einmal in eines Menſchen Herzen wohnt, nicht 
eher die Kraft der Handlung betäuben und ſie einſchlummern 
laſſen in weitläufiger Überlegung! Aber ob dieſes nun auch 
feſtſteht und als Folge davon der Einzelne es zu vermeiden 
ſtrebt, mit ſeiner Rede ſtörend zwiſchen den Streitenden und 
das ſchöne Vorbild einzudringen, das jedem Menſchen gleich 


107 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


nahe iſt, daß er nicht, indem er ihm die Weisheit mehrt, auch 
den Gram mehre, und darauf achtet, daß er nicht ſich ſelbſt in 
prächtigen Worten menſchlicher Überredung fange, welche un⸗ 
fruchtbar find, fo folgt daraus doch keineswegs, daß die Über- 
legung und die Entwicklung nicht ihre Bedeutung haben ſollten. 
Wenn der Überlegende das Wort vorher nicht kennte, ſo wäre 
es ihm ja allzeit von Nutzen, daß er es kennen lernte; wenn er 
das Wort wohl kennte, aber in ſeinem Leben keinen Anlaß ge⸗ 
habt hätte, es zu prüfen, ſo wäre es ihm ja von Nutzen, wenn 
er verſtehen lernte, was er einmal vielleicht brauchen ſollte; 
wenn er das Wort geprüft, aber es betrogen hätte, wenn er 
auch meinte, daß es das Wort war, das ihn betrogen hatte, 
ſo wäre es ja von Nutzen, wenn er es noch einmal überlegte, 
ehe er in der Unruhe des Streites und in der Eile des Kampfes 
wieder die Flucht von dem Worte weg ergriff. Vielleicht könnte 
die Überlegung einmal ihre Bedeutung für ihn bekommen, es 
könnte vielleicht geſchehen, daß die Überlegung lebendig und 
gegenwärtig in ſeiner Seele bliebe, gerade wenn er ſie brauchte, 
um die verwirrten Gedanken des unruhigen Herzens zu durch⸗ 
dringen, es könnte vielleicht geſchehen, daß, was die Über⸗ 
legung ſtückweiſe verſtand, ſich ſammelte, auf einmal wieder⸗ 
geboren im Augenblick der Entſcheidung; daß, was die Über⸗ 
legung in Vergänglichkeit ſäte, auferſtand am Tage der Not 
im unvergänglichen Leben der Tat. 

Der Herr hat's gegeben, der Herr hat's ge⸗ 
nommen, der Name des Herrn fei gelobt! 


108 


Hiob 


In einem Lande gegen Morgen wohnte ein Mann, ſein 
Name war Hiob, er beſaß geſegnete Länder, zahlloſe Herden 
und fruchtbare Felder, „ſeine Rede hat die Gefallenen aufge⸗ 
richtet, und die bebenden Knie hat er gekräftigt“, in ſeinem Zelt 
war ſelig zu wohnen wie in des Himmels Schoß, und in dieſem 
Zelt wohnte er mit ſieben Söhnen und drei Töchtern, und bei 
ihm in dieſem Zelt wohnte „Gottes Geheimnis“. Und Hiob 
war ein alter Mann ; feine Freude im Leben war die Freude 
der Kinder, über die er wachte, daß ſie ihnen nicht zum Ver⸗ 
derben gereichen ſollte. Als er eines Tages allein an ſeinem 
Herde ſaß, während ſeine Kinder zum Feſt in des erſtgeborenen 
Bruders Hauſe verſammelt waren, als er Brandopfer geopfert 
hatte für jedes beſonders, da beſchickte er auch ſein Herz zur 
Freude im Gedanken an die der Kinder. Wie er daſaß in der 
Freude ſtiller Sicherheit, da kam ein Bote, und ehe der aus⸗ 
geredet hatte, kam ein anderer Bote, und während dieſer noch 
redete, kam der dritte Bote, aber der vierte kam von ſeinen 
Söhnen und Töchtern, daß das Haus eingeſtürzt ſei und ſie 
alle begraben habe. „Da ſtand Hiob auf und zerriß ſein Kleid, 
und raufte ſein Haupt, und fiel auf die Erde und betete an.“ 
Sein Leid brauchte nicht viele Worte, ja, er ſagte auch nicht ein 
einziges, nur ſeine Geſtalt zeugte, daß ſein Herz gebrochen ſei. 
Könnte man es anders wünſchen, oder hatte der, der ſeine Ehre 
dareinſetzt, nicht trauern zu können am Tage des Leides, nicht 
ſeine Scham darin gehabt, auch nicht ſich freuen zu können am 
Tage der Freude? Oder iſt der Anblick einer ſolchen Unveränder⸗ 


109 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


lichkeit nicht unerfreulich und unerquicklich, ja empörend, wenn 
es auch erſchütternd iſt, den ehrwürdigen Greis, der eben noch 
in der Freude des Herrn mit ſeinem väterlichen Antlitz ſaß, 
nun hingeworfen auf der Erde mit zerriſſenem Kleid und zer⸗ 
rauftem Haupte zu ſehen! Als er nun ſo ohne Verzweiflung 
mit menſchlichem Gefühl dem Leide ſich hingegeben hatte, war 
er hurtig zu richten zwiſchen Gott und ſich, und die Worte ſeines 
Urteils ſind dieſe: „Ich bin nacket von meiner Mutter Leibe 
kommen, nacket werde ich wieder dahinfahren.“ Hiermit war 
der Streit entſchieden, und jede Forderung, die vom Herrn 
etwas verlangen wollte, was er nicht geben will, oder etwas 
zu behalten begehrt, als wäre es nicht gegeben, war in ſeiner 
Seele zum Schweigen gebracht. Dann folgt das Bekenntnis 
dieſes Mannes, den nicht das Leid allein zur Erde geworfen 
hatte, ſondern auch die Anbetung: „Der Herr hat's gegeben, 
der Herr hat's genommen, der Name des Herrn ſei ge- 
lobt!“ — 

Was hier zuerſt die Überlegung anhält, iſt, daß Hiob ſagte: 
„Der Herr hat's gegeben.“ Hat dieſes Wort mit dem Anlaß 
ſelbſt denn etwas zu tun; enthält es nicht etwas anderes, als 
was in der Begebenheit ſelbſt lag? Wenn ein Mann in einem 
Augenblick alles verlöre, was ihm teuer war, und das Teuerſte 
von allem verlöre, ſo wird der Verluſt vielleicht ihn ſo über⸗ 
wältigen, daß er nicht einmal damit ſich tröſtet, ihn auszuſagen, 
ob er auch in ſeinem Innerſten mit Gott ſich bewußt bleibt, 
daß er alles verloren hat. Oder er wird den Verluſt mit ſeinem 


110 


Hiob 


zermalmenden Gewicht auf ſeiner Seele nicht ruhen laſſen, ſon⸗ 
dern er wird ihn gleichſam von ſich wälzen und in des Herzens 
Bewegung ſagen: „Der Herr hat's genommen“. Und auch dies 
iſt wohl des Preiſes und der Nachahmung wert, ſo dem Herrn 
in Schweigen und Demut zu Füßen zu fallen, auch ein Solcher 
rettete ſeine Seele im Streit, wenn er auch alle Freude verlor. 
Aber Hiob! In dem Augenblick, wo der Herr alles nahm, ſagt 
er nicht zuerſt: „Der Herr hat's genommen“, ſondern er ſagte 
zuerſt: „Der Herr hat's gegeben“. Das Wort iſt kurz, aber 
bezeichnet vollſtändig in ſeiner Kürze, was es bezeichnen ſoll, 
daß Hiobs Seele nicht zermalmt ward in der ſtummen Unter⸗ 
werfung des Leides, ſondern daß ſein Herz zuerſt ſich ausweitete 
in Dankbarkeit, daß der Verluſt des Ganzen zuerſt ihn dank⸗ 
bar machte gegen den Herrn, daß Er ihm all den Segen ge⸗ 
geben hatte, den Er nun von ihm nahm. Es ging ihm nicht, 
wie Joſeph vorausſagt, daß in den ſieben teueren Jahren all 
die Fülle, die in den ſieben fruchtbaren war, wird ganz ver⸗ 
geſſen werden. Seine Dankbarkeit war wohl eine andere, als 
in jener nun ſchon gleichſam längſt entſchwundenen Zeit, da er 
alle gute und alle vollkommene Gabe aus Gottes Hand mit 
Dankbarkeit annahm; aber doch war ſeine Dankbarkeit auf⸗ 
richtig, wie ſeine Vorſtellung von Gottes Güte es war, die 
nun in ſeiner Seele lebendig ward. Nun erinnerte er ſich an 
alles, was der Herr gegeben hatte, an einzelnes vielleicht ſogar 
mit größerer Dankbarkeit, als da er es empfing; es war nicht 
weniger ſchön geworden, weil es weggenommen war, auch nicht 


111 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſchöner, ſondern noch ſchön wie einſt, ſchön, weil der Herr es 
gegeben, und was ihm nun ſchöner ſcheinen konnte, war nicht 
die Gabe, ſondern Gottes Güte. Er gedachte des reichen Wohl⸗ 
ſtandes, ſein Auge ruhte noch einmal auf den fruchtbaren Fel⸗ 
dern, und folgte den zahlloſen Herden, er erinnerte ſich, welche 
Freude es iſt, ſieben Söhne und drei Töchter zu haben, nun 
brauchte es kein Opfer außer das der Dankbarkeit dafür, daß 
er ſie gehabt hatte. Er gedachte derer, die ſeiner vielleicht noch 
mit Dankbarkeit ſich erinnerten, der Vielen, die er unterwieſen 
hatte, deren laſſe Hände er geſtärket, deren bebende Knie er 
gekräftiget hatte. Er gedachte der Tage ſeiner Herrlichkeit, da 
er mächtig und angeſehen im Volke war, da die Jungen ſich 
ver ſteckten aus Ehrfurcht vor ihm, da die Alten vor ihm auf⸗ 
ſtanden und ſtehenblieben. Er erinnerte ſich mit Dankbarkeit, 
daß ſein Schritt nicht ſchwankte auf dem Wege der Gerechtig⸗ 
keit, daß er den Armen gerettet hatte, der klagte, und die Vater⸗ 
loſen, die keine Hilfe hatten, und noch in dieſem Augenblick 
war deshalb „des Verlaſſenen Segen über ihm“, wie vor⸗ 
dem. Der Herr hat's gegeben, iſt ein kurzes Wort, doch für 
Hiob bezeichnete es ſo viel; denn Hiobs Gedächtnis war nicht 
ſo kurz, und ſeine Dankbarkeit nicht vergeßlich. Da ruhte die 
Dankbarkeit in ſeiner Seele mit ihrer ſtillen Wehmut; er nahm 
einen milden und freundlichen Abſchied von allem zuſammen, 
und in dieſem Abſchied verſchwand das alles wie eine ſchöne 
Erinnerung, ja es ſchien, als wäre es nicht der Herr, der es 
nahm, ſondern Hiob, der es Ihm zurückgab. Indem deshalb 


112 


Hio b 


Hiob geſagt hatte, der Herr hat's gegeben, war ſein Sinn 
wohl vorbereitet, Gott auch mit dem nächſten Wort zu ge⸗ 
fallen: „Der Herr hat's genommen“. 

Vielleicht war da der, welcher am Tage des Leides auch 
ſich erinnerte, daß er frohe Tage geſehen hatte; da ward ſeine 
Seele noch ungeduldiger. „Hätte er nie die Freude gekannt, 
würde der Schmerz ihn nie überwältigt haben, denn was iſt 
doch Schmerz anderes als eine Vorſtellung, die der nicht hat, 
der nichts anderes kennt, aber nun hatte die Freude gerade ihn 
gebildet und entwickelt, den Schmerz zu fühlen.“ Da blieb zu 
ſeinem eigenen Verderben die Freude bei ihm; ſie war niemals 
verloren, ſondern nur vermißt, und verſuchte ihn im Mangel 
mehr als je. Was ſeiner Augen Luſt geweſen war, das begehrte 
das Auge wieder, und die Undankbarkeit in ihm ſtrafte, indem 
ſie es ſchöner vorgaukelte, als es je geweſen war; woran ſeine 
Seele ſich erfreut hatte, danach dürſtete er nun, und die Un⸗ 
dankbarkeit ſtrafte, indem ſie es ihm köſtlicher ausmalte, als 
es je geweſen war; was er einmal vermocht hatte, das wollte 
er nun wieder vermögen, und die Undankbarkeit ſtrafte mit 
Traumbildern, die niemals Wahrheit gehabt hatten. Da ver⸗ 
dammte er ſeine Seele, lebendig ſich auszuhungern in des 
Mangels nie geſättigtem Sehnen. — Oder es erwachte eine 
verzehrende Leidenſchaft in ſeiner Seele, daß er nicht einmal 
die frohen Tage auf die rechte Weiſe genoſſen, noch alle Süße 
aus ihrer wollüſtigen Fülle geſaugt hätte. Wenn ihm nur eine 
kleine Stunde noch vergönnt würde, wenn er feine Herrlich⸗ 


a 113 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


keit bloß eine kurze Zeit wieder zurückbekäme, daß er an der 
Freude ſich ſättigen und dadurch Gleichgültigkeit gegen den 
Schmerz gewinnen könnte. So gab er ſeine Seele einer brennen⸗ 
den Unruhe hin, er wollte nicht ſich ſelbſt geſtehen, ob der Ge⸗ 
nuß, den er begehrte, eines Menſchen würdig wäre, ob er nicht 
eher Gott dafür danken müßte, daß ſeine Seele nicht ſo wild 
war in der Zeit der Freude, wie ſie jetzt es geworden war; er 
wollte nicht erſchrecken bei dem Gedanken, daß ſeine Begierde 
Gelegenheit zur Verlorenheit war; er wollte nicht darüber ſich 
bekümmern, daß elender als all ſein Elend der Wurm der Be⸗ 
gierde in ſeiner Seele war, der nicht ſterben wollte. — Viel⸗ 
leicht war da der, welcher im Augenblick des Verluſtes auch 
ſich erinnerte, was er beſeſſen hatte, aber ſich vermaß, den Ver⸗ 
luſt verhindern zu wollen, indem er ihn ſich verſtändlich machte. 
War es auch verloren, ſein trotziger Wille ſollte doch vermögen, 
es bei ſich zu behalten, als wäre es nicht verloren. Er wollte 
nicht ſtreben, den Verluſt zu tragen, ſondern er wählte, ſeine 
Kraft in einem ohnmächtigen Trotz zu verſpielen, ſich ſelbſt zu 
verlieren in einem wahnwitzigen Beſitz des Verlorenen. Oder 
er entfloh im ſelben Augenblick feige jeder demütigen Be⸗ 
ſtrebung, im Verſtändnis mit dem Verluſt zu bleiben. So 
öffnete die Vergeſſenheit ihren Abgrund nicht ſo ſehr für den 
Verluſt, als für ihn, und er entging nicht ſo ſehr dem Verluſt 
in der Vergeſſenheit, als er ſelbſt ſich wegwarf. Oder er ſuchte 
lügneriſch, das Gute zu betrügen, das ihm einmal geſchenkt 
worden war, als wäre es niemals ſchön geweſen, hätte ihn 


114 


Hiob 


niemals erfreut, er meinte ſeine Seele zu ſtärken durch elenden 
Selbſtbetrug, als wäre da Kraft in der Unwahrheit. — Oder 
ſeine Seele ward ganz gedankenlos, und er überzeugte ſich, daß 
ſein Leben nicht ſo ſchwer ſei, wie er es ſich einbildete, daß 
ſein Schrecken nicht ſei, wie er beſchrieben wird, nicht ſo ſchwer 
zu tragen ſei, wenn man, wohl zu merken, wie er es tat, es 
nicht ſo ſchrecklich fand, ſo zu werden. Ja, wer könnte fertig 
werden, wenn er davon reden wollte, was oft genug geſchehen 
iſt, und wohl oft genug in der Welt ſich wiederholen wird; 
würde nicht weit eher er müde werden, als die Leidenſchaft, mit 
neuer und neuer Erfindſamkeit das Erklärte und das Ver⸗ 
ſtandene zu neuer Täuſchung zu verwandeln, in der ſie ſich ſelbſt 
betrog! Laſſet uns deshalb lieber zu Hiob zurückkehren! Am 
Tage des Leides, als alles verloren war, dankte er zuerſt Gott, 
der es gab, betrog weder Gott noch ſich ſelber, und während 
alles erſchüttert und umgeſtürzt war, blieb er dennoch, was 
er von Anfang geweſen war, „ſchlecht und recht, gottes fürchtig“. 
Er bekannte, daß des Herrn Segen gnädig zu ihm geweſen war, 
er dankte dafür, darum blieb er nun nicht bei ihm zurück wie 
eine nagende Erinnerung. Er bekannte, daß der Herr ſein Tun 
reich und über alle Maßen geſegnet hatte, er dankte, darum blieb 
die Erinnerung nicht wie eine verzehrende Unruhe zurück. Er 
verbarg nicht vor ſich ſelbſt, daß alles von ihm genommen war, 
darum blieb der Herr, der es nahm, zurück in ſeiner aufrichtigen 
Seele. Er floh nicht den Gedanken, daß es verloren war, darum 
blieb ſeine Seele ſtille, bis des Herrn Erklärung ihn wieder 


115 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


beſuchte, und ſeinen Sinn wie das gute Erdreich in Geduld wohl 
beſtellt fand. 


„Der Herr hat's genommen.“ Sagte hier Hiob nicht 
etwas anderes, als was Wahrheit war, brauchte er nicht einen 
entfernteren Ausdruck für etwas, das mit einem näheren zu be⸗ 
zeichnen war? Das Wort iſt kurz und bezeichnet den Verluſt 
des Ganzen, es fällt uns natürlich, jetzt es ihm nachzuſagen, da 
die Ausſage ſelbſt ja ein heiliges Sprichwort geworden iſt; aber 
fällt es uns deshalb allzeit ebenſo natürlich, Hiobs Gedanken 
damit zu verbinden? Oder waren es nicht die aus Saba, die 
ſeine friedlichen Herden überfielen und ſeine Knechte nieder⸗ 
hieben; redete der Bote, der die Nachricht brachte, von etwas 
anderem? Oder war es nicht der Blitz, der die Schafe ver⸗ 
zehrte und ihre Hirten, redete der Bote, der die Nachricht 
brachte, von etwas anderem, wenn er ihn auch das Feuer Gottes 
nannte? War es nicht ein großer Wind von der Wüſte her, 
der das Haus umſtieß und ſeine Kinder begrub, nannte der 
Bote einen andern Täter, oder nannte er einen, der den Sturm 
ausgeſandt hätte? Dennoch ſagte Hiob: „Der Herr hat's ge⸗ 
nommen“, und im ſelben Augenblick, wo er die Botſchaft emp⸗ 
fing, verſtand er, daß der Herr es war, der alles genommen 
hatte. Wer klärte Hiob hierüber auf, oder war dies ein Zeichen 
ſeiner Gottesfurcht, daß er ſo alles auf den Herrn wälzte, oder 
wer berechtigte ihn, es zu tun, und ſind wir nicht frommer, wir, 
die wir uns zuweilen lange bedenken, ſo zu reden? 


116 


Hiob 


Da war vielleicht der in der Welt, welcher alles verlor. Und 
er ſetzte ſich hin, zu überlegen, wie es doch zugegangen ſei. Aber 
das Ganze blieb ihm unerklärlich und dunkel. Seine Freude ver⸗ 
ſchwand, als wäre ſie ein Traum, und die Bekümmerung blieb 
bei ihm wie ein Traum, aber wie er aus der Herrlichkeit jener 
in das Elend dieſer geworfen worden war, das bekam er niemals 
zu wiſſen; es war nicht der Herr, der es genommen hatte, es 
war ein Zufall. Oder er überzeugte ſich, daß es der Menſchen 
Trug und Hinterliſt war, oder ihre offenbare Gewalt, die es 
ihm entriſſen hatte, wie die aus Saba Hiobs Herden und 
ihre Wächter niedergehauen hatten. Da empörte ſich ſeine 
Seele gegen die Menſchen, er meinte, Gott Recht wider fahren 
zu laſſen, indem er es Ihm nicht vorwarf. Er verſtand ganz 
wohl, wie es geſchehen war, und die nähere Erklärung, die er 
beſaß, war, daß dieſe Menſchen es getan hatten, und die ent⸗ 
ferntere Erklärung war, daß die Menſchen böſe und ihre Herzen 
verderbt ſeien. Er verſtand, daß die Menſchen ſeine Mächſten 
ſind, um ihm zu ſchaden, vielleicht hätte er es auf eine ähnliche 
Weiſe verſtanden, wenn ſie ihm genützt hätten; aber daß der 
Herr, der fern im Himmel wohnt, ihm näher ſein ſollte als 
der Menſch, der ihm am nächſten war, ob dieſer Menſch ihm 
nun Gutes oder Böſes tat, von dieſer Vorſtellung war ſein 
Gedanke weit entfernt. Oder er verſtand ganz wohl, wie es 
zugegangen war, und wußte es mit der Beredſamkeit des Ent⸗ 
ſetzens zu beſchreiben. Denn wie ſollte er nicht verſtehen, daß, 
wenn das Meer in feiner Wildheit raſt, wenn es aufſteht gegen 


117 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


den Himmel, die Menſchen und ihre ſchwachen Hütten hinge⸗ 
worfen werden wie in einem Spiel, daß, wenn der Sturm in 
ſeinem Raſen vorwärts ſtürzt, menſchliche Arbeit nur ein 
Kinderſpiel iſt, daß, wenn die Erde wankt in der Elemente 
Angſt, und wenn die Berge ſeufzen, die Menſchen und ihre 
herrlichen Werke wie ein Nichts im Abgrund verſinken. Und 
dieſe Erklärung genügte ihm, vor allem dazu, ſeine Seele 
gleichgültig gegen alles zu machen; denn wahr iſt es, daß, was 
auf Sand gebaut iſt, umzuſtürzen nicht einmal ein Sturm 
nötig iſt, aber war es deshalb auch wahr, daß ein Menſch nicht 
anderswo bauen und wohnen und ſeine Seele retten kann! Oder 
er verſtand, daß er ſelbſt es verſchuldet hatte, daß er nicht klug 
geweſen war; hätte er zur Zeit richtig gerechnet, wäre es nicht 
geſchehen. Und dieſe Erklärung erklärte alles, nachdem ſie 
zuerſt erklärt hatte, daß er ſich ſelbſt verpfuſcht und es ſich 
unmöglich gemacht hatte, etwas vom Leben zu lernen, und 
namentlich unmöglich, etwas von Gott zu lernen. 

Doch wer könnte fertig werden, wenn er erzählen wollte, was 
geſchehen iſt, und was wohl oft genug im Leben ſich wieder⸗ 
holen wird? Würde er nicht eher müde werden, zu reden, als 
der ſinnliche Menſch, ſich ſelbſt zu betören in ſcheinbaren und 
täuſchenden und betrügeriſchen Erklärungen? Laſſet uns deshalb 
uns abkehren von dem, wo nichts zu lernen iſt, außer ſoweit 
wir nicht im voraus ſchon wußten, daß wir dieſer Welt Unter⸗ 
richt verſchmähen müßten, und zurückkehren zu ihm, von dem 
die Wahrheit zu lernen iſt, zu Hiob, und zu ſeinem frommen 


118 


Hiob 


Wort: „Der Herr hat's genommen“. Hiob führte alles zu Gott 
hin; er hielt ſeine Seele nicht auf und löſchte den Geiſt nicht 
aus mit Überlegungen und Erklärungen, die doch nur Zweifel 
gebären und nähren, wenn auch der, welcher in ihnen ruht, es 
nicht merkt. Im ſelben Augenblick, wo es von ihm genommen 
war, wußte er, daß es der Herr war, der es genommen hatte, 
und darum blieb er im Verluſt im Verſtändnis mit dem Herrn, 
bewahrte im Verluſt die Vertraulichkeit des Herrn; er ſah den 
| Herrn und darum ſah er nicht die Verzweiflung. Oder ſieht 
der allein Gottes Hand, der ſieht, daß Er gibt, und nicht auch 
der, der ſieht, daß Er nimmt? Oder ſieht der allein Gott, der 
Ihn Sein Antlitz zu ſich wenden ſieht, und ſieht der nicht auch 
Gott, der Ihn ſich den Rücken kehren ſieht, wie Moſes be⸗ 
ſtändig ja nur des Herrn Rücken ſah? Aber der, welcher Gott 
ſieht, hat die Welt überwunden, und darum hat Hiob in ſeinem 
frommen Wort die Welt überwunden, war in ſeinem frommen 
Wort größer und ſtärker und mächtiger als die ganze Welt, die 
hier wohl ihn nicht in Verſuchung führen wollte, ſondern ihn 
überwinden mit ihrer Macht, ihn dazu bringen, niederzuſinken 
vor ihrer grenzenloſen Gewalt. Wie ſind doch des Sturmes 
wilde Boten ſo ſchwach, ja faſt kindiſch, wenn ſie einen Men⸗ 
ſchen zwingen wollen, vor ihnen zu zittern, indem ſie ihm alles 
entreißen, aber er antwortet ihnen: „Du biſt es nicht, der es tut, 
es iſt der Herr, der nimmt!“ Wie iſt der Arm des Gewalttätigen 
ſo ohnmächtig, des Schlauen Klugheit ſo erbärmlich, wie iſt 
alle menſchliche Macht nur faſt ein Gegenſtand des Mitleids, 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


wenn fie den Schwachen in verzweifelte Unterwerfung ſtürzen 
wollen, indem ſie ihm alles entreißen, und er dann glaubend 
ſagt: „Du biſt es nicht, du vermagſt nichts, es iſt der Herr, der 
es nimmt.“ 


„Des Herrn Name ſei gelobt!“ Alſo überwand Hiob 
nicht bloß die Welt, ſondern er tat, was Paulus ſeiner kämp⸗ 
fenden Gemeinde wünſcht, er ſtand feſt, nachdem er alles 
überwunden hatte. Ach, da war vielleicht der in der Welt, 
welcher alles überwand, aber in dem Augenblick fiel, wo er ge⸗ 
ſiegt hatte. „Des Herrn Name ſei gelobt!“ Alſo blieb der Herr 
derſelbe, und ſollte Er ſo nicht geprieſen werden, wie allzeit? 
Oder hatte der Herr wirklich ſich verändert? Oder blieb der 
Herr nicht in Wahrheit derſelbe, wie Hiob es blieb? Des Herrn 
Name ſei gelobt! Alſo nahm der Herr nicht alles, denn die Lob⸗ 
preiſung nahm Er nicht von ihm, und den Frieden im Herzen, 
den Freimut im Glauben, von dem er ausging, nahm Er ihm 
nicht weg, ſondern des Herrn Vertraulichkeit war noch bei ihm 
wie vordem, vielleicht innerlicher als vordem; denn nun gab es 
ja nichts, das auf irgendeine Weiſe ſeinen Gedanken von ihm 
wegziehen konnte. Der Herr nahm es alles, da ſammelte Hiob 
gleichſam alle ſeine Sorge und „warf ſie auf den Herrn“, und 
da nahm Er auch die von ihm, und nur die Lobpreiſung blieb 
zurück, und in ihr des Herzens unvergängliche Freude. Denn 
wohl iſt Hiobs Haus ein Sorgenhaus, wenn je ein Haus das 
war, aber wo dieſes Wort ertönt: „Des Herrn Name ſei ge⸗ 


120 


Hiob 


lobt“, hat doch die Freude auch ihr Heim; und wohl ſteht Hiob 
vor uns mit des Leides ausdrücklichem Bild in ſeinem Antlitz 
und in ſeiner Geſtalt, aber der, welcher dieſes Wort ſagt, gibt 
doch auch der Freude Zeugnis, wie Hiob es tut, wenn ſein Zeug⸗ 
nis auch nicht an den Frohen ſich wendet, ſondern an den Be⸗ 
kümmerten, und redet noch verſtändlich zu den Vielen, die Ohren 
haben zu hören. Denn das Ohr des Bekümmerten iſt auf eigene 
Weiſe gebildet, und wie das Ohr des Liebenden wohl viele 
Stimmen hört, aber eigentlich doch nur eine, die nämlich, die 
geliebt iſt, ſo hört wohl auch das Ohr des Bekümmerten viele 
Stimmen, aber ſie fahren vorbei und dringen nicht ein in ſein 
Herz. Wie Glaube und Hoffnung ohne Liebe doch nur ein 
tönend Erz und eine klingende Schelle ſind, ſo iſt alle die 
Freude, die in der Welt verkündigt wird, in welcher das Leid 
nicht mitgehört wird, nur tönend Erz und klingende Schelle, 
die das Ohr kitzelt, der Seele aber eine Widerwärtigkeit iſt. 
Aber dieſe Stimme des Troſtes, dieſe Stimme, die in Schmerz 
bebt und doch Freude verkündet, ſie hört das Ohr des Be⸗ 
kümmerten, ſie birgt ſein Herz, ſie ſtärkt und leitet ihn, die 
Freude ſelbſt in der Tiefe des Leides zu finden. 


Wir haben von Hiob geredet und ihn zu verſtehen geſucht 
in ſeinem frommen Wort, ohne daß deshalb die Rede einem 
ſich aufdrängen wollte; aber ſollte ſie deshalb ganz ohne Be⸗ 
deutung oder ohne Anwendung ſein, und niemanden etwas an⸗ 
gehen? Wenn du ſelbſt verſucht würdeſt wie Hiob und wie er 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


die Prüfung beſtändeſt, ſo paßte ſie ja gerade auf dich, wenn 
anders wir richtig von Hiob geredet haben. Wenn du bis jetzt 
im Leben nicht verſucht worden warſt, ſo paßt ſie ja für dich. 
Denkſt du vielleicht, daß dieſes Wort nur bei einer ſolchen 
außerordentlichen Begebenheit wie der, in die Hiob geſtellt war, 
Anwendung findet, iſt es vielleicht deine Erwartung, daß, wenn 
eine ſolche dich träfe, der Schrecken ſelbſt dir dieſe Stärke geben, 
in dir dieſen demütigen Mut entwickeln würde? Hatte nicht 
Hiob ein Weib, und was leſen wir von ihr? Vielleicht meinſt 
du, daß der Schrecken ſelbſt nicht dieſe Macht über einen Men⸗ 
ſchen erlangen kann, wie die tägliche Knechtſchaft in weit ge⸗ 
ringeren Widerwärtigkeiten. So ſieh du denn zu, daß du nicht 
der Knecht einer Drangſal wirſt, ebenſowenig wie der eines 
Menſchen, und lerne von Hiob vor allem, aufrichtig gegen dich 
zu ſein, daß du dich nicht betrügſt mit eingebildeter Kraft, mit 
welcher du eingebildete Siege gewinnſt in eingebildetem 
Streit. — Vielleicht ſagſt du, wenn der Herr es doch von mir 
genommen hätte, aber mir ward nichts gegeben; vielleicht meinſt 
du, daß dieſes wohl keineswegs ſo furchtbar iſt, wie Hiobs Leiden, 
aber daß dieſes Wort zehrender ſei, und alſo doch ein ſchwererer 
Streit. Wir wollen nicht mit dir ſtreiten; denn ſelbſt wenn dein 
Streit es wäre, wäre doch der Streit darüber unnütz und eine 
Steigerung der Schwierigkeit. Aber darin biſt du ja doch einig 
mit uns, daß du von Hiob lernen kannſt, und wenn du gegen 
dich ſelbſt redlich biſt und die Menſchen liebſt, kannſt du nicht 
wünſchen, Hiob fahren zu laſſen, um dich hinauszuwagen in 


122 


Hi o b 


bisher ungekannte Not und uns andere in Unruhe zu halten, 
bis wir aus deinem Zeugnis lernen, daß auch in dieſer Schwie- 
rigkeit Sieg möglich iſt. So lerne du denn von Hiob, zu ſagen: 
„Des Herrn Mame ſei gelobt“, das paßt ja für dich, wenn das 
Vorhergehende auch weniger paßte. — Oder meinſt du viel⸗ 
leicht, daß ſolches dir nicht geſchehen könnte? Biſt du ein Weiſer 
oder ein Verſtändiger, und dies iſt dein Troſt? Hiob war der 
Lehrer der Vielen. Biſt du jung, und die Jugend deine Sicher— 
heit? Hiob war auch jung geweſen. Biſt du alt, dem Grabe 
nahe? Hiob war ein Greis, als das Leid ihn einholte. Biſt du 
mächtig, iſt dies der Beweis deiner Befreiung? Hiob war an⸗ 
geſehen im Volk. Iſt Reichtum deine Sicherheit? Hiob beſaß 
den Segen der Länder. Sind Freunde deine Bürgen? Hiob 
war von allen geliebt. Vertröſteſt du dich auf Gott? Hiob war 
des Herrn Vertrauter. Haſt du dieſe Gedanken wohl überlegt, 
oder fliehſt du ſie nicht eher, daß ſie dir nicht ein Geſtändnis 
abzwingen ſollen, das du, jetzt vielleicht, eine ſchwermütige 
Stimmung nennſt. Und doch iſt da kein Verſteck in der weiten 
Welt gefunden, wo der Kummer dich nicht finden wird, und 
doch hat nie dieſer Menſch gelebt, der mehr zu ſagen vermöchte 
als du vermagſt, daß du nicht weißt, wann das Leid dein Haus 
beſuchen ſoll. So ſei du ernſt gegen dich ſelbſt, hefte dein Auge 
auf Hiob; wenn er dich auch erſchreckt, das iſt es ja nicht, was 
er will, wenn du ſelbſt es nicht willſt. Du könnteſt ja doch 
nicht wünſchen, wenn du ausſchauſt über dein Leben und dir es 
abgeſchloſſen denkſt, dieſes Bekenntnis abgeben zu müſſen: „Ich 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


war der Glückliche, der nicht war wie andere Menſchen, der 
nichts erlitten hat in der Welt, der jeden Tag für ſich ſelber 
ſorgen oder beſſer, nur neue Freuden bringen ließ.“ Ein ſolches 
Bekenntnis, ſelbſt wenn es wahr wäre, würdeſt du dir doch 
nie wünſchen, ja, es würde deine eigene Beſchämung enthalten; 
denn wenn du auch geſchont worden wäreſt, wie kein anderer, 
du würdeſt doch ſagen: „Wohl ward ich ſelbſt nicht verſucht, aber 
doch ward mein Sinn oft ernſt beim Gedanken an Hiob und 
bei der Vorſtellung, daß kein Menſch Zeit noch Stunde weiß, 


wo die Botſchaften zu ihm kommen ſollen, die eine furchtbarer 
als die andere.“ 


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Aus Anlaß einer Beichte 


Vater im Himmel! Wohl wiſſen wir, daß das Suchen allzeit 
ſeine Verheißung hat, wie alſo nicht Dich zu ſuchen, Du aller 
Verheißungen und aller guten Gaben Geber! Wohl wiſſen wir, 
daß der Suchende nicht allzeit hinauszuwandern braucht in die 
Welt, denn je heiliger das iſt, was er ſucht, um ſo näher iſt 
es ihm, und wenn er nun Dich ſucht, o Gott, Du biſt ihm 
ja am allernächſten! Aber wir wiſſen auch, daß das Suchen 
immer ſeine Mühe hat und ſeine Anfechtung, wie alſo nicht ein 
Schrecken, Dich zu ſuchen, Du Gewaltiger! Wagt ſogar der, 
welcher in Gedanken ſich vertröſtet auf ſeine Verwandtſchaft, 
wagt ſogar der ſich mit dem Gedanken nicht ohne Schrecken 
in jene Entſcheidungen hinaus, wo er durch Zweifel hindurch 
Deine Spur ſucht in des Daſeins weiſer Ordnung, wo er durch 
Verzweiflung hindurch Deine Spur ſucht in der erregten Er⸗ 
eigniſſe Gehorſam unter Deine Vorſehung; ſucht der, den Du 
Deinen Freund nannteſt, der vor Deinem Antlitz wandert, ſucht 
doch auch der nicht ohne Beben der Freundſchaft Begegnung mit 
Dir, Du einziger Gewaltiger; wagt der Betende, der aus 
ganzem Herzen liebt, wagt doch auch der ſich nicht ohne Angſt 
in des Gebetes Streit mit ſeinem Gott; läßt ſelbſt der Ster⸗ 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


bende, für den Du ja das Leben umtauſcheſt, läßt doch auch der 
nicht ohne Schaudern vom Zeitlichen, wenn Du rufeſt; flieht 
ſelbſt der Elende, dem die Welt eitel Leiden bringt, flieht doch 
auch der nicht ohne Schrecken hin zu Dir, Du, der Du nicht 
ein wenig nur linderſt, ſondern der Du Alles biſt: wie darf da 
der Sünder Dich ſuchen, gerechter Gott! Aber deshalb ſucht 
er Dich auch nicht wie jene, ſondern er ſucht Dich in der Sün⸗ 
den Bekenntnis. — 


Und hier iſt der Ort dazu, du weißt es, wo; und hier iſt die 
Gelegenheit, du weißt, wie; und hier iſt der Augenblick, der 
da heißt: heute noch. Wie ſtille! Denn im Hauſe Gottes iſt 
Friede, aber zu innerſt innen im Umfriedeten iſt ein Verſteck. 
Wer dort hingeht, der ſucht Stille; wer dort ſitzt, der iſt in 
Stille; und wenn auch geredet wird, die Stille wächſt nur. 
Wie ſtille! Hier iſt keine Gemeinſchaft, jeder iſt für ſich; hier 
iſt kein Ruf zu vereintem Tun, hier wird jeder einzeln zu ge⸗ 
ſonderter Verantwortung gerufen; hier iſt keine Einladung zur 
Gemeinſchaft, jeder iſt allein. Denn der, welcher beichtet, er 
iſt einſam, einſam wie ein Sterbender. Ob ſie zahlreich am 
Lager des Sterbenden ſtehen, die Vielen, die ihm lieb und teuer 
waren und die ihn lieben, oder ob er da liegt, verlaſſen von der 
Welt, weil er ſie verließ, oder ſie ihn verließ: der Sterbende 
iſt einſam, ſie ſtreiten beide einſam, und der Gedanke geht irre, 
Tauſende halten ihn nicht zurück, nicht Zehntauſende, wenn der 
Einſame den Troſt nicht kennt. Ob Tauſende auf ihn warteten 


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Aus Anlaß einer Beichte 


und ſich ſehnten nach ihm, der dadurch, daß er beichtet, Stille 
ſucht, oder ob er, wenn er hier weggeht, der Geringe iſt und der 
Elende, auf den keiner wartet, und um den keiner ſich kümmert: 
dieſer Unterſchied iſt nur Scherz, die Wahrheit iſt, die ernſte 
Wahrheit war: ſie waren beide einſam. Sie helfen ihm nichts, 
dem Mächtigen, alle ſeine Freunde und die Herrlichkeit der 
Welt und die weitausladende Bedeutung ſeiner Geſchäfte, es 
ſei denn, daß ſie ihm die Stille ſtörten, was der größte Schaden 
iſt; es ſchadet ihm nichts, dem Elenden, verlaſſen zu ſein, wenn 
es ihm dazu hilft, die Stille zu finden. Es iſt ſchwer für ein 
Kamel, durch ein Nadelöhr zu gehen, und ſchwer für den Welt⸗ 
lichen, Stille zu finden, er ſei mächtig oder gering, ſchwer, ſie 
zu finden im Lärm des Lebens, ſchwer, ſie zu finden, wo 
ſie iſt, ſo er nur ſelbſt nicht den Lärm mit ſich bringt. Wie 
ſtill und wie ernſt! Und doch iſt hier keiner, der anklagt, 
wer dürfte Ankläger ſein hier, wo jeder ſchuldig iſt; und doch 
iſt hier keiner, der richtet, wer dürfte richten, wo jeder an ſeine 
Rechenſchaft denkt: keiner, der anklagt außer die Gedanken, 
keiner, der richtet, außer der, der ins Verborgene ſieht und 
die geheime Beichte hört. Ja, ſelbſt wenn hier geredet wird, 
biſt du ja der, der mit ſich ſelber redet durch die Stimme des 
Redenden. Was der Redende gerade zu dir ſagen ſoll, das 
weißt nur du; wie du die Rede verſteheſt, weiß er nicht, das 
weißt nur du; ob es dein beſter Freund war, er weiß es doch 
nicht ſo, wie du es weißt. Und wenn du nicht ſo hörſt, ſo hörſt 
du nicht richtig, ſo wird ſeine Rede ein Lärmen, das die Stille 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſtört, und deine Aufmerkſamkeit eine Zerſtreuung, welche die 
Stille kränkt. Wer dieſe Stille fürchtet, der entziehe ſich ihr, 
aber er darf nicht leugnen, daß ſie da iſt, da er ſie ja fürchtet. 
Wer da ſagt, er habe ſie geſucht, aber nicht gefunden, der iſt 
ein mißgünſtiger Betrüger, der andere ſtören will, denn ſonſt 
ſchwiege er oder trauerte oder ſagte: „Ich ſuchte ſie nicht richtig, 
darum fand ich ſie nicht.“ Denn nichts, nichts in der ganzen 
Welt, nicht, wenn ein Erdbeben der Kirche Pfeiler erſchütterte, 
und nicht des törichteſten Menſchen verkehrteſte Rede, und nicht 
des erbärmlichſten Heuchlers Widerlichkeit kann ſie von dir 
nehmen, aber wohl das weit Geringere einem Anlaß geben, 
einen Vorwand zu ſuchen. Nein, nichts, außer du ſelber, kann 
ſie von dir nehmen, ſo wenig wie alle Macht der Welt und 
alle ihre Weisheit und aller Menſchen vereinte Beſtrebungen 
ſie dir geben können, ſo wenig wie du ſelbſt ſie hinnehmen und 
ſie weggeben kannſt. Man bekommt ſie nicht für nichts, aber 
man kauft ſie nicht für Gold; man nimmt ſie nicht mit Gewalt, 
aber ſie kommt nicht wie ein Traum, wenn du ſchläfſt; ſie 
feilſcht nicht um Bedingungen, wäre es auch, daß du der ganzen 
Menſchheit nützen wollteſt. Ob du alles hingibſt, darum iſt ſie 
noch nicht erworben, aber erwirbſt du ſie, ſo kannſt du gerne 
alles beſitzen wie der, der nichts hat. Wer da ſagt: ſie iſt nicht 
da, dieſe Stille, er lärmt bloß, oder haſt du wohl auch je ſchon 
gehört, daß einer in der Stille einig ward mit ſich ſelbſt 
darüber, daß ſie nicht da iſt, wenngleich du wohl große Worte 
gehört haft und laute Rede und lärmendes Tun, um fie wegzu⸗ 


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Aus Anlaß einer Beichte 


bekommen, um an Stelle des Gewiſſens und der Stille und 
Gottes richtender Stimme in der Einſamkeit ein Naturecho 
der Drangſal zu bekommen, einen gemeinſamen Schrei der Ver⸗ 
wirrung, eine allgemeine Meinung, mit der man, bange vor 
ſich ſelbſt, in Feigheit nicht allein ſteht. Doch du, mein Zuhörer, 
fürchteſt du dieſe Stille, wiewohl du dich befleißigſt, ein Ge⸗ 
wiſſen zu haben, denn ohne Stille iſt dieſes nicht da, und ein 
gutes Gewiſſen zu haben, ſo halte aus, ſo halte ſie aus; dieſe 
Stille iſt nicht die des Todes, in der du umkommſt, ſie iſt nicht 
zum Tode dieſe Krankheit, fie iſt der Übergang zum Leben. 

So ſucht denn der Beichtende Gott im Bekenntnis der Sün⸗ 
den, und die Beichte iſt der Weg und iſt auf dem Wege der 
Seligkeit eine Raſtſtätte, wo man einhält, wo die Beſinnung 
den Sinn ſammelt, wo die Rechenſchaft aufgeſtellt wird. Und 
ſo iſt es doch: richtig, ohne Betrug muß eine Rechenſchaft ſein — 
dann wird Stille, dann wird eines jeden Mund geſtopft, dann 
wird jeder ſchuldig und kann nicht eins auf tauſend erwidern. 
Mit Hilfe der Störung wird man minder ſchuldig, vielleicht 
ſogar gerechtfertigt. Eine klägliche Gerechtigkeit! Denn das iſt 
nicht ungerecht, daß du einem anderen Menſchen ſeine Schuld 
vergibſt, wenn er dich darum bittet, oder wenn du doch glaubſt, 
daß er es wünſche, um Gottes Willen, der es fordert, um 
deiner ſelbſt willen, damit du nicht geſtört werdeſt; du nimmſt 
auch keine Beſtechung entgegen, weil du auf die Anregung der 
Verſöhnung in deinem eigenen Inneren achteſt; du hältſt dich 
auch nicht auf auf dem Weg, wenn du, wiewohl der Beleidigte, 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Ausſöhnung ſuchſt mit deinem Widerſacher, während er noch 
auf dem Weg iſt; du betrügſt auch nicht Gott um das, was 
ſein iſt, wenn du die Vergebung für nichts verkaufſt, du ver⸗ 
lierſt nicht deine Zeit oder wendeſt ſie ſchlecht an, wenn du 
darüber grübelſt, was wohl zur Entſchuldigung dienen kann; 
du biſt auch nicht betrogen, wenn du, ſo keine Entſchuldigung 
gefunden werden konnte, durch den heiligen Betrug der Liebe, 
welcher einer ganzen Welt Spott über deine Schwachheit in 
die Freude des Himmels über deinen Sieg verwandelt, 
glaubteſt, daß die Schuld zu entſchuldigen ſein müßte — aber 
wenn es deine eigene Rechenſchaft iſt, dann täteſt du wohl un⸗ 
recht, wenn du dir das Geringſte ſelbſt vergeben würdeſt, denn 
noch ſchlimmer als die ſchwärzeſte eigene Schuld iſt doch die 
eigene Gerechtigkeit; da nähmeſt du eine Beſtechung an, wenn 
du dem Antrieb des Leichtſinns oder der Hinterliſt in deiner 
eigenen Sache folgteſt; da hielteſt du dich auf auf dem Wege 
und hielteſt auf die Feurigkeit des Geiſtes, da verſpielteſt du 
deine Zeit und wendeteſt ſie ſchlecht an mit Ausflüchte ſuchen, 
ja, da wäreſt du betrogen durch einen vermeſſenen Betrug, be⸗ 
trogen gerade dann, wenn du eine Entſchuldigung fändeſt. Ach, 
es iſt ein wunderlicher Übergang, ein ſchwindelerregender 
Wechſel! Vor einem Augenblick noch ging derſelbe Menſch reich 
und mächtig, und nun den Augenblick danach, wiewohl inzwiſchen 
nichts geſchehen iſt, kann er nicht eins auf tauſend erwidern. 
Denn wer iſt wohl hier der Reiche und Mächtige, auf den die 
Rede zielt, wer anders, als er, dem unrecht geſchah, er, der 


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Aus Anlaß einer Beichte 


Unter drückte, er, der Übervorteilte, er, der Gekränkte! Viel⸗ 
leicht kümmerte ſich der Gewalttäter, der auf den Unterdrückten 
trat, vielleicht kümmerte ſich der Mächtige, deſſen Weg das 
Unrecht bezeichnete, vielleicht kümmerte ſich der Reiche, deſſen 
Reichtum vermehrt ward durch die Tränen der Witwe, vielleicht 
kümmerte ſich der Verzweifelte, der kränkt und ſpottet — viel⸗ 
leicht kümmerten ſie alle ſich nur wenig um die Vergebung, 
aber wahrlich, nicht ein König, der über Reiche und Länder 
herrſcht, und nicht der Sohn des Goldes, dem alles gehört, 
und nicht der Verſorger, der die Hungrigen ſättigt, beſitzt etwas 
ſo Großes, oder hat etwas ſo Großes wegzugeben oder etwas 
fo Nötiges zu ſchenken, wie der Menſch, deſſen Vergebung ein 
anderer braucht. Braucht, ja braucht wie das einzige, das not⸗ 
tut; ob einer nicht ſo meint, darum wird ſie doch ebenſoſehr ge⸗ 
braucht — und der, dem Unrecht geſchah, beſitzt am meiſten. 
Ein Heide, deſſen Namen nicht zu trennen iſt von der Vor⸗ 
ſtellung von Sieg und Gewalt, hat geſagt, da ſein Feind, ach, 
wie es den Heiden ſchien, den höchſten Mut bewies dadurch, daß 
er ſich ſelbſt entleibte: „Der beraubte mich meines herrlichſten 
Sieges, denn ich würde ihm vergeben haben.“ Und ein anderer 
hat geſagt: „Darum will ich nicht um Verzeihung bitten, weil 
ich hoch liebe. Mein Unrecht iſt vielleicht nicht ſo groß, die Ver⸗ 
gebung wohl ſogar eine billige Forderung, aber ſolange ſie nicht 
gegeben iſt, iſt das Unrecht unendlich, und die Macht der Ver⸗ 
gebung eine unendliche Übermacht über mich.“ Alſo, wem Un⸗ 
recht geſchah, der war der Reiche. Vor einem Augenblick noch 


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Sören Kierkegaard Religidfe Reden 


in der Umgebung der Welt durfte er ſagen: „Tut nur unrecht 
gegen mich, ihr verliert doch am meiſten, denn ihr braucht meine 
Vergebung“ — und nun einen Augenblick danach, nun ſchließt 
die Stille ſich um ihn, er weiß nicht, was er zu vergeben hat, 
und die Rechenſchaft zeigt, daß er nicht eins auf tauſend er⸗ 
widern kann. So iſt die Rechenſchaft, wenn es ſtill iſt um ihn, 
das heißt, wenn er nicht ſelber die Störung mit ſich bringt. 
Darum fürchtete einer vielleicht dieſe Stille und ihre Macht, 
und das unendliche Nichts, in das ſie alle Unterſchiede hinab⸗ 
ſtürzt, ſogar des Unrechts und der Vergebung, und den Ab⸗ 
grund, in den der Einſame verſinkt in der Stille. Es iſt, wie 
wenn der, der der Welt entſagt, vor der Leere zurückſchaudert, 
die ſich zu zeigen ſcheint. Vor einem Augenblick noch, da wünſchte 
er ſo vieles und trachtete und ſtrebte, und ſchlief unruhig in 
der Nacht, und fragte nach Neuigkeiten über andere, und be⸗ 
neidete einige, und überſah andere, und war beſcheiden am 
rechten Platz, immer auf dem Poſten in Freundſchaft und in 
Feindſchaft, und ſagte das Wetter vorher, und verſtand ſich 
auf den Wind, und änderte den Plan, und ſtrebte wieder, und 
gewann und verlor, und ward nicht müde, und ſpähte nach dem 
Lohn und ſah den Gewinn ſchimmern — und nun — armer 
betrogener Mann! wenn er in dieſer Entſagung nicht fand das 
eine, das not tat, armer Betrogener, der ſich ſelbſt betrog, armer 
Mann, der ſich ſelber zum Preis machte für des Lebens Spott, 
denn nun kam vielleicht das Große, das er gewünſcht hatte, 
nun ward er reich, jetzt, jetzt, o Verzweiflung! warum gerade 


132 


Aus Anlaß einer Beichte 


jetzt, warum nicht geſtern, ſondern jetzt, wo er doch nicht ganz 
wünſchte, aber auch nicht ganz entſagte! Und ſo auch mit dem, 
der erfuhr, daß es eine Stille gibt, wo jeder Menſch gleich 
ſchuldig wird, und nur lernte, fie zu fürchten. War er ange⸗ 
ſehen als Gerechter in den Augen der Menſchen, und dies ſein 
Begehren; war er einer, dem Unrecht geſchehen, der aber trotzte 
auf den ſtolzen Beſitz der Vergebung, war er nicht ohne Schuld, 
aber hatte gefällige Aufnahme gefunden in den Augen der 
Welt — ach, armer betrogener Mann! wie müßte er ſich er⸗ 
bittern gegen den, der ihn in jene Stille führte und ihn irre 
führte — aber das kann keiner, und ſein Zorn iſt machtlos. 
Armer Betrogener, wenn jetzt die Bürgerkrone der Gerechtig⸗ 
keit ihm gereicht würde vom Volkshaufen, nach der er getrachtet 
hatte; wenn jetzt von Tauſenden der Beſchluß gefaßt würde, 
ihn den Gerechten im Volke zu heißen, ſeiner hoffärtigen Ohren 
eitle Luſt: warum jetzt, jetzt, wo ſein Ohr wohl nicht ganz ver⸗ 
ſtopft war, er aber auch nicht voll der Stille unendliches Ge⸗ 
heimnis erfaßt hatte! Armer Betrogener, wenn jetzt der Schul⸗ 
dige vor ſeine Türe käme, wenn jetzt der Augenblick wäre, daß 
die Vergebung teuer erkauft werden ſollte, der Augenblick des 
Triumphs, auf den er ſich gefreut hatte, warum jetzt, warum 
nicht geſtern, ſondern jetzt, jetzt, wo er wohl nicht wollüſtig die 
Hitze der Rache und des Stolzes fühlte, aber auch nicht voll 
die ernſte Botſchaft der eigenen Schuld erfaßt hatte! Denn 
der, welcher ſie erfaßte, er war wahrlich nicht betrogen. Selig 
der, der es verſteht. Und wenn es eines Menſchen Pflicht iſt, 


133 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


anderen die Schuld zu verkünden, zu lehren, von ſich zu lehren, 
was dieſe Rede, die ohne Autorität iſt, nicht tut, der hat doch 
den Troſt, daß gerade der Reinſte am willigſten iſt, die eigene 
Schuld am tiefſten zu faſſen. Denn wenn es jenes größte Wage⸗ 
ſtück gilt, ſelbſt ſchuldig alle unter die Schuld zu legen, wo 
auch des mutigen Menſchen Denken einhält; wenn er nicht 
Furcht hat, ſich ſelbſt mit einzubeziehen, aber das Denken ſich 
widerſetzt beim Anblick deſſen, was menſchlich geſprochen rein 
und liebenswert iſt, bei einer weiblichen Jugend ſchöner Rein⸗ 
heit, welche unbekannt mit der Welt, unbekannt mit ihren An⸗ 
reizungen, demütig und in Aufrichtigkeit gering von ſich ſelber 
denkt: da wird er, wenn die Aufgabe der Rede ihm gebietet, 
die Sünde als das gemeinſame Los des Geſchlechts zu ver⸗ 
künden, da wird er ein Verſtehen finden, das vielleicht ihn ſelber 
beſchämt. 

Der Beichtende ſucht Gott im Bekenntnis der Sünden, und 
die Beichte iſt der Weg, und iſt auf dem Wege der Seligkeit 
eine Raſtſtätte, wo man einhält, und wo die Beſinnung den 
Sinn ſammelt. So wollen wir einhalten und aus Anlaß der 
Beichte davon reden: 


Was es heißt, Gott zu ſuchen, 


und dies näher beſtimmen dadurch, daß wir bedenken, daß kein 
Menſch Gott ſehen kann ohne Reinheit, und kein Menſch 
Kenntnis von Ihm nehmen kann, ohne ein Sünder zu wer⸗ 
den. Fühlt einer in unrechter Weiſe ſich aufgehalten durch 


134 


Aus Anlaß einer Beichte 


dieſe Aufgabe, ſo werfe er die Rede weg, damit nicht der, 
welcher hurtiger läuft, aufgehalten werde von dem Langſamen. 
Und der Wert einer Betrachtung iſt ja immer zweifelhaft: ſie 
kann einem zuweilen zur Entſcheidung helfen, zuweilen fie ver- 
hindern: wie ein kleiner Anlauf zu der Entſcheidung des 
Sprunges helfen kann, aber ein Anlauf von mehreren Meilen 
ihn wohl ſogar verhindern würde. Hat dagegen einer oft genug 
im Leben ſich aufgehalten gefühlt, ohne doch die Stille zu 
finden, hat er ſie geſucht, wo ſie ja iſt, und doch ſie nicht recht 
gefunden und ſich Vorwürfe deshalb gemacht, hat er gekämpft 
und doch nicht gewonnen, da verſuche er von neuem, er folge 
der Rede mit, aber frei und freiwillig; da iſt nichts, das ihn 
bindet, keine Verpflichtung, kein Vorwurf wartet auf ihn, 
wenn es durch ſie ihm nicht glückte, denn die Rede hat keine 
Autorität. Aber er will auch nicht, daß die Rede von jener 
Stille ſagen ſollte, ſie ſei an jenem geheiligten Orte ſo, daß, 
wenn man dort bleiben könnte und nicht wiederum hinaus müßte 
in die Verwirrung des Lebens, man ſie immer bei ſich haben 
müßte; denn wer dieſes verlangt, verlangt zu viel von der Rede: 
daß ſie ihn nämlich betrügen ſolle, als wäre es der Ort, äußer⸗ 
lich verſtanden, der den Ausſchlag gäbe, als würde nicht ganz 
dasſelbe ihm geſchehen, was ihm in der Welt geſchieht, wenn 
er an dem heiligen Ort verbleiben würde. Ein Dichter hat 
freilich geſagt, daß ein Seufzer ohne Worte zu Gott die beſte 
Anbetung ſei, ſo könnte man ja auch glauben, daß der ſpar⸗ 
ſame Beſuch des heiligen Ortes, wenn man aus weiter Ferne 


135 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


kommt, der beſte Gottesdienſt ſei. Ein Seufzer ohne Worte 
iſt nämlich die beſte Anbetung, wenn der Gedanke an Gott über 
dem Daſein nur dämmern ſoll, wie die blauen Berge fern im 
Geſichtskreis, wenn die Unklarheit des Seelenzuſtandes durch 
die größtmögliche Vieldeutigkeit zufriedengeſtellt werden ſoll. 
Aber ſoll Gott der Seele gegenwärtig ſein, ſo findet der 
Seufzer wohl den Gedanken, und der Gedanke wohl das 
Wort — aber auch die Schwierigkeit, von der man nicht träumt 
auf Abſtand. Bis zur Albernheit ſpricht man in unſeren Tagen 
davon, daß es nicht das Höchſte ſei, in der Stille zu leben, 
da nämlich liegt nicht die Gefahr, bis zur Albernheit, denn die 
Gefahr iſt da ſo gut wie in der Verwirrung, und das Große 
iſt weder, ohne weiteres verſtanden, in der Einſamkeit zu leben 
noch in der Verwirrung zu leben, ſondern das Große iſt, die 
Gefahr zu überwinden — und das Mittelmäßigſte iſt, ſich müde 
zu arbeiten an der Überlegung, was wohl am ſchwerſten ſei, 
denn eine ſolche Arbeit iſt nutzloſe Mühe und iſt nirgends zu 
Hauſe wie der Arbeitende, der ja weder in der Verwirrung 
ſiſt noch in der Einſamkeit, ſondern in der Geiſtesabweſenheit 
betriebſamer Gedanken. — Wenn endlich einer auf Grund der 
vielen Geſchäfte und ſeines betriebſamen Tuns meint, keine Zeit 
zu haben, eine ſolche Rede zu leſen, ſo kann er ja ganz recht 
haben damit, daß er keine Zeit hat, dieſe Rede zu leſen, die 
ja auch gerne bis zu allerletzt wartet, um in Betracht zu kom⸗ 
men, aber ſollte die Meinung die ſein, daß er überhaupt keine 
Zeit habe, ſich um das zu kümmern, was die Bekümmerung 


136 


Aus Anlaß einer Beichte 


der Rede iſt: jene Stille, ſo ſoll die Rede, ſelbſt wenn der Be⸗ 
triebſame eine freie Stunde in ſeinen vielen Geſchäften fände, 
um in aller Haſt einen Einwand vorzubringen, ſo ſoll die Rede 
doch nicht ſich dadurch lächerlich machen, daß ſie darauf eine 
Antwort gibt. Die vielen Geſchäfte ſind vielleicht ein zweifel⸗ 
haftes Verdienst, vielleicht würden ſie für ihn auch dadurch 
weniger werden, daß er jene Stille bedenkt, und viele Geſchäfte 
könnten vor allem ein Grund mehr zu ſein ſcheinen, öfter die 
Stille der Rechenſchaft zu ſuchen, wo ja doch nicht mit Mark 
und Pfennigen oder mit Auszeichnung und Herabſetzung und 
anderen eingebildeten Größen gerechnet wird. 

Wenn der Suchende ſucht, was außer ihm liegt als etwas 
Außeres, als etwas, das nicht in ſeiner Macht ſteht, ſo iſt das 
Geſuchte an einem beſtimmten Ort. Findet er bloß den Ort, 
wo es iſt, ſo iſt ihm geholfen, ſo ergreift er es, und ſein Suchen 
hat ein Ende. So wußte jeder einmal in ſeiner frühen 
Jugend, daß es ſo viele ſchöne Dinge gäbe, aber den Ort wußte 
er nicht mit Beſtimmtheit. Ach, wenn auch mancher dieſe Kin⸗ 
derweisheit verlernt hat, ob deshalb alle in Wahrheit weiſer 
geworden ſind, ob wohl auch der, welcher an Stelle jener ſchönen 
Einheit der Fülle die Doppeltheit des Zweifels und die Halb- 
heit des Entſchluſſes gewonnen hat! — Wenn angenommen 
wird, daß der Suchende ſelber gar nichts tun kann, um den 
Ort zu finden, ſo iſt er ein Wünſchender. So war jeder ein⸗ 
mal in ſeiner früheren Jugend. Ach, wenn auch mancher ſich 
verändert hat, ob deshalb alle in Wahrheit ſich zum beſſeren 


137 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


verändert haben, ob auch der, welcher an Stelle des ungewiſſen 
Reichtums des Wunſches die gewiſſe Erbärmlichkeit der Mit⸗ 
telmäßigkeit gewann! — Wenn der Wünſchende ſeinen Wunſch 
erfüllt ſieht, ſo wird er erſtaunt, wie er bereits dadurch, daß 
er ein Wünſchender war, in Staunen war. So war auch jeder 
einmal in ſeiner frühen Jugend, nicht wie man ungerecht von 
der Jugend ſagt, leicht zu locken zu törichten Unternehmungen, 
ſondern innerlich leicht zu locken zu der un vorbehaltenen, ſeligen 
Hingebung des Staunens, dem redlichen Entgelt, den der 
Wünſchende unverbrüchlich aufbewahrt für den Augenblick der 
Erfüllung. Ach, wenn auch mancher dieſe Eile verloren hat, 
Gleiches mit Gleichem bezahlen zu wollen, wie er ja auch gelernt 
hat, vom Wunſche geringe zu denken — iſt deshalb dieſe feil⸗ 
ſchende Redlichkeit, die nicht recht wünſcht und nicht recht ſtaunt, 
und ſo Gleiches mit Gleichem bezahlt, iſt deshalb dieſe Red⸗ 
lichkeit ein Gewinn! — Der, welcher wünſcht, ſucht auch, aber 
ſein Suchen iſt blind, nicht ſo ſehr mit Hinſicht auf den Gegen⸗ 
ſtand des Wunſches, als mit Hinſicht darauf, daß er nicht weiß, 
ob er ihm näher kommt oder ſich entfernt von ihm. 

Unter den vielen Gütern gibt es nun eines, das das höchſte 
iſt, das nicht zu beſtimmen iſt durch ſein Verhältnis zu den 
anderen, da es das höchſte iſt, ohne daß doch der Wünſchende 
eine beſtimmte Vorſtellung davon hat, denn es iſt das höchſte, 
gerade als das Unbekannte — und dieſes Gut iſt Gott. Die 
anderen Güter haben Namen und Bezeichnungen, aber wo der 
Wunſch am tiefſten Atem holt, wo dieſes Unbekannte ſich zu 


138 


Aus Anlaß einer Beichte 


zeigen ſcheint, da iſt das Staunen, und das Staunen iſt der 
Sinn der Unmittelbarkeit für Gott und alles tieferen Ver⸗ 
ſtehens Beginn. Das Suchen des Wünſchenden iſt blind nicht 
ſo ſehr mit Hinſicht auf den Gegenſtand, denn der iſt ja das 
Unbekannte, als mit Hinſicht darauf, ob er ihm näher kommt 
oder ferner — jetzt ſtutzt er, der Ausdruck des Staunens iſt 
Anbetung. Und das Staunen iſt ein zweideutiger Seelen⸗ 
zuſtand, der in ſich die Furcht und die Seligkeit birgt. Darum 
iſt die Anbetung gemiſcht zugleich aus Furcht und aus Selig⸗ 
keit. Selbſt der geläutertſte, vernünftigſte Gottes dienſt iſt 
Seligkeit in Furcht und Zittern, Zuverſicht in Lebensgefahr, 
Freimut im Bewußtſein der Sünde. Selbſt der geläutertſte 
und vernünftigſte Gottesdienſt hat die Gebrechlichkeit des 
Staunens; und nicht der Kraft und nicht der Weisheit direkte 
Größe beſtimmt die Größe des Gottes verhältniſſes, der Mäch⸗ 
tigſte iſt in tiefſter Ohnmacht, der Frommſte ſeufzt aus tiefſter 
Not, der Gewaltigſte iſt der, welcher ſeine Hände richtig faltet. 

Das Staunen des Wünſchenden entſpricht dem Unbekannten, 
und iſt ſo ganz unbeſtimmbar oder beſſer unendlich beſtimmbar, 
kann ebenſo widerwärtig ſein wie lächerlich, kann ebenſo ver⸗ 
wildert ſein wie kindiſch. Wenn der Wald im Dämmer liegt 
zur Abendſtunde, wenn in der Nacht der Mond ſich verirrt 
zwiſchen die Bäume, wenn das Staunen der Natur darinnen 
nach ſeiner Beute ausſieht, und dann der Heide plötzlich das 
Wunder einer Lichtwirkung ſieht, das ihn ergreift, ſo ſieht er 
das Unbekannte, und die Anbetung iſt der Ausdruck des 


139 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Staunens; wenn der knorrige Stamm eine Geſtalt vortäuſcht, 
die ihm unbekannt iſt, die einem Menſchen gleicht und doch ihm 
nur in übernatürlicher Größe gleicht, ſo ſtutzt er und betet an; 
wenn er in der Wüſte eine Spur ſieht, die nicht einem Men⸗ 
ſchen oder anderen ihm bekannten Weſen angehört, wenn die 
Macht der Einſamkeit ſeine Seele mit dem Staunen be⸗ 
ſchwängert, ſo ſieht er in dieſer Spur, daß das Unbekannte hier 
geweſen iſt, und er betet an; wenn das Meer tief und ſtill liegt, 
und verklärt, wenn das Staunen ſchwindelnd hinunterſtiert, 
bis es iſt, als ſtiege das Unbekannte herauf, wenn die Woge 
des Meeres einförmig dahinrollt gegen den Strand und die 
Seele überwältigt durch die Macht der Einförmigkeit, wenn 
das Schilf raſchelt im Wind und wieder raſchelt und alſo dem 
Lauſchenden etwas anvertrauen wollen muß: ſo betet er an. — 
Beſtimmt ſich das Staunen, ſo iſt ſein höchſter Ausdruck, daß 
Gott das unerklärte All des Daſeins iſt, wie es von der Ein⸗ 
bildungskraft im Geringſten und im Größten überall geahnt 
wird. Was der Inhalt des Heidentums war, wird von neuem 
erlebt in jedes Geſchlechts Wiederholung, und erſt wenn es 
durchgelebt iſt, wird das, was ein Götzendienſt war, herabgeſetzt 
zu einem ſorgloſen Daſein in der Unſchuld der Dichtung. Denn 
der Götzendienſt iſt geläutert das Dichteriſche. 

Wenn angenommen wird, daß der Wünſchende ſelbſt etwas 
dazu beitragen könne, das Geſuchte zu finden, ſo iſt er ein 
Strebender. Alſo iſt das Staunen und der Wunſch im Be⸗ 
griff, ihre Prüfung durchzumachen. Oft betrogen, da ja der 


140 


Aus Anlaß einer Beichte 


Umfang des Staunens, gerade weil es ein direktes Verhältnis 
zu dem Unbekannten hatte, das ebenſo Widerwärtige wie Lächer⸗ 
liche, das ebenſo Verwilderte wie Kindiſche war, oft betrogen 
will das Staunen ſich vorſehen und nicht mehr im Blinden 
tappen. Das direkte Verhältnis wird ſo in einem erſten Augen⸗ 
blick ein gebrochenes Verhältnis, ohne daß doch der Bruch im 
geringſten ein Durchbruch iſt. Es wird gebrochen dadurch, daß 
der Weg dazwiſchen tritt als eine Beſtimmung, während für 
den Wünſchenden kein Weg iſt. Wenn der Suchende nicht im 
Blinden tappt, ſo wünſcht er nicht bloß, er ſtrebt; denn das 
Streben iſt eben der Weg hin zu dem Geſuchten. So war jeder 
einmal in ſeiner früheren Jugend, hochfliegend im Wollen, ach, 
wenn auch mancher nun gelernt hat, auf der Erde zu bleiben, 
ob deshalb alle wohl auch weiſer geworden ſind, ob wohl auch 
der, welcher an Stelle des Vogelflugs den gebeugten Gang 
des Vier füßlers lernte! So war jeder einmal in ſeiner früheren 
Jugend dummdreiſt im Wagen; ach, und wenn auch mancher 
das ſein ließ, ob ſie deshalb alle auch weiſer wurden, ob auch 
der, welcher an Stelle des Laufes der Dummdreiſtigkeit ins 
Ungewiſſe die Sicherheit des Fußgängers gewann auf der Land⸗ 
ſtraße der Mittelmäßigkeit! So war jeder einmal in ſeiner 
früheren Jugend heraus fordernd; ach, und wenn auch mancher 
lernte, die Forderung herabzudrücken, ob ſie deshalb auch alle 
weiſer wurden, ob auch der, welcher durch Gunſt überſättigt 
ward, oder der, welcher von ſeiner Umgebung Kleinlichkeit lernte, 
oder der, welcher im Knechtsdienſt der Gewohnheit Genügſam⸗ 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


keit lernte! Oh, wohl iſt es weiſe, vom Glück nicht zu reden, 
wenn man etwas Heiligeres zu nennen weiß, aber wenn nicht, 
dann wäre es ein Unglück, wenn das Glück vom Leben ver⸗ 
ſchwände, wenn es müde würde zu geben und zu nehmen, müde 
würde der Menſchen, die es um das Staunen betrogen. 

Aber in der Welt der Freiheit, wo alles Streben ſeinen 
Urſprung hat, und worin alles Streben ſein Leben hat, da be⸗ 
gegnet man dem Staunen auf dem Weg. Das Streben hat 
verſchiedene Namen, aber das, welches auf das Unbekannte 
geht, iſt gerichtet auf Gott. Dieſes, daß es auf das Unbe⸗ 
kannte gerichtet iſt, will ſagen: es iſt unendlich. Da ſtutzt der 
Strebende, er ſieht die täuſchende Spur eines ungeheueren 
Weſens, das da iſt, wenn es vorbei iſt, das iſt und nicht iſt; 
und dieſes Weſen iſt das Schickſal, und ſein Streben iſt wie 
ein Irregehen. Anbetung iſt wieder der Ausdruck des Staunens, 
und der Umfang der Anbetung iſt das ebenſo Widerwärtige 
wie Lächerliche, das ebenſo Verwilderte wie Kindiſche. 

Wenn angenommen wird, daß der Suchende alles tun kann, 
um das Geſuchte zu finden, ſo iſt die Verzauberung vorbei, 
das Staunen vergeſſen, es gibt nichts mehr, worüber zu ſtaunen 
wäre. Und dann, im nächſten Augenblick, iſt das Geſuchte ein 
Nichts, und darum alſo war es, daß er alles vermochte. So 
war jeder einmal am Scheideweg der Jugend, da er eine Ewig⸗ 
keit alt wurde; ach, und wenn auch mancher ſich tröſtet, dieſen 
Schrecken nicht erlebt zu haben, ob ſie deshalb alle weiſer 
wurden, ob auch der, der ein Jüngling war im Greiſenalter! 


142 


Aus Anlaß einer Beichte 


So ging es jedem einmal beim Abſchied der Jugend, daß das 
Leben ſtille ſtand und er umkam: ach, und wenn auch mancher 
mit ſeiner Jugend prahlt, ob darum auch der weiſer war, 
welcher die Jahre und die Ewigkeit betrog um ihr Recht; deſſen 
höchſte Weisheit eine läppiſche Antwort war auf die ernſteſte 
Frage! | 

Es geſchah einmal in der Welt, daß der Menſch, müde des 
Staunens, müde des Schickſals, ſich abwandte vom Äußeren 
und entdeckte, daß es keinen Gegenſtand des Staunens gebe, 
daß das Unbekannte ein Nichts ſei, und das Staunen ein Be⸗ 
trug. Und was einmal der Inhalt des Lebens war, das kehrt 
wieder in der Wiederholung des Geſchlechts. Ob einer ſich weiſe 
dünken will damit, daß er ſagt, daß es zurückgelegte Erſchei⸗ 
nungen ſeien, die ſchon ſeit Jahrtauſenden abgetan ſind: im 
Leben iſt es nicht ſo. Und du meinſt doch auch nicht, mein Zu⸗ 
hörer, daß ich dir deine Zeit verſpielen möchte mit der Er⸗ 
zählung großer Begebenheiten und der Nennung ſchnurriger 
Namen und damit, daß ich mich geiſtlos wichtig mache durch 
die Betrachtung der ganzen Menſchheit! Ach nein, iſt es ſo, 
daß der betrogen iſt, der nur weniges zu wiſſen bekommt, ob 
da nicht auch der, der ſo vieles zu wiſſen bekam, daß er gar 
nichts ſich aneignete! Langſam geht der Menſch vorwärts, ſelbſt 
das herrlichſte Wiſſen iſt doch nur eine Vorausſetzung. Will 
man die Vorausſetzungen vermehren immer mehr und mehr, ſo 
iſt man wie der Geizige, der das Geld zuſammenhäuft, für 
das er keinen Gebrauch hat. Selbſt was wert iſt, am höchſten 


143 


Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


angeſchlagen zu werden: eine glückliche Erziehung, ſelbſt ſie iſt 
ja nur eine Vorausſetzung, und es vergeht Zeit um Zeit, ehe 
ſie angeeignet wird, und ein ganzes Leben iſt nicht zu viel, wenn 
man ſie ſich aneignen will. Oh, wenn der betrogen war, deſſen 
Erziehung verſäumt ward, ob da nicht auch der, welcher in Un⸗ 
wiſſenheit darüber verblieb, daß ſie eine Vorausſetzung war, 
ein anvertrautes Gut, ein heiliges Erbe, das erworben werden 
ſollte, und der ſie ohne weiteres hinnahm und ſich das zu ſein 
deuchte, von dem er den Namen trug. Hat der Beſſere zuweilen 
geſeufzt, weil das Geſuchte ſo ferne ſei, ſo haſt du wohl, mein 
Zuhörer, erfaßt, daß es auch noch eine andere Schwierigkeit 
gibt, daß es ein Blendwerk des Wiſſens gibt, das die Seele be⸗ 
tört, daß es eine Sicherheit gibt, in der man ein Wiſſender ift — 
und doch betrogen, daß es eine Ferne gibt von aller Entſchei⸗ 
dung, wo man, ohne davon zu träumen, verloren geht. Laß den 
Schrecken ſeine Beute ſich holen, oh, dieſe Sicherheit iſt ein 
ſchrecklicheres Ungeheuer! Laß die Not der Entbehrung einen 
aushungern, iſt es beſſer, im Überfluß umzukommen? Er⸗ 
ſchütternd war es, da das Staunen den Menſchen los ließ, und 
er an ſich ſelber verzweifelte, aber ebenſo erſchütternd iſt es, 
daß man davon wiſſen, weit mehr noch wiſſen, und nicht einmal 
jenes erlebt haben kann, und am erſchütterndſten, daß man alles 
wiſſen kann, ohne auch mit dem Geringſten angefangen zu 
haben. Und iſt das ſo, oh, dann laß mich von vorn anfangen: 
kehre zurück, du Jugend mit deinem Wünſchen und deinem 
liebenswürdigen Staunen, kehre zurück, du wildes Streben der 


144 


Aus Anlaß einer Beichte 


Jugend mit deiner Dummdreiſtigkeit und deinem Schaudern 
vor jenem Unbekannten, ergreife mich, du Verzweiflung, die 
mit dem Staunen und der Jugend Staunen bricht, aber ſchnell, 
ſchnell, ſo es möglich iſt, ſo ich meine beſte Zeit verſpielt habe, 
ohne etwas zu erkennen, lehre mich doch zum mindeſten, nicht 
gleichgültig zu bleiben dabei, nicht Troſt zu ſuchen mit anderen 
im gemeinſamen Verluſt, — fo iſt wohl der Schrecken über den 
Verluſt ein Anfangen an meiner Heilung; wie ſpät es auch iſt, 
es iſt doch beſſer, als dahinzuleben als ein Lügner, betrogen 
nicht von dem, was dazu geeignet ſcheinen könnte zu betrügen, 
ach, und darum entſetzlich betrogen — betrogen von vielem 
Wiſſen! 

Alſo war das Staunen vorbei, es iſt vorbei; ſo hieß es ein⸗ 
mal, ſo ſagt der Verzweifelnde und wiederholt es in Verzweif⸗ 
lung und wiederholt es ſpottend, und will ſich tröſten mit 
dem Spott, weil dieſer andere verwundet, als wäre nicht aller 
Spott zweiſchneidig! Aber du, mein Zuhörer, du weißt, daß 
die Rede gerade jetzt vor dem Staunen ſteht. Die Rede will 
darum nicht dich überraſchen, will auch nicht dich betrügen durch 
Augenblendung, wenn der Gedankenblitz aufleuchtet, indem 
alles ſich umkehrt; will auch nicht dich hineinreißen in eine 
ſtutzende Verwirrung. Der, welcher wirklich erlebt hat, wovon 
ich geſprochen habe, er durchſchaut die Miſchung verwirrter Er⸗ 
innerungen leicht, und wenn er es nicht erlebt hat, ſo wird eine 
Rede hören oder leſen nur von zweifelhaftem Nutzen für ihn 
ſein. Aber du, der du ja ſelber im Staunen biſt, du weißt, 


8 145 


Sören Nr kega ard Bei eden 


daß dieſes Staunen erwuchs, als einmal jenes erſte verzehrt 
ward in der Verzweiflung. Aber wo fände ſich auch ein wür⸗ 
digerer Gegenſtand für das Staunen, als wenn der in Wün⸗ 
ſchen und Streben Suchende, der in Verzweiflung Umkommende 
plötzlich entdeckte, daß er das Geſuchte hat, daß das Unglück 
iſt, daß er nun daſteht und es verliert! Denn nimm den Wün⸗ 
ſchenden, wie er daſitzt und träumt, rufe ihn an und ſage: H Du 
haſt das Gewünſchte“; halte den dummdreiſt Strebenden an, 
wie er eben dort vorwärtsſtürzt auf dem Weg, halte ihn an und 
ſage: „Du haſt, wonach du ſtrebſt“; durchbrich die Verzweif⸗ 
lung, daß der Verzweifelte erfaſſe, er habe es — welche Ge⸗ 
mütsbewegung in ihm, wenn er zugleich überwältigt wird von 
Staunen und noch einmal überwältigt, weil er das Geſuchte 

gleichſam wieder verliert! Die Herrlichkeit des Wünſchens, das 
Streben der Dummdreiſtigkeit weckt nicht zum zweitenmal 
Staunen, dies verhindert der Gedankenſtrich der Verzweiflung, 
aber daß das Geſuchte gegeben iſt, daß es gehabt wird von 
dem, der in Mißverſtehen daſteht und es verliert — dieſes weckt 
des ganzen Menſchen Staunen. Und welchen ſtärkeren Aus⸗ 
druck gibt es wohl für Staunen, als daß der Staunende wie 
verändert wird, wie wann der Wünſchende die Farbe wechſelt; 
welchen ſtärkeren Ausdruck als dieſen, daß er wirklich ver⸗ 
ändert wird! Und ſo iſt es mit dieſem Staunen, es verändert 
den Suchenden, und ſo iſt es mit dieſer Veränderung, daß das 
Suchen zu etwas anderem wird; ja, zu genau dem Entgegen⸗ 
geſetzten: Suchen bedeutet, daß der Suchende ſelbſt verändert 


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Aus Anlaß einer Beichte 


wird. Er ſoll nicht den Ort finden, wo das Geſuchte iſt, denn 
dieſes iſt gleich bei ihm; er ſoll nicht den Ort finden, wo Gott 
iſt, er ſoll nicht dorthin ſtreben, denn Gott iſt gleich bei ihm, 
ganz nahe, nahe allerwege, in jedem Augenblick allgegenwärtig, 
ſondern er ſoll verändert werden, auf daß er ſelber der Ort wer⸗ 
den kann, wo Gott iſt in der Wahrheit. 

Doch Staunen, das alles tieferen Verſtehens Anfang iſt, 
iſt eine zweideutige Leidenſchaft, die in ſich enthält die Furcht 
und die Seligkeit. Oder war es nicht furchtbar, mein Zuhörer, 
daß das Geſuchte dir ſo nahe war; war es nicht furchtbar, daß 
du nicht ſuchteſt, ſondern Gott dich ſuchte; war es nicht furcht⸗ 
bar, daß du dich nicht rühren konnteſt, ohne zu ſein in Ihm und 
nicht ſtille ſein, ohne zu ſein in Ihm, und nicht ſo unbemerkt ſein, 
daß du ja nicht warſt in Ihm, und nicht zu der äußerſten Grenze 
der Welt fliehen, ohne daß Er da war an jeder Stelle unter⸗ 
wegs, und nicht dich verbergen im Abgrund, ohne daß Er ja da 
war und an jeder Stelle unterwegs, und nicht zu Ihm ſagen: 
in einem Augenblick, weil Er ja auch da war in dem Augenblick, 
da du dieſes ſagteſt; war es nicht furchtbar, da der Scherz der 
Jugend und die Unreife der Verzweiflung zum Ernſt wurden, 
da das, worauf du gezeigt hatteſt, und wonach du geſtrebt 
hatteſt, und wovon du geſagt hatteſt, daß es nicht da ſei, da 
dies wurde, ja da es da war überall um dich und dich umſchloß 
allerwege! Aber war es nicht ſelig, daß der Mächtigſte dich 
einſperren konnte in den finſterſten Winkel und doch nicht Gott 
ausſperren konnte; war es nicht ſelig, oh, war es nicht ſelig, 


147 


Sören Kierkegaard Religisſe Reden 


daß du in den tiefen Abgrund fallen konnteſt, wo man weder 
Sonne ſieht noch Sterne, und doch Gott ſehen kann; war es 
nicht ſelig, daß du irre gehen konnteſt in der einſamen Wüſte, 
und doch ſtracks den Weg finden zu Gott; war es nicht ſelig, 
daß du ein Greis werden konnteſt, der alles vergeſſen hatte, und 
doch niemals Gott vergeſſen, weil der nicht etwas Vergangenes 
wer den kann, daß du ſtumm werden konnteſt und doch Ihn an⸗ 
rufen, taub und doch Ihn hören, blind und doch Ihn ſehen; ſelig, 
vertrauen zu dürfen auf Ihn, daß Er nicht ſagen würde, wie 
Menſchen ſagen: in einem Augenblick, weil Er bei dir war in 
dem Augenblick, da Er es ſagte! — Aber der, welcher die Furcht 
ausläßt, er ſehe wohl zu, daß er nicht auch den Fund ausläßt. Es 
iſt ſo leicht, oder wenn einer lieber dasſelbe auf andere Weiſe 
ſagen will, es iſt ſo ſchwer, Gott zu finden, daß man ſogar be⸗ 
weiſt, daß Er da iſt, und einen Beweis für notwendig hält. 
Laß die Arbeit des Beweiſes ſchwer ſein, im beſonderen dem 
Beſchwerde machen, der verſtehen ſoll, daß er etwas beweiſt; 
für den Beweiſenden iſt die Sache leicht geworden, denn er 
iſt dazu gekommen, außerhalb zu ſtehen, er hat keine Handlung 
mit Gott, ſondern macht eine Abhandlung über Gott. Soll 
dagegen das Suchen bedeuten, daß man ſelber verändert wird, 
ſo paſſe der Suchende wohl auf auf ſich ſelbſt. Man lerne das 
Staunen von einem Kind und Furcht von einem Mann, das 
iſt immer eine Vorbereitung, ſo kommt ſchon die Furcht mit 
Gott, wenn Er kommt und die Beweiſe überflüſſig macht. Oder 
iſt es vielleicht Mut, daß man gedankenlos in Unwiſſenheit ver⸗ 


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Aus Anlaß einer Beichte 


bleibt über die Gefahr, daß der Beweiſende unverändert ſitzt 
und beweiſt, daß der Allgegenwärtige da iſt, der Allgegen⸗ 
wärtige, der alſo auch im Augenblick des Beweiſes den Be⸗ 
weiſenden durchſchaut — ohne doch ein wiſſenſchaftliches Urteil 
über die Verdienſtlichkeit des Beweiſes zu haben. Sollte wirk⸗ 
lich der Allgegenwärtige geworden ſein wie ein ſeltenes Natur⸗ 
geſchöpf, deſſen Daſein der Gelehrte beweiſt, oder wie ein un- 
ſteter Stern, den man in Pauſen von Jahrhunderten beobachtet, 
und deſſen Daſein deshalb einen Beweis nötig hat, im beſon⸗ 
deren für die dazwiſchenliegenden Jahrhunderte, in welchen er 
nicht geſehen wird! 

Aber das wahre Staunen und die wahre Furcht kann der 
eine Menſch nicht vom anderen lernen. Nur wenn ſie deine 
Seele zuſammenpreſſen und ausweiten, deine Seele, gerade 
deine, deine allein in der ganzen Welt, weil du allein geworden 
biſt mit dem Allgegenwärtigen, nur dann ſind ſie in Wahrheit 
für dich. Ob auch ein Redner eines Engels Beredſamkeit hätte, 
und ob er ein Antlitz hätte, das dem Mutigſten Schrecken ein⸗ 
jagen könnte, ſo daß du, wie man ſagt, in das tiefſte Staunen 
fieleſt über ſeine Beredſamkeit, und Entſetzen dich ergriffe, da 
du ihn hörteſt — es iſt nicht dieſes Staunen, und es iſt nicht 
dieſe Furcht, die helfen. Im Verhältnis zu jedem Menſchen, 
dem geringſten und dem größten, gilt es, daß nicht ein Engel 
und nicht Legionen Engel und nicht alle Schrecken der Welt 
das wahre Staunen und die wahre Furcht eingeben können, 
wohl aber ihn abergläubiſch machen. Das wahre Staunen und 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


die wahre Furcht ſind erſt da, wenn er, eben er, es ſei nun 
der Geringſte oder der Größte, allein wird mit dem Allgegen⸗ 
wärtigen. Der Kraft und der Weisheit und der Tat direkte 
Größe beſtimmt nicht die Größe des Gottesverhältniſſes. Oder 
taten die Weiſen in Agypten nicht faſt ebenſo große Zeichen 
wie Moſes; geſetzt, ſie hätten größere getan, was folgte dann 
daraus? Nichts, gar nichts in Hinſicht auf das Gottesver⸗ 
hältnis. Aber Moſes fürchtete Gott, und Moſes ſtaunte über 
Gott, und die Furcht und das Staunen oder die Furcht des 
Staunens und ſeine Seligkeit beſtimmen die Größe des Gottes⸗ 
verhältniſſes. 

Es iſt ganz wahr, was der Verſtand ſagt, daß es nichts 
zum Staunen gibt, aber eben deshalb iſt das Staunen ge⸗ 
ſichert — weil der Verſtand dafür einſteht. Laß nur den Ver⸗ 
ſtand das Vergängliche richten, laß ihn nur den Ort ſäubern — 
ſo kommt das Staunen am rechten Ort in dem Veränderten. 
Alles, das zu jenem erſten Staunen gehörte, kann der Ver⸗ 
ſtand verzehren; laß ihn das tun, daß er rätſelvoll einem zum 
Staunen helfe, denn rätſelvoll iſt es ja, da es geradewegs 
gegen das Urteil des Verſtandes über ihn ſelber geht. Aber 
kommt ein Menſch nicht weiter, ſo klage er nicht den Verſtand 
an und triumphiere auch nicht, weil er geſiegt hat. Wenn ein 
Fürſt einen Feldherrn ausſchickt mit dem Heere gegen das feind⸗ 
liche Land, und dieſer Feldherr es erobert und darauf ſelbſt 
ſich deſſen bemächtigt als ein Aufrührer, ſo iſt ja kein Grund 
da, ihn deshalb anzuklagen, weil er es eroberte, aber auch kein 


150 


Aus Anlaß einer Beichte 


Grund zu triumphieren, da er ſelber es ja behielt: und ſo, 
wenn ein Menſch mit ſeinem Verſtand ſiegt über das, was 
wohl ſchön war, aber doch auch kindlich, ſo klage er nicht den 
Verſtand an, aber wenn der Verſtand damit endet, daß er 
Aufrührer wird, ſo triumphiere er nicht. Aber des Staunen 
iſt in dem Veränderten. 

Wie es hier geſagt iſt, ſo ging es jedem einmal im Augen⸗ 
blick der Entſcheidung, da die Krankheit des Geiſtes einſchlug 
und er ſich gefangen fühlte im Daſein, gefangen für ewig. 
Ach, und wenn auch mancher ſich damit tröſtet, daß er dieſer 
Gefahr entgangen iſt, ob deshalb auch der weiſer ward, der 
ſchlau und feige ſich ſelbſt betrog, da er glaubte, Gott und das 
Leben zu betrügen! So geſchah es jedem einmal, als es vorbei 
war mit dem Scherz und dem Blendwerk und der Zerſtreuung; 
ach, und wenn auch mancher trotzt auf ſeine Sorgloſigkeit, ob 
deshalb auch der weiſer ward, deſſen Leben wild und ſchmarotze⸗ 
riſch in Seitenſchößlingen wuchert, weil er nicht gebunden 
wurde! So geſchah es jedem einmal, ach, und wenn auch mancher 
ſich ſchmeichelt, in vorteilhafterer Lage zu ſein, ob deshalb auch 
der weiſer ward, der ungebunden nichts davon wußte, daß er 
eben deshalb unfrei war! n 

Wenn angenommen wird, daß das Geſuchte gegeben iſt, ſo 
bedeutet das Suchen, daß der Suchende ſelbſt verändert wird, 
ſo daß er der Ort wird, wo das Geſuchte ſein kann in der Wahr⸗ 
heit. Und das Geſuchte war ja gegeben, es war ſo nahe, daß 
es war, als wäre es wieder verloren. Welcher Ausdruck iſt wohl 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſtärker für den Schrecken als dieſer, daß es iſt wie verloren, 
ohne die Gewißheit, daß es verloren iſt: ſo geht es alſo zurück 
mit einem Menſchen! Welch ein Abſtand ſeit jener Zeit, da 
er wünſchte, da er dummdreiſt wagte, da das Geſuchte in der 
Ferne war, da das Selbſtgefühl darauf trotzte, daß es nicht 
da ſei — und jetzt, es iſt ihm ſo nahe gekommen, daß es ver⸗ 
loren iſt, und es geht weit zurück in die Ferne mit dem Verluſt! 
Der Suchende ſollte verändert werden, und ach, er war ver⸗ 
ändert — ſo geht es zurück. Und die Veränderung, in der er 
iſt, nennen wir die Sünde. Alſo das Geſuchte iſt, der Suchende 
iſt der Ort, aber verändert und darin anders, daß er einmal 
der Ort geweſen war, wo das Geſuchte war. Oh, nun iſt da 
kein Staunen, keine Zweideutigkeit! Der Zuſtand der Seele, 
wenn ſie dieſes erfaßt, iſt Furcht und Zittern in dem Schul⸗ 
digen, ihre Leidenſchaft iſt Leid in der Erinnerung, ihre Liebe 
iſt Reue in dem Verlorenen. War es nicht ſo, mein Zu⸗ 
hörer? Die Rede ſoll nicht dich überraſchen, ſie hat keine Auto⸗ 
rität, dir irgendein Sündenbekenntnis abzunötigen. Im Gegen⸗ 
teil, ſie geſteht gern ihre Ohnmacht in dieſer Hinſicht, ja könnte 
einer den Wunſch haben, ſo will ſie willig es ihm ſagen, daß 
nicht alle Beredſamkeit der Welt imſtande iſt, einen Menſchen 
von ſeiner Sünde zu überzeugen, aber dann auch ihn ermahnen, 
nicht zu fürchten die Beredſamkeit der Sünder, ſondern die 
Allgegenwart des Heiligen, und noch mehr ſich zu fürchten davor, 
ſich ihr zu entziehen. Soll ein Menſch weſentlich ſeine Sünde 
verſtehen, ſo muß er ſie verſtehen, weil er allein wird, er allein, 


152 


Aus Anlaß einer Beichte 


gerade er allein mit dem Heiligen, der alles weiß. Nur dieſe 
Furcht und dieſes Zittern iſt die Wahrheit, nur das Leid, das 
die Erinnerung an Gott in einem Menſchen weckt, nur die 
Reue, die die Liebe zu ihm emporliebt. Hätte ein Redner eine 
Stimme wie der Donner des Himmels, hätte er ein Antlitz, 
das Entſetzen einjagte, verftände er, mit dem Blicke zu zielen, 
und zeigte er jetzt, mein Zuhörer auf dich, wie du daſitzeſt, und 
ſagte: „Du, du biſt ein Sünder,“ und täte er das auch mit einer 
ſolchen Macht, daß dein Auge den Boden ſuchte, daß das Blut 
aus deiner Wange wich, und du vielleicht den Eindruck lange 
nicht verwandeſt — da verſtandeſt du wohl, daß er durch ſein 
Betragen die Umgebung in eine Jahrmarktsbude verwandelte, 
wo er Gaukeleien trieb. Furcht und Zittern vor dem Abſcheu⸗ 
lichen: vor einem religiös Ausſchweifenden iſt nicht Furcht und 
Zittern in der Wahrheit. Wie es gilt, daß ein Menſch ſeinen 
Frieden nicht bei einem anderen Menſchen ſuchen ſoll, daß er 
nicht auf Sand bauen ſoll, ſo gilt es auch, daß er ſich nicht 
darauf vertröſten ſoll, daß es irgendeines anderen Menſchen 
Aufgabe ſei, ihn davon zu überzeugen, daß er ein Sünder iſt, 
aber wohl ihn an die eigene Verantwortung vor Gott zu er⸗ 
innern, wenn er ſie nicht durch ſich ſelber entdeckt; alles andere 
Verſtehn iſt Zerſtreuung. Und dies iſt nur Scherz, wenn ich 
dich richten wollte, aber das iſt Ernſt, wenn du vergißt, daß 
Gott dich richten wird. . 

Das Geſuchte iſt alſo gegeben, Gott iſt nah genug, aber 
niemand kann Gott ſehen ohne Reinheit, und die 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Sünde eben iſt Unreinheit, und dar um kann niemand 
Kenntnis nehmen von Gott, ohne als Sünder ſich 
zu erkennen. Das erſte iſt ein einladendes Wort, und der 
Blick der Seele iſt nach oben gerichtet, wo das Ziel iſt, aber 
im ſelben Moment ertönt das andere Wort, das den Beginn 
bezeichnet, und dieſes Wort iſt ein niederdrückendes Wort. Und 
doch iſt das ſo für den, der mit ſich ſelbſt die Sünde verſtehen 
will. 

So ſteht die Rede nun am Anfang. Der geſchieht nicht durch 
Staunen, aber dann wahrlich auch nicht durch Zweifel; denn der, 
welcher an ſeiner Schuld zweifelt, er macht nur einen törichten 
Anfang, oder beſſer, er ſetzt fort, was mit der Sünde töricht 
begonnen wurde. Was mit der Sünde kommt, das begleitet 
das Leid: dies gilt doch wohl auch von der Sünde ſelbſt. Leid 
iſt deshalb der Anfang, und Zittern iſt die Wachſamkeit des 
Leids. Je tiefer das Leid iſt, um ſo mehr fühlt ſich der Menſch 
wie ein Nichts, als weniger denn nichts. Es iſt immer geſagt 
wor den, ſelbſt im Heidentum, daß die Götter das Höchſte nicht 
für nichts verkaufen, daß ein göttlicher Neid, in welchem die 
Gottheit den Preis für ſich ſelbſt beſtimmte, die Bedingungen 
des Verhältniſſes feſtſetzte: wie ſollte dann dies, als einzelner 
Menſch der Wohnort Gottes zu werden, wie ſollte dieſes nicht 
ſeine For derung haben; und dieſe Forderung iſt, daß der Menſch 
ſich als Sünder bewußt wird. Und doch iſt dies nicht, wenn ich 
ſo ſagen darf, eine Höflichkeit, die der Menſch Ihm erweiſt, 
daß Seine heilige Gegenwart den Einzelnen zu einem Sünder 


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Aus Anlaß einer Beichte 


niederdrücke, nein, der Einzelne war es, aber wurde es erſt durch 
Seine Gegenwart. Indeſſen verſteht der, welcher ſich ſelbſt im 
Bewußtſein der Sünde vor Gott zu verſtehen ſucht, er ver⸗ 
ſteht es nicht wie eine allgemeine Ausſage, daß alle Menſchen 
Sünder ſind, denn dieſe Allgemeinheit iſt nicht das, auf dem 
der Nachdruck liegt. Je tiefer das Leid iſt, um ſo mehr fühlt 
ſich der Menſch als ein Nichts, als weniger denn nichts, und 
dieſes herabziehende Selbſtgefühl iſt ein Zeichen dafür, daß der 
Leidende der Suchende iſt, der anfängt, Kenntnis zu nehmen 
von Gott. Im weltlichen Sinn gilt es, daß der ein mittel⸗ 
mäßiger Krieger iſt, der nicht hofft, Oberſter zu werden, im 
göttlichen Sinn iſt es umgekehrt, je weniger er von ſich ſelber 
hält, nicht als Menſch im allgemeinen oder davon, Menſch zu 
ſein, nein, ſondern von ſich als dem einzelnen Menſchen, und 
nicht in Hinſicht auf Gaben, ſondern in Hinſicht auf Schuld, 
deſto deutlicher wird Gott ihm. Wir wollen nicht die Schuld 
vermehren, damit Gott größer werden könnte, wohl aber die 
Erkenntnis der Schuld. 

Je tiefer das Leid iſt, um ſo tiefer wird die Macht der Sünde 
erfaßt, und der ſtärkſte Ausdruck für das tiefſte Leid könnte 
ſcheinen, wenn einer ſich ſelbſt als den größten Sünder fühlte. 
Nun, das verſteht ſich, es iſt ſogar auf eitle Weiſe Streit und 
Zwiſt geweſen über dieſe Würde, man hat alles aufgeboten, 
um dieſe Anerkennung zu gewinnen in Zeiten, wo dies der 
höchſte Ausdruck für die höchſte Auszeichnung war. Traurig iſt 
ja jede Art von irrendem Streben, am traurigſten ſind doch 


155 


Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


die religiöſen Ausſchweifungen. Wenn der Jüngling fehlt im 
Leben, dann hofft man auf die Jahre; es iſt ſchon trauriger, 
wenn der Mann irre geht; aber wenn einer irre geht im Letzten, 
das retten kann, wo bleibt dann die Rettung! Aber daraus folgt 
doch nicht, daß es preiswert ſein würde, das Göttliche dahin⸗ 
ſtehen zu laſſen, und auf dieſe Weiſe dem Irrtum zu entgehen. 
Der größte Sünder — und Streit darüber, ob man es iſt! 
Wir wollen nicht dem Lachen Raum geben, wenn auch jener 
Widerſpruch zur Stelle iſt, der das Lachen berechtigt, denn iſt 
es auch lächerlich, ſo iſt es das doch wieder nicht und hier doch 
nicht der Ort zu lachen darüber, daß man ſo die Torheit in den 
allerernſteſten Zuſammenhang gebracht hat. Die Rede will 
auch nicht ohne weiteres den Ausdruck fahren laſſen, ſondern 
etwas bei ihm verweilen und fragen: wie bekommt ein Menſch 
zu wiſſen, daß er der größte Sünder iſt? Wenn er zu wiſſen 
bekommt, daß er ein Sünder iſt, ſo geſchieht dies ja dadurch, 
daß er allein wird, er, gerade er, allein mit dem Heiligen. 
Wird er nicht ſo allein, ſo bekommt er auch nicht einmal zu 
wiſſen, daß er ein Sünder iſt, geſchweige der größte. Woher 
kommt nun das Mehr oder Weniger, wodurch er ſich ſelber 
als den größten beſtimmt? Sollte dieſes Mehr nicht vom Böſen 
ſein, kommt es nicht durch Liſt und Betrug, kommt es nicht 
durch Abſpringen vom Ernſt? Ein Unglücklicher, der ernſt ward 
durch ſein Leiden, wird ſofort daran erkannt, daß er, ohne ſich 
darum zu kümmern, ob andere mehr oder weniger leiden, ſo 
urteilt: mein Leiden fällt mir ſchwer — ich leide. Einen rechten 


156 


Aus Anlaß einer Beichte 


Liebhaber erkennt man ſofort daran, daß er nicht die Begegnung 
der Verliebtheit, welche Einſamkeit ſucht, beſchmutzt, indem 
er einen Auflauf verurſacht und eine Schar von Zeugen mit⸗ 
bringt, die ja immer zur Stelle ſind, ſobald er es ſo verſteht, 
daß er mehr liebe als andere; nein, ſein redliches und aufrich⸗ 
tiges Urteil iſt kurz: „Ich liebe.“ Und ſo auch mit dem Bewußt⸗ 
ſein der Sünde, die ſimple Ausſage iſt die ernſteſte. Aller Ver⸗ 
gleich iſt weltlich, alles Herausheben iſt weltliches Hangen im 
Dienſte der Eitelkeit; und ſchlimmer als die eigene Schuld iſt 
die eigene Gerechtigkeit, und ſchlimmer als die eigene Gerechtig⸗ 
keit iſt, das Letzte eitel zu nehmen, und im Ernſt der größte 
Sünder zu werden gerade dadurch, daß man eitel es ſein will. 
Aber der, welcher allein wird mit dem Bewußtſein der Sünde, 
er wird wohl, doch nicht vergleichsweiſe, als der größte Sünder 
ſich fühlen, denn er wird ſich als der Einzelne fühlen und in 
ſich die weſentliche Größe der Sünde gegenüber dem Heiligen. 
Iſt es Zerſtreuung, ſich damit entſchuldigen zu wollen, daß 
andere ſchuldiger ſeien, ſo iſt es auch Zerſtreuung, ſeine Sünde 
beſtimmen zu wollen durch ihr Verhältnis zur Sünde anderer, 
welches doch keiner weiß. Wenn du aber faſteſt, mein Zuhörer, 
ſo ſalbe dein Haupt und waſche dein Angeſicht, dann ſiehſt du 
weder auf die Zerſtreuung, daß andere ſchuldiger ſind, noch auf 
die Zerſtreuung, daß andere weniger ſchuldig ſind, und was 
nicht ein gemeinſames Unternehmen iſt, das tue du auch nicht 
auf der Gaſſe, ſondern richtig im Verborgenen. Oh, dies iſt 
viel leichter, nach rechts und links zu ſehen, als in ſich ſelber 


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LIBRARY ST. MARY'S COLLEGE 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


zu ſehen; viel leichter, zu feilſchen und zu handeln wie auch zu 
unterbieten, als zu ſchweigen — aber das Schwierigere iſt doch 
das eine, das nottut. Schon im täglichen Leben macht jeder die 
Erfahrung, daß es ſchwieriger iſt, dem Ausgezeichneten gegen⸗ 
über zu ſtehen, der Majeſtät des Königs, als im Gewimmel 
unterzugehen, allein zu ſtehen und ſtumm gegenüber dem ſcharfen 
Kenner, als mitzureden im allgemeinen Geſpräch mit ſeines⸗ 
gleichen: geſchweige da, allein zu werden vor dem Heiligen und 
zu ſchweigen. Man ſieht Gott im Großen, im Raſen der Ele⸗ 
mente und im Gang der Weltgeſchichte, man vergißt rein, was 
das Kind verſtand, daß, wenn es ſeine Augen ſchließt, es Gott 
ſieht. Und wenn das Kind ſeine Augen ſchließt und lächelt, 
ſo wird es ein Engel — ach und wenn der Menſch allein wird 
vor dem Heiligen und ſchweigt — ſo wird er ein Sünder! 
Werde erſt allein, ſo lernſt du die rechte Gottesverehrung, hoch 
zu denken von Gott und gering von dir ſelber — nicht geringer 
als dein Nachbar, als wäreſt du der Ausgezeichnete, ſondern 
denke daran, daß du vor Gott biſt — nicht geringer als dein 
Feind, als wäreſt du der Beſſere, denn denke daran, du biſt 
vor Gott; aber denke gering von dir ſelbſt. 

Der, welcher ſo ſeine Sünde bedenkt und wünſcht, in dieſer 
Stille eine Kunſt zu lernen, die du ja nicht verſchmähſt: Leid 
zu tragen über ſeine Sünden, der wird auch entdecken, daß das 
Sün denbekenntnis nicht bloß ein Aufzählen aller einzelnen 
Sünden iſt, ſondern vor Gott faſſen, daß die Sünde in ſich 
einen Zuſammenhang hat. Doch wird er hier wiederum auf den 


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Aus Anlaß einer Beichte 


engen Weg achten, denn der Weg des Einſamen iſt eng und 
eingeſchloſſen, aber überall ſind blinde Türen, er braucht bloß 
ein Wort zu ſagen, fo öffnet ſich eine ſolche — und der Ge— 
fangene atmet im Freien, ſo dünkt es ihm einen Augenblick. 
Wenn er ſo anfängt, von der Allgemeinheit der Sünde zu reden 
nicht in ihm, ſondern im ganzen Geſchlecht, wenn er nach dieſem 
Gedanken greift, ſo öffnet ſich die Türe — ach und wie leicht 
atmet er nun, er, deſſen Atemzug ſo ſchwer war; wie leicht wird 
nicht ſeine Flucht, deſſen Gang ſo mühſelig war; wie leicht wird 
er nun, er, der ein Arbeitender war — denn er iſt ein Betrachter 
geworden. Und ſeine Betrachtungen wünſchen gewiß manche zu 
hören. So wird die Sache eine andere, und ſo leicht, ſo ver⸗ 
ändert, ja ſo verändert, wie der Ernſte unter uns es ſagt, daß 
die Frage nun die wird, Gott zu rechtfertigen vor der Welt, 
nicht die Bekümmerung, ſich zu rechtfertigen vor Gott. Im 
allgemeinen ſeine Sünde zugeben iſt leichter, aber von der ein⸗ 
zelnen her, die genau und beſtimmt aufgefaßt iſt, peinlich, wie 
der unparteiiſche Richter ſie ausfertigt, von dieſer einzelnen oder 
von dieſer einzelnen her einen Zuſammenhang entdecken: das 
iſt ein ſchwerer Gang und ein gezwungener Gang, aber der 
ſchwere Gang iſt doch der richtige, und der Zwang von Nutzen. — 
Es gibt eine Eigenſchaft, die viel geprieſen wird und die man 
ſich doch nicht leicht erwirbt: Aufrichtigkeit. Ich rede nicht von 
jener liebenswürdigen der Kindheit, die wohl auch bei einem 
einzelnen Alteren ſich findet, denn ſie anzupreiſen hieße ja durch 
die Rede dich betrügen, mein Zuhörer. Fände ſie ſich bei dir, 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſo würde die Rede faſt ſchmeicheln, wenn auch deine Kindlich⸗ 
keit dich daran hindern würde, ſie ſo aufzufaſſen; und findet ſie 
ſich nicht, ſo hieße das ja deiner ſpotten. So ſoll die Rede nicht 
unterſcheiden und ſpielen und die Aufrichtigkeit eine glückliche 
Gabe in der Wiege ſein laſſen, die nur wenig bekamen; eine 
ſolche Rede gehört dorthin, wo das Glück die Menſchen ſcheidet, 
nicht wo das Gottes verhältnis die Gleichheit vor Gott aufrecht 
erhalten will: nein, Aufrichtigkeit iſt eine Pflicht, und jeder 
ſoll ſie haben. In viel Zerſtreuung iſt es nun ſchwer, ſie zu 
erwerben. Ich meine juſt nicht, daß ein Menſch deshalb auf 
der Stelle ein Lügner iſt, aber er bekommt nicht die Zeit und 
nicht die Sammlung, ſich ſelber zu verſtehen. Denn, iſt es nicht 
ſo? Jetzt wünſcht ein Menſch etwas, recht innerlich, wie er 
meint, doch iſt vieles vorgegangen, ehe die Erfüllung kam, oder 
ſie kommt überhaupt nicht, und er hat ſich verändert. Wohl 
möglich, daß er weiſer geworden iſt, aber ſeiner Weisheit 
mangelt doch eines, ein beſtimmter Eindruck davon, daß er 
jenes einmal gewünſcht hat, und nicht bloß ein märchenhafter 
Bericht darüber, daß er vor einer ganzen Reihe von Jahren 
das wünſchte, aber jetzt nicht mehr. Es wird verlangt, daß die 
beiden Zuſtände, wenn ſie ſchön und einträchtig in der Einheit 
derſelben Seele ſich vergleichen ſollen, eine kleine Zuſammen⸗ 
kunft hätten, bei der ſie ſich einander verſtändlich machten. 
Die Weisheit iſt vielleicht ganz in Ordnung, aber dem Weiſen 
mangelt doch ein wenig Kummer über ihn ſelber. Jetzt be⸗ 
ſchließt ein Menſch beſtimmt etwas, aber die Zeit feilſcht, und 


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Aus Anlaß einer Beichte 


er verändert ſich, und es bleibt bei dem Stückwerk. Vielleicht 
war der Beſchluß wirklich zu hochfliegend im Verhältnis zu 
ſeinen Kräften; gut, aber hier fehlt doch ein wenig, ein wenig 
Betrübnis, ein wenig Klarheit, ob es die Zeit war, die ihm den 
Schein der Weisheit gegeben hatte, oder ob er wirklich weiſer 
geworden war. Und nun Schuld und Irren und Sünde! Ach, 
wie viele ſind da wohl, die nach Jahren oder Tagen mit Be⸗ 
ſtimmtheit wiſſen, was ſie wünſchten, was ſie beſchloſſen, was 
ſie ſich vorwarfen, was ſie verbrachen! Und Gott kann doch 
wohl Aufrichtigkeit fordern von einem Menſchen. Wieviel 
ſchwieriger wird nun dieſe! Denn ein Menſch kann wirklich be⸗ 
ſtrebt ſein, in Aufrichtigkeit ſich ſelbſt mehr und mehr durch⸗ 
ſichtig zu werden, aber dürfte er wohl einem Herzenskenner dieſe 
Klarheit anbieten als etwas Zuverläſſiges zwiſchen ſich und 
Ihm! Oh, weit entfernt! Selbſt der, welcher redlich ſtrebt 
in ſich ſelbſt, ſelbſt er, und er vielleicht am meiſten wird immer 
eine Zwiſchenrechnung haben, die abſchließen zu können er ſich 
nicht vertröſtet, als hätte er nicht wirklich zuweilen im einzelnen 
größere oder vielleicht auch geringere Schuld, als er wußte. 
Und ſo iſt es wohl auch am beſten. Man hat doch nur einen 
Gott, kommt man nicht aus mit Ihm, zu wem ſoll man dann 
gehen. Sieh hier die Notwendigkeit, von der einzelnen Sünde 
und dem einzelnen Irren her zu verſtehen, daß da ein Zu⸗ 
ſammenhang iſt, ein unergründlicher Zuſammenhang. Will 
einer zu dir ſagen, mein Zuhörer, daß es auf dieſe Weiſe nichts 
helfe, Aufrichtigkeit erwerben zu wollen, da doch ſelbſt der, 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


welcher am redlichſten ſtrebt, allzeit | ſich ſelbſt etwas unklar 
bleibt, dann tu du, gleich wie der Redende, ſei wie der, welcher 
es überhaupt nicht gehört hatte. Wohl iſt der Redende kein 
Schnelläufer, aber wahrlich er wird ſich auch nicht aufhalten 
laſſen von Feigheit oder von einer feigen Mißgunſt, die die 
Gleichheit im Mittelmäßigen haben will, und die Feurigkeit 
des Geiſtes in Schläfrigkeit, und die Begeiſterung, die ohne 
Lohn dient, in die Gemeinſchaft ſchlechten Gewinns verwandelt 
haben will. Daß ſie da iſt, dieſe Erbärmlichkeit, die nichts 
Beſſeres ertragen kann als dieſe hämiſche Freundſchaft, die 
aufhalten will, das weißt du, mein Zuhörer, aber ſtreite nicht 
mit ihr; hier iſt auch nicht der Ort, wo du ſtreiten ſollſt; 
ſchon mit ihr zu ſtreiten iſt ein Sieg für ſie. Oh, ſuche lieber 
die Vergeſſenheit des Schweigens, in ihr bekommſt du ganz 
andere Dinge zu wiſſen über die eigene Schuld! 

So iſt Aufrichtigkeit ſchwer; es iſt leichter, ſich im Gewimmel 
der Menſchen zu verſtecken und ſeine Schuld zu ertränken in 
der des Geſchlechts, leichter ſich vor ſich ſelber zu verſtecken als 
offenbar zu werden vor Gott in Aufrichtigkeit. Denn, wie ge⸗ 
ſagt, dieſe Aufrichtigkeit iſt wohl nicht ein fortwährendes Auf⸗ 
zählen, aber ſie iſt auch nicht die Unterſchrift eines Namens 
auf einem Stück weißen Papiers, das namentliche Zugeſtehen 
einer leeren Allgemeinheit; und ein Beichtender iſt nicht einer, 
der ſich haſtig eee im ungeheuren Schuldbuch des 
Geſchlechts. 

Aber ohne Aufrichtigkeit keine Reue. Denn der Reue ekelt 


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Aus Anlaß einer Beichte 


vor der leeren Allgemeinheit, aber ſie iſt auch nicht ein klein⸗ 
licher Rechenmeiſter im Dienſt eines Kleinmütigen, ſondern 
ein ernſter Beobachter vor Gott. Eine inhaltsloſe Allgemeinheit 
bereuen iſt ein Widerſpruch, wie der, die tiefſte Leidenſchaft 
zu einer Oberflächlichkeit als Gaſt zu entbieten, aber mit der 
Reue ſich feſtbeißen in eine Einzelheit heißt auf eigene Ver⸗ 
antwortlichkeit bereuen, nicht vor Gott, und den Vorſatz ab⸗ 
matten iſt Eigenliebe in Schwermut. Oh, als ob es ſo leicht 
wäre zu bereuen: lieben und ſeine Erbärmlichkeit tiefer und 
tiefer fühlen, lieben, während man die Strafe erleidet, lieben 
und doch die Strafe nicht zu einem Geſchick umfälſchen wollen, 
lieben und doch nicht im geheimen Bitterkeit verſtecken, als 
litte man Unrecht, lieben und es doch nicht laſſen wollen, hin⸗ 
zuſuchen zu dem heiligen Urſprung dieſes Schmerzes! 

So weiß der, welcher ſeine Sünde bedenkt, auch, daß es 
Unterſchiede gibt in den Sünden. Das weiß er ja von ſeiner 
Kinderlehre, und dies bedenkt ein jeder am beſten ſelber. Es 
iſt wohl auch in der Welt vorgekommen, daß man durch eine 
Rede, die mit den Farben des Entſetzens die Sünde im allge⸗ 
meinen ſchilderte, ein entſetzliches Verhältnis zu einer einzelnen 
Sünde wiedererkannte. Aber religiöſe Ausſchweifungen ſind 
doch die furchtbarſten. Eine ſolche Rede hat vielleicht die 
Reineren erſchreckt, hat eine Angſt geboren in der Seele eines 
Unſchuldigeren, eine Angſt, die darinnen blieb. Wozu auch eines 
Redners Schreck; nur mit ſich ſelbſt verſteht doch ein Menſch, 
daß er ſchuldig iſt. Der, welcher es fo nicht verſteht, mißverſteht 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


doch; und der, welcher es verſteht, er wird wohl auch die ſchwere 
oder die mildere oder die raſch zu vorkommende Erklärung fin⸗ 
den, ganz wie er ſie verdient hat. Aber abſcheulich iſt es ja 
doch, wenn einer, weil er ſelber die ſchwere Strafe der furcht⸗ 
bareren Sünde tragen mußte, daraus Vorteil zu neuer Sünde 
ziehen wollte: ſchrecken zu können. Ach, der Ablaß des Leicht⸗ 
ſinns iſt wohl eine neue Sünde, aber die gottloſe Auferlegung 
dunkler Leidenſchaften iſt auch eine neue Sünde! Und du, mein 
Zuhörer, du weißt, daß der Ernſt iſt, allein zu werden vor dem 
Heiligen, ob es nun ſo iſt, daß der Beifall der Welt draußen 
bleiben ſoll, oder ſo, daß die Anklagen der Welt verſchwinden 
ſollen; denn ob wohl jene Sünderin die Schuld tiefer fühlte, 
als die Schriftgelehrten ſie anklagten, denn als da kein An⸗ 
kläger mehr war, und ſie allein ſtand vor dem Herrn! Aber 
du weißt auch, daß der am gefährlichſten betrogen iſt, der von 
ſich ſelber betrogen wird, daß deſſen Zuſtand am bedenklichſten 
iſt, der betrogen wird vom vielen Wiſſen, weiter, daß es eine 
traurige Schwachheit iſt, ſeinen Troſt im Leichtſinn eines 
anderen zu haben, aber auch eine traurige Schwachheit, ſeinen 
Schrecken aus der Schwermut eines anderen zu ziehen. Laß Gott 
darüber allein entſcheiden, Er weiß doch am beſten alles einzu⸗ 
richten für den, der allein wird dadurch, daß er Ihn ſucht. 

— Und hier iſt der Ort dazu, mein Zuhörer, du weißt, wo, 
und hier iſt die Gelegenheit, mein Zuhörer, du weißt, wie, und 
hier iſt der Augenblick, der da heißt: heute noch. 

Hier endet dieſe Rede im Bekenntnis der Sünden. Aber 


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Aus Anlaß einer Beichte 


kann das auch ein Ende ſein: ſoll nun die Freude hier nicht 
ſiegen; ſoll die Sünde nur gehen mit dem Leide; ſoll die Seele 
hier beklemmt ſitzen, aber die Harfe der Freude nicht geſtimmt 
werden? Du pflegſt vielleicht mehr zu wiſſen zu bekommen, du 
weißt wohl ſelbſt viel mehr, ſo ſuche denn den Fehler bei der 
Rede und dem Redenden. Biſt du wirklich weiter, fo laß dich 
nicht aufhalten; aber wenn nicht, oh, ſo bedenke, daß man furcht⸗ 
bar betrogen iſt, wenn man betrogen wird vom vielen Wiſſen. 
Laß uns einen Steuermann uns denken und annehmen, daß 
er mit Auszeichnung alle Prüfungen beſtanden habe, aber daß 
er doch noch nie draußen geweſen war — denk ihn dir in einem 
Sturm: er weiß alles, was er zu tun hat, aber er kannte nicht 
den Schrecken, der den Seefahrer ergreift, wenn die Sterne 
ausbleiben in der Finſternis der Nacht; er kannte ſie nicht, die 
Ohnmacht, mit der der Steuermann ſieht, daß das Rohr in 
ſeiner Hand ein Spielzeug iſt für das Meer; er wußte nicht, 
wie das Blut zum Kopfe ſtürmt, wenn man in einem ſolchen 
Augenblick Berechnungen anſtellen ſoll: kurz, er hatte keine 
Vorſtellung von der Veränderung, die mit dem Wiſſenden vor⸗ 
geht, wenn er ſein Wiſſen gebrauchen ſoll. Was ruhiges Wetter 
iſt für den Seemann, das iſt für den einzelnen Menſchen: hinzu⸗ 
leben in ebener Fahrt mit den anderen und mit dem Geſchlecht, 
aber die Entſcheidung, der gefahrvolle Augenblick des Be⸗ 
ſinnens, wenn er ſich herausnehmen ſoll aus der Umgebung 
und allein werden vor Gott und ein Sünder werden, das iſt 
eine Stille, die das Gewohnte verändert gleichwie der Sturm. 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Er weiß das alles, weiß, was ihm paſſieren ſoll, aber er wußte 
nicht, welche Angſt ihn da ergreife, wenn er ſich verlaſſen 
fühlte von dem Mannigfaltigen, worin er ſeine Seele hatte; 
er wußte nicht, wie das Herz klopft, wenn die Hilfe von anderen 
und die Anleitung von anderen und der Maßſtab von anderen 
und die Zerſtreuung durch andere verſchwinden in der Stille; 
er wußte nichts von dem Grauen, wenn es zu ſpät iſt, um 
menſchliche Hilfe zu rufen, da keiner ihn hören kann: kurz, er 
hatte keine Vorſtellung davon, wie der Wiſſende verändert 
wird, wenn er ſein Wiſſen ſich aneignen ſoll. Sollte dies viel⸗ 
leicht auch dein Fall ſein, mein Zuhörer? Ich richte ja nicht, 
ich frage dich nur. Ach, während derer immer mehr und mehr 
werden, die ſo ſehr viel wiſſen, werden die ganz befahrenen 
Männer ſeltener und ſeltener! Aber ein ſolcher zu werden, das 
war's ja, was du einmal wünſchteſt. Du haſt nicht vergeſſen, 
was wir von der Aufrichtigkeit gegen ſich ſelbſt ſagten: daß 
man deutlich ſich daran erinnert, was man einmal werden 
wollte; und ſelber biſt du ja darauf bedacht, aufrichtig ſein zu 
wollen vor Gott im Bekenntnis der Sünden. Was war's alſo, 
das du wollteſt? Du wollteſt nach dem Höchſten ſtreben, die 
Wahrheit zu faſſen und zu ſein in ihr; du wollteſt weder Zeit 
noch Fleiß ſparen; du wollteſt allem entſagen, darunter doch 
wohl auch jedem Betrug. Wenn du auch das Höchſte nicht er⸗ 
griffeſt, du wollteſt dich doch ſichern, damit du deutlich mit dir 
ſelber wußteſt, wie weit du bis jetzt gekommen warſt, es zu 
erreichen. Ob dieſes auch noch ſo wenig war, du wollteſt doch 


166 


Aus Anlaß einer Beichte 


lieber treu ſein über wenigem als untreu über vielem; ob es 
ein einziger Gedanke war, und du der Arme wardſt unter den 
Reichen, die alles wiſſen, du wollteſt doch lieber treu ſein wie 
Gold — und das kann ja jeder, wenn er es will, denn das Gold, 
das gehört dem Reichen, aber treu wie Gold kann der Arme 
auch ſein. Und der, welcher treu war über wenigem, treu am 
Tage der Not, wenn die Rechnung abgeſchloſſen wird, treu im 
Verſtändnis ſeiner Schuld, treu in der Stille, wo kein Lohn 
winkt, ſondern die Schuld deutlich wird, treu in der Aufrich⸗ 
tigkeit, die alles bekennt, ſogar, daß dieſe Aufrichtigkeit doch 
mangelvoll iſt, treu in der Liebe der Reue, jener demütigen 
Liebe, deren Forderung die Selbſtanklage iſt: er ſoll wohl 
noch über mehr geſetzt werden. 

War! nicht das, was du wollteſt? Denn darüber, mein Zu⸗ 
hörer, ſind wir doch gewiß einig: daß im Verhältnis zum 
Weſentlichen das Können weſentlich das Tun⸗können iſt. 
Das Kind verſteht es anders, und wenn der Kleine an ſeiner 
Aufgabe lernt und nun vielleicht zu der erwachſenen Schweſter 
ſagt, ſie ſolle ihn überhören, ſie aber anderes zu tun hat und 
ihm antwortet: „Nein, mein lieber Bub, jetzt habe ich keine Zeit, 
aber lies die Aufgabe fünfmal durch, oder lies ſie lieber zehn⸗ 
mal und ſchlaf dann darüber, ſo kannſt du es morgen ausge⸗ 
zeichnet,“ ſo glaubt es das Kind, tut, wie ihm geſagt wurde, 
und kann es ausgezeichnet am nächſten Tag. Aber der Reifere 
lernt auf eine andere Weiſe. Und wenn auch einer die Heilige 
Schrift hernehmen und ſie auswendig lernen wollte, ſo könnte 


167 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


das wohl ſchön ſein, inſofern da etwas Kindliches in ſeinem 
Vorhaben war, aber weſentlich lernt der Altere nur durch die 
Aneignung, und weſentlich eignet er ſich das Weſentliche nur 
dadurch an, daß er es tut. Oh, mitten in aller Not ſchöne Freude 
über das Leben und über das Geſchlecht und darüber, ſelber 
ein Menſch zu ſein; oh, unter der Stille ſchöne Eintracht mit 
jedem! Oh, in der Einſamkeit ſchöne Gemeinſchaft mit allen! 
Denn es iſt nicht ſo, daß der eine Menſch nicht dasſelbe Weſent⸗ 
liche zur Aufgabe hat, wie der andere Menſch, ſo wenig wie 
das Außere eines Menſchen weſentlich verſchieden iſt von dem 
des anderen, ſondern es iſt ſo, daß jeder es ein wenig ver⸗ 
ſchieden und auf ſeine Weiſe verſteht. Und es iſt nicht ſo wie 
in der Verwirrung, daß es verſchiedene Wege gibt und ver⸗ 
ſchiedene Wahrheiten und neue Wahrheiten, ſondern es iſt ſo, 
daß es viele Wege gibt, die zu der einen Wahrheit führen, und 
jeder geht den ſeinen. Daher die Eigentümlichkeit, wenn das 
Weſentliche das Eigentum des Einzelnen wird, und dieſe Eigen⸗ 
tümlichkeit iſt dadurch bedingt, daß man es tut, wodurch ſie 
entdeckt wird. Sollte dieſe Rede trennend und ſtreitſüchtig ſein? 
Ganz ferne ſei ihr, von jener Eigentümlichkeit zu ſprechen, über 
die in der Welt geſtritten wird, gleichwie über andere Gaben 
des Glücks; nein, jeder, der etwas Weſentliches beſitzt dadurch, 
daß er es getan hat — er hat Eigentum und Eigentümlichkeit. 
Und ſo, um des Gegenſtandes der Rede zu gedenken: jene Stille 
ver ſtehen iſt ſo viel wie ſtill werden können. Und wo ſoll man 
es werden? Ja, hier iſt der Ort dazu, aber doch nicht äußerlich 


168 


Aus Anlaß einer Beichte 


und geradezu, denn bringt man die Stille nicht mit, ſo nützt 
der Ort nichts. Alſo, da iſt in einem gewiſſen Sinne kein Ort; 
oh, dieſes: in einem gewiſſen Sinn, ſchafft es nicht ſchon Un⸗ 
ruhe! Und wann braucht man dieſe Stille am meiſten? Wenn 
man am ſtärkſten bewegt iſt. Iſt dieſer Gedanke nicht imſtand, 
die Stille wegzujagen? Wo flieht man dann hin, um ſich ſelber 
zu entfliehen? Ja, will man fliehen, ſo entflieht man gerade 
der Stille. So iſt da nichts zu tun. Ja, will man gar nichts 
tun, ſo entflieht man wieder der Stille in die Stille des 
geiſtigen Todes. Oh, als ob das ſo leicht wäre, ſtill werden 
zu können! Nun lockt eine Sicherheit, weil ja noch genug Zeit 
iſt, nun eine Ungeduld, weil es zu ſpät iſt, nun eine winkende 
Hoffnung, nun eine verweilende Erinnerung, nun ein ſtürmen⸗ 
der Entſchluß, nun ein Echo des Urteils der Welt, das ſpottend 
dich einholt, als gingeſt du auf dem Weg dieſer Stille zur 
Wüſte des Betrugs, wo der Einſame umkommt; nun ein Echo 
vom Selbſtiſchen in dir, das ſtört durch Selbſtbewunderung; 
nun ein Vergleich, der zerſtreut; nun ein Überſchlag, der zer⸗ 
ſtreut; nun ein wenig Vergeßlichkeit mit Hilfe von Gedanken⸗ 
loſigkeit; nun etwas Vorſchuß mit Hilfe von Selbſtzuverſicht; 
nun eine abenteuerliche Vorſtellung von Gottes Unendlichkeit; 
nun Verſtimmtheit und Gedrücktheit dadurch, daß man dem 
Allwiſſenden anvertrauen ſoll, was Er doch weiß; nun ein leicht⸗ 
ſinniger Sprung, der nichts nützt; nun ein ſchwermütiger 
Seufzer, der die Schwermut nährt; nun etwas Wehmut, die 
betäubt; nun eine Klarheit, die überraſcht; nun eine Stille 


169 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


durch Pläne und Gedanken und geträumte Vorſätze und Phan⸗ 
taſiebilder anſtatt durch Schuld und Rechenſchaft und den Pakt 
des Vorſatzes mit der deutlichen Schuld und dem allwiſſenden 
Gott. Oh, als ob es ſo leicht wäre, ſtille zu werden! Ganz nahe 
dabei geweſen ſein und doch nach einer Truggeſtalt gegriffen 
haben und wieder anfangen ſollen — und alſo mit noch mehr 
Unruhe! Troſt gefunden haben bei einem anderen und nun ent⸗ 
decken, daß es ein Selbſtbetrug war, eine gefälſchte Stille, und 
alſo wieder anfangen ſollen mit noch mehr Unruhe! Geſtört 
worden ſein von der Welt, von einem Feind, von einem Freund, 
von einem falſchen Lehrer, von einem Heuchler, einem Spötter, 
und nun entdecken, daß dies ein Selbſtbetrug iſt, die Schuld 
auf einen anderen ſchieben zu wollen, und alſo wieder anfangen 
ſollen mit noch mehr Unruhe! Geſtritten haben, aus äußerſten 
Kräften wollen, und dann entdecken, daß man nichts vermag, 
daß man doch nicht ſelbſt dieſe Stille ſich geben kann, weil ſie 
Gott gehört! Will einer ſagen, daß dies der rechte Ausdruck 
ſei, daß man es nicht kann, ſo ſehe man wohl nach, ob es nicht 
die Schläfrigkeit iſt, die hier redet. Wohl iſt es nämlich wahr, 
ja ſelbſt ein Apoſtel zeugt ja davon, aber ob dieſes Zeugnis ein 
bloßer Einfall war, eine allgemeine Bemerkung in der Eile! 
oder war es nicht ſo ſchwer zu verſtehen, dieſes menſchliche 
Nichtsſein und ſein Bewußtſeinsleben darin zu haben, daß ſelbſt 
er, der Bevollmächtigte, der für ewig Entſchloſſene nicht allein 
damit war, ſondern einen Mithelfer brauchte, einen Engel 
Satans nämlich, der mit täglichen Erfahrungen und mit täg⸗ 


170 


Aus Anlaß einer Beichte 


lichem Leiden ihm heraushalf aus dem Sinnesbetrug, daß er 
nicht ſeine Weisheit habe im auswendig Gelernten, ſeinen 
Frieden in allgemeinen Verſicherungen, ſeine Zuverſicht zu 
Gott in einer Redensart. Oder hatte jemand den Apoſtel dies 
gelehrt, ſo daß er es nachſagen konnte? Man hat wohl früher 
ſchon in der Welt gehört, daß der Weiſe einen Engel hatte, 
der ihn führte oder warnte; hätte Paulus davon geredet, ſo 
könnte das auswendig gelernt ſein, aber daß der Weiſe einen 
Engel Satans braucht, das zu lernen hat gewiß lange Zeit 
gekoſtet. 

Doch ſoll die Rede nicht trennend und ſtreitſüchtig ſein. Was 
Gott verlangt von einem jeden, das bleibt wohl am beſten Gott 
überlaſſen. Und wenn der Arme oder der, welcher mühſelig 
arbeitet um ein kümmerliches Auskommen für ſich und die 
Seinen, und wenn der Dienende, deſſen meiſte Zeit einem 
anderen gehört, wenn dieſe, ach, wie es vielleicht ihnen ſelbſt 
vorkommt, nur nach karger Gelegenheit die Anliegen der Seele 
bedenken können, wer möchte zweifeln, wer wäre frech und ver⸗ 
meſſen genug, anſtatt Mitgefühl mit dieſer Verſchiedenheit des 
menſchlichen Lebens zu haben, dieſe ſogar in das Göttliche ein⸗ 
führen zu wollen: wer dürfte leugnen, daß der Segen Überfluß 
iſt, wie aller Segen Gottes! Aber, mein Zuhörer, wenn einer, 
ergriffen von jener vornehmen Krankheit, Ekel fände am 
Daſein, in geiſtiger Wichtigtuerei das Einfache verſchmähte und 
Furcht hätte, daß da nicht Aufgaben genug bleiben ſollten für 
ſeine vielen Gedanken, glaubſt du da nicht, daß dies das Wun⸗ 


171 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


derbare der Wahrheit iſt, daß der Einfältige ſie verſteht und 
doch der Weiſeſte ſie nicht ganz ergründet, und nicht ſchläfrig 
und matt wird durch dieſen Gedanken, ſondern gerade begeiſtert. 
Oh, darin ſind wir wieder einig, denn auch dieſes wird ver⸗ 
ſtanden in der Stille, wo jeder genug darüber zu denken be⸗ 
kommt, dadurch, daß er ſchuldig wird. 


172 


An einem Grab 


So iſt es denn vorbei! — Und wenn nun der, welcher hier 
zuerſt hintrat ans Grab, weil er der Nächſte iſt, wenn er nach 
der Rede kurzem Augenblick am Grab der Letzte geblieben iſt, 
ach, weil er der Mächſte iſt: ſo iſt es vorbei. Ob er hier außen 
bliebe, er erfährt doch nicht, was der Tote ſich vornimmt, denn 
der Tote iſt ein ſtiller Mann; ob er bekümmert ſeinen Namen 
riefe, ob er ſorgend ſitzen wollte und lauſchen, er erfährt doch 
nichts, denn im Grab iſt Schweigen, und der Tote iſt ein ſtiller 
Mann, und ob er erinnernd jeden Tag an das Grab ginge, der 
Tote erinnert ſich nicht ſeiner — denn im Grabe iſt keine Er⸗ 
innerung, nicht einmal an Gott. Siehe, das wußte der Mann, 
von dem man nun ſagen muß, daß er an nichts mehr ſich er⸗ 
innert, dem dies zu ſagen es jetzt zu ſpät wäre. Aber wie er es 
wußte, ſo tat er auch danach, und darum erinnerte er 
ſich Gottes, während er lebte. Sein Leben ging hin in ehr⸗ 
barer Unbemerktheit, nicht viele wußten von ſeinem Daſein, 
nur Einzelne unter den wenigen kannten ihn. Er war ein 
Bürger dieſer Stadt, ſtrebſam in ſeinem beſcheidenen Werk, 
verwirrte er niemand dadurch, daß er ſeine Pflichten gegen die 
Gemeinde verſäumte, verwirrte niemand durch unzeitige Be⸗ 


173 


Sören Kierkegaard Religidöfe Reden 


kümmerung um das Ganze. So ging Jahr über Jahr hin, 
einförmig, doch nicht leer; er ward Mann, er ward alt, er ward 
betagt: die Arbeit blieb ein und dieſelbe, ein und dieſelbe Be⸗ 
ſchäftigung in den verſchiedenen Lebensaltern. Er hinterläßt 
eine Frau, froh einſt, als ſie mit ihm ſich vereinte, nun eine 
alte Frau, die den Verlorenen beweint, eine rechte Witwe, die 
verlaſſen ihre Hoffnung auf Gott ſetzt. Er hinterläßt einen 
Sohn, der ihn lieben lernte und zufrieden zu ſein mit der 
Stellung und der Arbeit des Vaters; einmal froh als Kind im 
Hauſe des Vaters, fand er es als Jüngling niemals zu eng, 
nun iſt es ihm ein Sorgenhaus. — Nach dem Tod eines ſolchen 
unbemerkten Mannes fragt man nicht weit, und wenn Einer in 
geraumer Zeit vorbeigeht an dem Haus, wo er in Niedrigkeit 
wohnte, und ſeinen Namen lieſt über der Türe, weil das bür⸗ 
gerliche Geſchäft unter ſeinem Namen fortgeſetzt wird, ſo iſt 
es ja, als wäre er nicht geſtorben. Wie er mild und in Frieden 
einſchlief, ſo iſt auch in ſeiner Umwelt ſein Tod ein Fortgang 
in Stille. Brav als Bürger, redlich in ſeinem Erwerb, ſpar⸗ 
ſam in ſeinem Haus, wohltätig nach Kräften, teilnehmend in 
| Aufrichtigkeit, ſeinem Weibe treu, feinem Sohn ein Vater: 
ſieh, all dies, und die Wahrheit, mit der das hier geſagt werden 
kann, ſpannt nicht die Erwartung auf einen bedeutungsvollen 
Ausgang, hier iſt es das Unternehmen eines ganzen Lebens, 
für das ein ruhiger Tod der ſchöne Ausgang wurde. — Doch 
hatte er noch ein Werk; es wurde ausgeführt mit derſelben 
Treue in der Einfalt des Herzens: er erinnerte ſich Gottes. 


174 


An einem Gr a b 


Er war Mann, alt, er ward betagt, fo ſtarb er, aber die Er- 
innerung an Gott blieb dieſelbe, eine Wegleitung in all ſeinem 
Vorhaben, eine ſtille Freude in der frommen Betrachtung. Ja, 
wäre da auch keiner, der ihn im Tode vermißte, ja, wäre er 
jetzt nicht bei Gott, ſo würde Gott ihn vermiſſen im Leben und 
ſeine Wohnung kennen und ihn dort ſuchen, denn der Ver⸗ 
ſtorbene wandelte vor Seinem Antlitz und war beſſer gekannt 
von Ihm als von irgendeinem andern. Er erinnerte ſich Gottes, 
und er ward tüchtig in ſeiner Arbeit, er erinnerte ſich Gottes 
und ward froh in ſeiner Arbeit und froh im Leben, er erinnerte 
ſich Gottes und er ward glücklich in ſeinem beſcheidenen Heim 
mit ſeinen Lieben, er verwirrte keinen durch Gleichgültigkeit 
gegen einen öffentlichen Gottes dienſt, er verwirrte keinen durch 
unziemlichen Eifer, aber das Haus Gottes ward ihm ein zweites 
Heim — nun iſt er heimgekehrt. 

Aber im Grabe iſt keine Erinnerung — darum bleibt ſie 
zurück, ſie bleibt bei den beiden, die ihm lieb waren im Leben: 
ſie werden ſich ſeiner erinnern. Und wenn nun der, welcher hier 
zuerſt hintrat ans Grab, weil er der Nächſte iſt, nach der Rede 
kurzem Augenblick am Grab der Letzte geblieben iſt, weil er 
ja der Mächſte iſt, wenn er erinnernd von hier weggeht, fo geht 
er heim zu der trauernden Witwe! und der Name über der Türe 
wird zu einer Erinnerung. So wird in einiger Zeit hie und 
da ein Kunde kommen, der zufällig oder mehr teilnehmend 
nach dem Manne fragt: und wenn er von ſeinem Tode hört, 
wird der Kunde ſagen: ſo, er iſt geſtorben. Und wenn ſo alle 


175 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


die alten Kunden das einmal getan haben, ſo hat das Leben 
der Umwelt kein Mittel mehr, um die Erinnerung an ihn zu 
bewahren. Aber die alte Witwe wird keine Mahnung brauchen, 
um zu erinnern, und der ſtrebende Sohn wird keine Verzögerung 
darin finden, zu erinnern. Und wenn ſo keiner mehr nach ihm 
fragt, wird doch der Name über der Türe, wenn das Haus 
nicht ſichtbar ein Sorgenhaus iſt, wenn auch im Hauſe das Leid 
gemildert iſt und das tägliche Entbehren mit dem Troſt die 
Erinnerung eingeübt hat: ſo wird der Name über der Türe 
für die beiden bedeuten, daß auch ſie ein Werk mehr zu tun 
haben: ſich zu erinnern des Verſtorbenen. 

Nun iſt die Rede zu Ende. Nur eine Handlung bleibt zurück: 
mit drei Spaten Erde den Toten zu weihen, wie alles, was 
von Erde gekommen iſt, wieder zu Erde — und nun iſt es vorbei. 


* 


Die Rede ohne Vollmacht kann nicht in ſolcher Weiſe Ernſt 
machen, kein Toter wartet auf ſie, damit alles vorbei ſein kann. 
Aber deshalb kann einer doch auf die Rede achten. Denn der 
Tod ſelber hat ſeinen Ernſt; das Ernſte liegt nicht in der Be⸗ 
gebenheit, nicht im Außeren: daß nun wieder ein Menſch tot 
iſt, ſo wenig wie der Unterſchied des Ernſtes darin liegt, daß es 
viele Wagen gab, ja ſo wenig wie jene milde Stimmung, die 
nur gut von den Toten reden will, Ernſt iſt oder auch nur im 
entfernteſten jenen zufrieden ſtellen könnte, der ernſtlich ſeinen 
eigenen Tod bedenkt. Der Tod gerade kann lehren, daß der 


176 


Un einem Grab 


Ernſt im Inneren liegt, im Gedanken, kann lehren, daß es 
nur ein Sinnesbetrug iſt, wenn leichtſinnig oder ſchwermütig 
auf das Außere geſehen wird, oder wenn der Betrachter tief— 
ſinnig über dem Gedanken des Todes an ſeinen eigenen Tod 
zu denken und ihn zu bedenken vergißt. Will man recht einen 
Gegenſtand für den Ernſt nennen, dann nennt man den Tod, 
und „des Todes ernſten Gedanken“; und doch iſt es, als läge 
hier ein Scherz zugrunde für den Tod, und dieſer Scherz, ver⸗ 
ſchieden in Stimmung und Ausdruck iſt das Weſentliche bei 
jeder Betrachtung des Todes, wo der Betrachter nicht ſelbſt 
unter vier Augen mit dem Tode bleibt und ſich ſelbſt zu⸗ 
ſammendenkt mit ihm. Ein Heide hat geſagt, daß man den 
Tod nicht fürchten ſolle, „denn wenn er iſt, bin ich nicht, und ö 
wenn ich bin, iſt er nicht.“ Das iſt ein Scherz, mit dem der 
liſtige Betrachter ſich außerhalb ſtellt; aber ſelbſt wenn der 
Betrachter die Bilder des Grauens gebrauchte, um den Tod zu 
ſchildern, und eine kranke Einbildung erſchreckte, das iſt doch 
nur Scherz, wenn er bloß den Tod denkt, nicht ſich ſelbſt im 
Tode, wenn er ihn denkt als das Los des Geſchlechts, aber nicht 
als das ſeine. Der Scherz iſt, daß jene unerbittliche Macht 
gleichſam nicht Hand anlegen kann an ihre Beute; daß ein 
Widerſpruch bleibt; daß der Tod gleichſam ſich ſelber zum 
Narren hält. Denn die Sorge, wenn einer mit ihr den Tod ver⸗ 
gleichen will und wenn er ſie einen Bogenſchützen nennen will, 
wie der Tod einer iſt: die Sorge trifft nicht fehl, denn ſie trifft 
den Lebenden, und wenn ſie ihn getroffen hat, dann erſt beginnt 


12 177 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


die Sorge: aber wenn des Todes Pfeil getroffen hat, dann 
iſt es vorbei. Und die Krankheit, wenn einer mit ihr den Tod 
vergleichen will und wenn er ſie eine Schlinge nennen will, 
wie der Tod eine Schlinge iſt, in der das Leben ſich fängt: die 
Krankheit fängt wirklich, und wenn ſie den Geſunden gefangen 
hat, dann beginnt die Krankheit: aber wenn der Tod die 
Schlinge zuſammenzieht, ſo hat er ja nichts gefangen, denn 
dann iſt es vorbei. Doch hier liegt der Ernſt, und hierin iſt der 
Ernſt des Todes verſchieden von dem des Lebens, der ſo leicht 
einer Menſchen ſich ſelber betrügen läßt. Denn wenn einer 
ſeinen Gang geht, gebeugt in Unglück, in Leiden, in Krankheit, 
in Verkennung, in Dürftigkeit, mit kümmerlichen Ausſichten, 
da ſchließt er fehl, wenn er geradeswegs ſchließt, daß er ernſt 
ſei; denn Ernſt iſt nicht die einfache Wiederholung, ſondern die 
veredelte —, hier iſt er wieder das Innere und der Gedanke 
und die Aneignung. Oder wenn einer geſchäftig iſt in weit⸗ 
läufigen Unternehmungen, vielleicht über Viele zu gebieten hat, 
vielleicht viele Bücher ſchreibt, vielleicht hohe Stellungen be⸗ 
kleidet, wenn einer vielleicht viele Kinder hat, oder oft mit dabei 
ſein muß in Lebensgefahr, oder den ernſten Beruf hat, Leichen 
einzukleiden, ſo ſchließt er fehl, wenn er daraus ohne weiteres 
ſchließt, daß er ernſt ſei, denn der Ernſt iſt im Eindruck, der 
Ernſt gehört dem inneren Menſchen, nicht dem Beruf. Der 
Tod dagegen iſt nicht in jenem Sinn eine Wirklichkeit, und 
wenn man erſt tot iſt, iſt es zu ſpät mit dem Ernſtwerden; 
und wenn man einen ſanften Tod fände, was eine ernſtere Zeit 


178 


An einem Grab 


als das größte Unglück betrachtete, weshalb auch das alte Gebet 
davon ſpricht, was aber eine neuere Zeit für das größte Glück 
anſieht —, ſo wäre einem ja geholfen. Des Lebens Ernſt iſt 
ernſt, und doch gibt es ohne die Veredelung der Bewußtheit 
keinen Ernſt des Außeren, hier liegt die Möglichkeit der Täu⸗ 
ſchung; der Ernſt des Todes iſt ohne Betrug, denn es iſt nicht 
der Tod, der ernſt iſt, ſondern der Gedanke an den Tod. 
Wenn einer deshalb den Gedanken feſthalten will und nicht 
auf andere Weiſe ſich um die Betrachtung kümmert als indem 
er an ſich ſelber denkt, ſo ſoll auch die unmündige Rede durch 
ihn eine ernſte Sache werden. Sich ſelbſt tot denken iſt der 
Ernſt; Zeuge fein bei eines andern Tod iſt Stimmung. Es iſt 
der leichte Anſtrich von Wehmut, wenn der Vorübergehende 
ein Vater iſt, der ſein Kind zum letzten Male trägt, da er es 
zum Grabe trägt; oder wenn der ärmliche Leichenwagen vor⸗ 
überfährt, und man nichts weiß vom Toten, nur daß er ein 
Menſch war; es iſt Wehmut, wenn Jugend und Geſundheit 
des Todes Beute werden, wenn viele Jahre danach das Bild 
der Schönheit auf der verfallenen Erinnerungstafel ſteht über 
dem Grab, umwachſen von Unkraut; es iſt Ernſt in der Stim⸗ 
mung, wenn der Tod hineingriff in die eiteln Geſchäfte und 
nach dem Toren griff, angetan mit dem eitelſten Prunk, nach 
dem Toren in ſeinem eitelſten Augenblick; es iſt der Seufzer 
über des Lebens Spott, wenn der Tote das gewiſſe Verſprechen 
gegeben hatte und ohne Schuld zum Betrüger ward, weil er 
bloß vergeſſen hatte, daß der Tod das einzige Gewiſſe iſt; es 


179 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


iſt Sehnſucht nach dem Ewigen, wenn der Tod nahm und wieder 
nahm und nun den letzten Ausgezeichneten nahm, den du 
kannteſt; es iſt einer Seelenkrankheit Fieberhitze oder ihr kalter 
Brand, wenn einer ſo vertraulich ward mit dem Tod und mit 
dem Verluſt der Mächſten, daß das Leben ihm den Geiſt ver⸗ 
zehrte; es iſt das reine Leid, wenn der Tote dir gehörte; es ſind 
der unſterblichen Hoffnung Geburtswehen, wenn es deine Ge⸗ 
liebte war; es iſt des Ernſtes erſchütternder Durchbruch, wenn 
es dein einziger Führer war und die Einſamkeit dich packte: 
aber, ob es dein Kind war, ob deine Geliebte, und ob es dein 
einziger Führer war, es iſt doch Stimmung; und ob du gerne 
ſelbſt in den Tod gehen wollteſt für ſie, auch das iſt Stimmung; 
und ob du meinſt, daß das leichter ſei, ſiehe, auch das iſt Stim⸗ 
mung. Der Ernſt iſt, daß einer den Tod denkt, ihn als ſein 
eigenes Los denkt, und daß er ſo fertig bringt, was ja der Tod 
nicht vermag: daß er iſt und der Tod auch iſt. Denn der Tod 
iſt der Lehrmeiſter des Ernſtes, und daran erkennt man ſeine 
ernſte Unterweiſung, daß er es dem Einzelnen überläßt, ſich 
ſelber aufzuſuchen, um eben dann den Ernſt zu lernen, wie er 
nur gelernt wird im Menſchen ſelbſt. Der Tod tut ſein Geſchäft 
im Leben, er läuft nicht herum wie in der Vorſtellung des 
Furchtſamen und wetzt die Senſe und ſchreckt Weiber und Kin⸗ 
der, als wäre dies Ernſt. Nein, er ſagt: Ich bin da, will einer 
von mir lernen, ſo komme er zu mir. Nur ſo beſchäftigt der 
Tod im Ernſt, im übrigen nur in Stimmung durch ſinnreiche 
Gedanken, durch ſeinen Tiefſinn, oder im Scherz in aufge⸗ 


180 


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An einem Grab 


räumten Einfällen, oder niederbeugend mit tiefem Leid, das 
doch in ſeinem leidendſten Ausdruck nicht Ernſt iſt, denn der 
Ernſt würde gerade lehren, Maß zu halten mit Sorgen und 
Klagen. 

Ein Dichter erzählt von einem Jüngling, der in der Nacht 
der Jahreswende im Traume als Greis zurückſah auf ſein ver⸗ 
ſpieltes Leben; bis er in Angſt erwachte am Neujahrsmorgen, 
nicht bloß zu einem neuen Jahr, ſondern zu einem neuen Leben: 
ſo wachend den Tod denken, denken, was ja entſcheidender iſt, 


als das Greiſenalter, das doch auch ſeine Zeit hat, denken: es 


war vorbei, daß alles verloren iſt mit dem Leben, um nun im 
Leben alles zu gewinnen — das iſt Ernſt. Es war ein Kaiſer, 
der unter Beobachtung aller äußeren Gebräuche ſein Begräbnis 
feiern ließ. Was er tat, war vielleicht nur Ausfluß einer Stim⸗ 
mung, aber Zeuge ſein ſeines eigenen Todes, Zeuge, wie der 
Sarg geſchloſſen wird, Zeuge, wie alles, was weltlich und 
irdiſch den Sinn füllt, aufhört im Tode: das iſt Ernſt. Zu 
ſterben iſt ja jedes Menſchen Los und ſo eine gar geringe 
Kunſt, aber gut ſterben können iſt doch die höchſte Lebens⸗ 
weisheit. Worin liegt der Unterſchied? Darin, daß in dem 
einen Fall der Ernſt der des Todes iſt, in dem andern der 
des Sterbenden. Und die Rede, die den Unterſchied macht, kann 
ſich ja nicht an den Toten wenden, ſondern nur an den Lebenden. 
So ſoll die Rede handeln von der 


Entſcheidung des Todes. 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Und darin ſind wir einig, daß eine fromme Rede niemals 
zwieſpältig ſein darf oder uneins mit anderem, als mit dem, 
was gottlos iſt. Wenn alſo der Arme, der Dienende, der des 
ſeltenen Feiertags wenige Stunden ſparſam anwenden muß, 
hinausgeht zu einem Grab, um ſich eines Verſtorbenen zu er⸗ 
innern und nun auch ſeinen eigenen Tod zu bedenken, wenn ein 
ſolcher ſich helfen muß nach karger Gelegenheit, ſo daß der Gang 
hinaus zugleich ein Lebensgenuß wird; daß der Aufenthalt 
draußen zugleich eine fröhliche und wohltuende Zerſtreuung 
iſt nach der vielen Tage Mühe, ſo daß die Zeit draußen hingeht 
mit der Freude über die Freiheit und über die Umgebung, als 
ſuchte er in einer ſchönen Gegend Erfriſchung, als wäre der Gang 
bloß zur Luſt und zu vereinter Freude — da ſind wir einig, 
daß ein ſolcher Menſch in ſeiner Einfalt die Gegenſätze ſchön 
vereint (was nach der Weiſen Wort die höchſte Schwierigkeit 
iſt), daß ſein Erinnern dem Verſtorbenen teuer iſt, mit Freude 
angenommen im Himmel, und daß ſein Ernſt gleich preiſens⸗ 
wert iſt, Gott ebenſo wohlgefällig, ihm ſelbſt ebenſo dienlich 
wie der Ernſt deſſen, der mit ſeltenen Gaben Tag und Nacht 
anwandte, um des Todes ernſten Gedanken einzuüben in ſeinem 
Leben, ſo daß er nun innehielt und wieder innehielt, um eitlem 
Tun zu entſagen, nun angefeuert ward und wieder angefeuert, 
zu eilen auf dem Weg des Guten, nun ſich der Schwatzhaftig⸗ 
keit und der Betriebſamkeit im Leben entwöhnte, um Weisheit 
in Stille zu lernen, nun lernte, nicht zu ſchaudern vor Ge⸗ 
ſpenſtern und menſchlichen Erfindungen, ſondern vor der Ver⸗ 


182 


An einem Grab 


antwortung des Todes, nun, nicht die zu fürchten, die den Leib 
totſchlagen, ſondern ſich zu fürchten vor ſich ſelbſt und davor, 
ſein Leben zu haben in der Eitelkeit, im Augenblick, in der 
Einbildung. Wir wollen ihn preiſen, daß er herrlich die ihm 
vergönnten Gaben gebrauchte; wenn er dagegen von dem täg⸗ 
lichen, herrlichen Tun ſich einen Feiertag machte, um mit Luſt 
den Gedanken zu genießen, daß er beſſer ſei, als der Einfältige, 
der weder ſolche Zeit noch ſolche Gabe hatte, Gott wohlge⸗ 
fälliger, als täte Gott eitel Unrecht und weigerte dem Einen 
Zeit und Talent, alſo des Glückes Gabe, als machte er dann 
wieder, wie Menſchen zuweilen in Gedankenloſigkeit grauſam 
handeln, den Mangel zu einer Schuld: ach, welcher Unterſchied 
zwiſchen ſeinem ſeltenen Feiertag und dem des Einfältigen, 
wenn jener alles verſpielt, und der Einfältige alles gewinnt! 
Nein, aller Vergleich iſt doch nur Spaß, und ein eitler Ver⸗ 
gleich ein ſorgenvoller Spaß. Hätte auch jener Begünſtigte 
lange Zeit, der Ernſt und der Tod würden ihn doch lehren, 
daß er keine zu verſpielen habe, noch weniger, alles zu verſpielen. 
Sollte dagegen einer hurtig fertig geworden ſein auch mit dem 
Gedanken des Todes, wie mit allen andern Gedanken, und vor⸗ 
nehm vielleicht ſich ſorgen, daß in dieſem armſeligen und ein⸗ 
förmigen Leben nicht genug zu denken übrig bleibe für einen 
ſolchen hurtigen Denker, da ſind wir einig, daß dies das Eigen⸗ 
tümliche iſt bei jedem Gegenſtand, wenn er es für eine fromme 
Betrachtung wird, daß dem Einfältigen ſofort zum richtigen 
Ver ſtändnis verholfen wird, und daß der meiſt Begabte freudig 


183 


* 


8 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ein ganzes Leben anwendet, wenn er auch geſteht, daß er weder 
alles ganz verſtanden, noch ganz in Vollkommenheit den Ge⸗ 
danken eingeübt habe in ſeinem Leben. Denn der, welcher ohne 
Gott iſt in der Welt, er wird wohl raſch ſeiner ſelbſt über⸗ 
drüſſig und drückt dies vornehm ſo aus, daß er des ganzen 
Lebens überdrüſſig ſei, aber wer in Einigkeit iſt mit Gott, er 
lebt ja zuſammen mit Dem, deſſen Gegenwart ſelbſt dem Un⸗ 
bedeutendſten unendliche Bedeutung gibt. 

Über die Entſcheidung des Todes muß nun zuerſt geſagt 
werden, daß ſie entſcheidend iſt. Die Wiederholung des 
Wortes iſt das Bezeichnende und die Wiederholung ſelbſt erinnert 
daran, wie wortknapp der Tod iſt. Es gibt manche andere Ent⸗ 
ſcheidung im Leben, aber nur eine ſo entſcheidende, wie die des 
Todes. Denn alle Kräfte des Lebens vermögen nicht der Zeit 
Widerſtand zu leiſten, ſie reißt ſie mit ſich, ſelbſt die Erinnerung 
iſt in der Zeit. Und der Lebende hat es nicht in ſeiner Macht, 
die Zeit aufzuhalten, Ruhe zu finden außerhalb der Zeit in 
einem vollkommenen Abſchluß, im Abſchluß der Freude, als 
gäbe es kein Morgen, im Abſchluß des Leids, als könnte es 
nicht um einen Tropfen noch bitterer werden, im Abſchluß der 
Betrachtung, als wäre die Meinung ganz aus und nicht die 
Betrachtung wieder ein Teil der Meinung, im Abſchluß der 
Rechenſchaft, als zöge der Augenblick der Rechenſchaft ſich nicht 
auch ſeine Verantwortung zu. Der Tod dagegen hat dieſe 
Macht; er pfuſcht nicht drauflos, als bliebe doch noch ein wenig 
übrig, er jagt nicht nach der Entſcheidung, wie der Lebende es 


184 


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An einem Grab 


tut, er macht Ernſt damit. Wenn er kommt, heißt es: bis hier⸗ 
her, nicht einen Schritt weiter; dann iſt abgeſchloſſen, nicht ein 
Buchſtabe wird hinzugefügt; ſo iſt die Meinung aus, nicht ein 
Laut mehr ſoll gehört werden — ſo iſt es vorbei. Iſt es un⸗ 
möglich, all die unzähligen Ausſagen der Lebenden über das 
Leben in einer einzigen zu einen, alle die Toten einigen ſich in 
einer Ausſage, in einer einzigen für den Lebenden: ſteh ſtille. 
Iſt es unmöglich, all die unzähligen Ausſagen der Lebenden 
über ihres Lebens Streben in einer einzigen zu einen, alle die 


Toten einigen ſich in einer, in einer einzigen: jetzt iſt's vorbei. 


Das vermag der Tod. Er iſt auch nicht ein unerfahrener 
Jüngling, der die Senſe nicht zu gebrauchen verſteht, daß einer 
ihn verblüffen könnte. Hab' einer welche Vorſtellung er will, 
eine eingebildete oder eine wahre, von ſeinem Leben, von ſeiner 
Wichtigkeit für alle, von ſeiner Wichtigkeit für ſich ſelber: der 
Tod hat keine Vorſtellung davon und achtet nicht auf ſolche 
Vorſtellungen. Sollte einer müde ſein der Wiederholung, 
dann wohl der Tod, der alles geſehen hat und wieder und wieder 
dasſelbe. Selbſt den in Jahrhunderten ſeltenen Tod hat er 
viele Male geſehen, dagegen hat niemals ein Sterbender den 
Tod die Farbe wechſeln ſehen, ihn erſchüttert geſehen beim An⸗ 
blick, die Senſe zittern ſehen in ſeiner Hand, die Spur einer 
Mienen veränderung bemerkt in feinem ruhigen Antlitz. Und der 
Tod iſt auch nicht ein alter Mann geworden, der geſchwächt 
vom Alter unſicher ſchwankte, der nicht genau weiß, wieviel 
die Uhr geſchlagen hat, oder mitleidig ward aus Schwachheit. 


185 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Oh, wenn einer ſich rühmen darf, unverändert zu ſein, dann 
wohl der Tod: er wird nicht bleicher und nicht älter. 

Doch ſoll die Rede ja nicht den Tod lobpreiſen, ſo wenig 
wie ſie die Phantaſie in Bewegung ſetzen ſoll. Daß der Tod 
es abmachen kann, iſt gewiß, aber die Aufforderung des Ernſtes 
an den Lebenden iſt, es zu denken, zu denken, daß es vorbei iſt, 
daß eine Zeit kommt, da es vorbei iſt. Das iſt ſchwierig; denn 
{ ſelbſt im Augenblick des Todes ſcheint es wohl dem Sterbenden, 
daß er noch einige Zeit zu leben haben könnte, und man fürchtet 
ſogar, ihm zu ſagen, daß es vorbei iſt. Und nun der Lebende! 
Solange er vielleicht in Geſundheit lebt, in Jugend, in Glück, 
in Macht — geſichert alſo, ja, gut geſichert, wenn er ſich nicht 
einſchließen will mit dem Gedanken des Todes, der ihm er⸗ 
klärt, daß dieſe Sicherheit Betrug iſt. Es gibt einen Troſt, 
einen falſchen Schmeichler, einen heuchleriſchen Betrüger, der 
heißt: Aufſchub. Aber er wird ſelten bei ſeinem rechten Namen 
genannt, denn ſelbſt wenn man ihn nennen will, ſchleicht er ſich 
noch ein in das Wort, und das Wort wird ein wenig milder, 
und der gemilderte Name iſt ja auch ein Aufſchub. Jedoch iſt 
keiner, der ſo den Ekel lehren kann vor dem Schmeichler und 
den Betrüger zu durchſchauen vermag wie des Todes ernſter 
Gedanke. Denn Tod und Aufſchub vertragen ſich nicht; ſie ſind 
Todfeinde, aber der Ernſte weiß, daß der Tod der Stärkere iſt. 

So iſt es vorbei. Ob es das Kind war mit der Forderung 
| auf da das ganze Leben, ob es vor ſich hinweinte — jetzt iſt's vorbei, 
\ | nicht ein Augenblick wird zugeſtanden. Ob es der Jüngling war 


186 


. 


An einem Grab 


mit ſeinen ſchönen Hoffnungen, ob er für ſich bat bloß um die 
Erfüllung einer einzigen — jetzt iſt's vorbei, nicht ein Heller 
für ſeine Forderung ans Leben wird bezahlt. Ob ein Weniges 
mangelte an des Mannes ruhmreichem Werk, und ob es einer 
Welt Wunderwerk war, und ob die ganze Menſchheit es miß⸗ 
verſtehen würde, weil der Schluß fehlte — jetzt iſt's vorbei, 
die Arbeit nicht vollendet. Ob es ein einziges Wort war, das 
ihm ein Leben bedeutet hatte, ob er ein ganzes Leben geben 
wollte, um es ſagen zu dürfen —, jetzt iſt's vorbei, das Wort 


blieb ungeſagt. 


So iſt es mit der Entſcheidung des Todes vorbei, es iſt 
Ruhe; nichts, nichts ſtört den Toten; ob jenes kleine Wort, ob 
jener mangelnde Augenblick den Todeskampf unruhig machten, 
es ſtört den Toten nicht mehr; ob die Verſchweigung jenes 
kleinen Wortes vieler Lebenden Leben ſtörte, ob jenes rätſelvolle 
Werk wieder und wieder den Forſcher beſchäftigte: den Toten 
ſtört es nicht. So iſt die Entſcheidung des Todes wie eine 
Nacht, die Nacht, die kommt, da man nicht arbeiten kann; und 
ſo hat man den Tod eine Nacht genannt, und die Vorſtellung 
noch milder gemacht, indem man ihn einen Schlaf nannte. Und 
es ſoll ja Ruhe geben dem Lebenden, wenn er ſchlaflos ver⸗ 
gebens den Schlaf ſucht auf dem Nachtlager, wenn er ſich 
ſelber fliehend vergebens ein Verſteck ſucht, wo das Bewußt⸗ 
ſein ihn nicht entdeckt, wenn der Geplagte müde an Leib und 
Seele vergebens eine Stellung ſucht, die Linderung gibt, da 
er nicht ſtille ſtehen kann vor der Unraſt des Schmerzes und 


187 


Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


nicht gehen vor Müdigkeit: es ſoll Ruhe geben, zu denken, daß 
es doch eine Stellung gibt, in welcher der Angeſtrengte die Ruhe 
findet, ein Lager, wo er ſtille ruht, einen Schlaf, der ihn nicht 
flieht, ein Verſteck, wo das Bewußtſein draußen ſteht, wo 
ſelbſt die Erinnerung draußen bleibt wie ein Windhauch in den 
Zweigen, einen Teppich, den der ſtille Mann nicht abwirft, 
unter dem er ruhig ſchläft! Es ſoll Ruhe geben, wenn einer 
in der Jugend ſchon müde geworden iſt und nur mit der Schwer⸗ 
mut umgeht, zu bedenken, daß er im Schoß der Erde ruhig 
und geborgen liegt; es ſoll Ruhe geben, dieſen Troſt zu be⸗ 
denken und ihn ſo zu denken, daß der Ewige ſchließlich allein 
der Unglücklichſte wird, der wie eine Wiegenfrau nicht ſchlafen 
darf, während alle wir andern doch einſchlummern dürfen! 

Indeſſen, das iſt Stimmung, und den Tod ſo denken iſt 
nicht Ernſt. Es iſt die Ausflucht der Schwermut, ſich aus dem 
Leben nach dem Tode zu ſehnen, und es iſt Aufruhr, ihn nicht 
fürchten zu wollen; es iſt die Schlauheit der Schwermut, nicht 
verſtehen zu wollen, daß es anderes zu fürchten gibt als das 
Leben, und daß deshalb eine andere Weisheit gefunden werden 
muß, die tröſten ſoll, als der Schlaf des Todes. Gewiß: iſt es 
Schwachheit, den Tod zu fürchten — dann iſt es ein aufge⸗ 
ſchminkter Mut, der ſich einbildet, den Tod nicht zu fürchten, 
wenn doch derſelbe Menſch das Leben fürchtet; es iſt die 
Schwachheit, die zu Bett will, der weibiſche Troſt, einzu⸗ 
ſchlafen, weibiſch durch den Schlaf dem Leiden entgehen zu 
wollen. 


188 


EVER TEE 


. * 


An einem Grab 


Ja, gewiß iſt der Tod ein Schlaf, und ſo wollen wir von 
jedem ſagen, der im Tode ruht, daß er ſchlafe, wir wollen 
ſagen, daß eine ſtille Nacht über ihm ſchatte, und daß nichts 
ihren Frieden ſtöre. Aber iſt denn kein Unterſchied zwiſchen 
Leben und Tod; und der Lebende, der feinen eigenen Tod be- 
denkt, er betrachte es anders. Wenn du ſelber es wäreſt, und 
du der Lebende, der es ſähe! Wer im Tode ſchläft, deſſen Wange 
rötet ſich nicht, wie die des Kindes im Schlafe; er ſammelt 
nicht neue Kraft, wie der Mann, der geſtärkt wird, der Traum 


beſucht ihn nicht freundlich, wie er den Greis beſucht im 


Schlafe! Wenn einer im Leben einen Fall ſieht, der dem Tode 
gleicht, was tut er dann? Er ruft den Ohnmächtigen an, weil 
ihm graut vor dieſem Zuſtand, wenn der Lebende ausſieht wie 
ein Toter. Iſt es denn ein Troſt, daß einer den Toten deshalb 
nicht anruft, weil es doch nichts helfen kann? Aber du biſt ja 
nicht tot, und will die Schwermut dich ſtärken mit Ohnmacht, 
die den einzigen Troſt im Todesſchlafe findet: dann rufe, dann 
ſchreie dich an, tu für dich ſelbſt, was du für jeden andern 
tun würdeſt, und ſuche nicht betrügeriſchen Troſt im Wunſche, 
daß es vorbei ſein möge! Es habe einer, welche er will, eine 
eingebildete oder wahre Vorſtellung von der Merkwürdigkeit 
ſeiner Leiden: ach, wenn einer müde ſein müßte, müde der 
Wiederholung der Klageſchreie, dann wohl der Tod; ſelbſt den 
in Jahrhunderten durch ſein Leiden ſeltenen Unglücklichen, ſelbſt 
deſſen Klageſchrei hat der Tod viele Male gehört, aber keiner, 
keiner hat davon vernommen, daß er den Tod bewogen habe, 


189 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


raſcher zu kommen! Und wenn ſein Schrei ihn bewegen könnte — 
iſt es denn wirklich ſeine Meinung, oder iſt es nicht eher der 
Widerſpruch, daß er doch nicht kommt, weil er ruft, der des 
Trotzes Selbſtgefühl ſtärkt; der Widerſpruch, der dem Furcht⸗ 
ſamen hilft, das Spiel des Mutes mit dem Schrecklichen zu 
ſpielen — wenn ſein Schrei und ſeine Sehnſucht den Tod be⸗ 
wegten, ob ein Menſch da nicht ſich ſelber betrog, wenn wir 
auch einen Augenblick die Verantwortung vergeſſen wollen, die 
allzeit bleibt? Was verſchaffte die Linderung, war es dies, daß 
es vorbei war, oder nicht vielmehr die Vorſtellung davon, die 
ja noch in der Macht der Schwermut, alſo in der Macht des 
Lebenden war — eine Zerſtreuung, eine Spielerei! Wer in den 
Tod ſchläft, der rührt ſich nicht, und wenn auch des Sarges 
Kleid nicht knapp um ihn ſich ſchlöſſe — er rührt ſich doch 
nicht; er wird zu Staub. Und der Gedanke daran, daß es vorbei 
iſt, der in der vorwitzigen Vorſtellung ſchwermütig der trotzigen 
Ohnmacht Erquickung brachte, oder tändelnd in Wehmut lin⸗ 
derte, der iſt ja bei dem Toten gar nicht. Er hat alſo keine 
Freude daran, daß es vorbei iſt: warum wünſchte er es dann 
ſo ſehr? Welch ein Widerſpruch! Alſo ſag einer, daß es ein 
großer Troſt ſei, in der Erde zu verfaulen! Aber weiß einer 
anderes vom Tode, dann weiß er auch anderes zu fürchten als 
das Leben. | 

Der Ernſt verſteht nun dasſelbe vom Tod, aber er verſteht 
es anders. Er verſteht, daß es vorbei iſt. Ob dieſes ſich, ge⸗ 
mildert in Stimmung, ſo ausdrücken läßt, daß der Tod eine 


190 


An einem Grab 


Nacht ſei, ein Schlaf, beſchäftigt ihn minder. Der Ernſt ver⸗ 
ſpielt nicht viel Zeit mit Rätſelraten, er ſitzt nicht in Betrach⸗ 
tungen verſunken, er umſchreibt nicht die Ausdrücke, er bedenkt 
nicht das Sinnreiche der Bilderſprache, er macht keine Abhand⸗ 


lung, ſondern er handelt. Iſt es gewiß, daß der Tod da iſt, 


wie er iſt; iſt es gewiß, daß es mit ſeiner Entſcheidung vorbei 


iſt; iſt es gewiß, daß der Tod ſelbſt ſich niemals darauf einläßt, | 


eine Erklärung zu geben: nun wohl, da gilt es, fich ſelber zu 


verſtehen, und des Ernſtes Verſtändnis iſt, daß, iſt der Tod 


die Nacht, ſo iſt das Leben der Tag, kann nicht gearbeitet wer⸗ 


den in der Nacht, ſo kann man arbeiten am Tag; und des | 
Ernſtes kurzer aber anfeuernder Ruf, gleich dem kurzen des | 
Todes, iſt: heute noch. Denn der Tod im Ernſt gibt Lebens⸗ i 


kraft, wie nichts anderes, er macht wachſam, wie nichts anderes. 
Auf den ſinnlichen Menſchen wirkt der Tod ſo, daß er ſagt: 


Laßt uns eſſen und trinken, denn morgen ſind wir tot; aber das 
iſt der Sinnlichkeit feige Lebens luſt, jene verächtliche Ordnung 
der Dinge, wo man lebt, um zu eſſen und zu trinken, nicht ißt 


und trinkt, um zu leben. Im tieferen Menſchen wirkt die Vor⸗ 
ſtellung des Todes vielleicht die Ohnmacht, ſo daß er gebrochen 
in Schwermut ermattet; aber der Ernſte gibt dem Gedanken 
des Todes die rechte Fahrt im Leben und das rechte Ziel, nach 


— — 


ſpannt werden und vermag dem Pfeile ſolche Schnelle zu geben, 


wie der Gedanke des Todes den Lebenden vorwärtszuſchnellen 


vermag, wenn der Ernſt ihn anſpannt. Da ergreift der Ernſt 
191 


1 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


das Gegenwärtige noch heute, verſchmäht keine Aufgabe als zu 
gering, läßt ſich keine Zeit entwinden als zu kurz, arbeitet aus 
äußerſten Kräften, wenn er auch noch ſo willig iſt, über ſich 
ſelbſt zu lächeln, wenn feine Anſtrengung Verdienſt vor Gott 
ſein ſollte, und willig in Ohnmacht zu verſtehen, daß ein Menſch 


— 


| nichte iſt, und daß der, welcher aus äußerſten Kräften arbeitet, 
nur r um ſo mehr Gelegenheit bekommt, über Gott zu ſtaunen. 
Die Zeit iſt ja auch ein Gut. Vermöchte ein Menſch in der 
äußeren Welt eine Teuerung zu bewirken, ja, da hätte er es 
geſchäftig; denn der Kaufmann ſagt ja richtig, daß wohl die 
Ware ihren Preis hat, aber der Preis hängt doch ſo ſehr von 
den vorteilhaften Zeitverhältniſſen ab — und wenn nun eine 
Teuerung iſt, ſo verdient der Kaufmann. In der äußeren Welt 
vermag ein Menſch dies nun vielleicht nicht, aber in der Welt 
des Geiſtes vermag es jeder. Der Tod bewirkt ja ſelbſt Teue⸗ 
rung der Zeit im Verhältnis zum Sterblichen; wer hat nicht 
gehört, wie ein Tag, zuweilen eine Stunde, hinaufgeſchraubt 
wurde im Preis, wenn der Sterbende mit dem Tode feilſchte; 
wer hat nicht gehört, wie ein Tag, zuweilen eine Stunde, un⸗ 
endlichen Wert bekam, weil der Tod die Zeit koſtbar machte! 
Das vermag der Tod, aber der Ernſte vermag mit dem Ge⸗ 
danken des Todes Teuerung zu bewirken, ſo daß das Jahr und 
der Tag unendlichen Wert bekommen — und wenn teuere Zeit 
iſt, dann verdient ja der Kaufmann, indem er die Zeit gebraucht. 
Wenn aber die bürgerliche Sicherheit in Gefahr iſt, ſo hebt 
der Kaufmann den Gewinſt nicht gleichgültig auf, ſondern er 


192 


An einem Grab 


wacht über ſeinem Schatz, daß Diebeshand nicht einbrechen und 
ihn ihm nehmen ſoll: ach, der Tod iſt ja wie ein Dieb in der 
Nacht. 

Und wenn der Gedanke des Todes einen Menſchen beſucht 
und ihn nicht wirken läßt, wenn er ſich einliſtet und die Lebens⸗ 
kraft betört in ſchwärmeriſchem Traum; wenn des Todes Miß⸗ 
mut ihm das Leben zur Eitelkeit machen will; wenn jene Ver⸗ 
führerin, die Wehmut, ihn umſchließt; wenn die Vorſtellung, 
als ſei alles vorbei, ihn betäuben will im Schlafe der Schwer⸗ 
mut, wenn er hinſiecht in der Geiſtesabweſenheit Spiel mit 
dem Sinnbild des Todes: da gebe er nicht dem Tod die Schuld, 
denn all dies iſt ja nicht der Tod. Aber er ſage zu ſich ſelber: 
meine Seele iſt in gefahrvoller Stimmung, und bleibt das ſo, 
dann iſt eine Feindſchaft in ihr gegen mich, welche die Über⸗ 
macht erlangen kann. Da fliehe er nicht den Tod, als beſtände 
darin die Heilung. Weit gefehlt. Er ſage: ich will des Todes 
ernſten Gedanken rufen. Und der hilft ihm. Denn der Ernſt 
des Todes hat dazu geholfen, eine letzte Stunde unendlich be⸗ 
deutungsvoll zu machen wie in Zeiten der Teuerung; wachſam, 
als langten Diebes hände nach ihm. So laſſe man den Tod feine 
Macht behalten, „daß es vorbei iſt“, aber das Leben auch ſein 
Recht, zu arbeiten, während es Tag iſt. Der Wankelmütige 
iſt bloß ein Zeuge des beſtändigen Grenzſtreites zwiſchen Leben 
und Tod, ſein Leben nur die Angabe des Zweifels über die Ver⸗ 
hältniſſe, ſeines Lebens Ausgang eine Täuſchung, aber der Ernſte 
hat Freundſchaft geſchloſſen mit den ſtreitenden Mächten, und 


13 193 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſein Leben hat in des Todes ernſtem Gedanken den treueſten 
Verbündeten. Gilt auch für alle Toten dieſe Gleichheit, daß 
es jetzt vorbei iſt, ein Unterſchied iſt doch, und er ſchreit zum 
Himmel, dieſer Unterſchied, der Unterſchied nämlich: was für 
ein Leben es war, das nun mit dem Tode vorbei iſt. So iſt 
es alſo doch nicht vorbei; und trotz aller Schrecken des Todes, 
nein, unterſtützt von des Todes ernſtem Gedanken ſagt der 
Ernſte: es iſt nicht vorbei. Aber verſucht ihn dieſe lichte Aus⸗ 
ſicht, ſpäht er danach wieder bloß im Dämmerlicht der Be⸗ 
trachtung, entfernt ſie ihn von der Aufgabe, wird die Zeit nicht 
Zeit der Teuerung, dünkt ihm der Beſitz ſicher; da iſt er wieder 
nicht ernſt. Sagt der Tod: vielleicht heute noch; ſo ſagt der 
Ernſt: das ſei nun vielleicht noch heute oder nicht, ich ſage: 
heute noch. — 

Von der Entſ cheidung des Todes muß weiter geſagt werden, 
daß fie un beſti m mbar iſt. Hiermit iſt nichts geſagt, aber 
ſo muß es auch ſein, wenn die Rede um ein Rätſel geht. Wohl 
macht der Tod nämlich alle gleich, aber wenn er eine Gleichheit 
im Nichts iſt, in der Vernichtung, ſo iſt ja die Gleichheit ſelbſt 
unbeſtimmbar. Soll man deutlicher reden von dieſer Gleich⸗ 
heit, ſo kann es nur geſchehen, indem man die Verſchiedenheiten 
des Lebens aufzählt und dieſe in der Gleichheit des Todes 
negiert. Hier, im Grabe, ſind das Kind und der eine Welt 
umſchuf, gleich unwirkſam; hier iſt der Reiche ſo arm wie der 
Arme, die Armut bettelt nicht, der Reiche hat nichts abzugeben, 
der Genügſamſte und der Unmäßigſte brauchen gleich wenig; 


194 


An einem Grab 


hier hört man nicht des Herrſchers Stimme, und nicht der 
Unter drückten Schrei; hier find der Übermütige und der Ge⸗ 
kränkte gleich ohnmächtig; hier liegen ſie Grab an Grab und 
dulden einander, die die Feindſchaft trennte durch eine Welt; 
hier liegt der Schöne und hier der Elende, aber die Schönheit 
trennt ſie nicht; hier liegen ſie beide, der nach dem Tode ſpähte 
wie nach einem verborgenen Schatz, und der vergeſſen hatte, 
daß der Tod da iſt, aber der Unterſchied iſt nicht zu entdecken. 

So iſt die Entſcheidung des Todes durch ihre Gleichheit wie 
der leere Raum und wie eine Stille, in der kein Laut tönt, 
oder milder: wie eine Stille, die nichts ſtört. Und in dieſem 
ſtillen Reiche herrſcht der Tod. Wiewohl einer gegen alle die 
Lebenden, iſt er doch mächtig, ſie ſich zu unterwerfen und Stille 
zu gebieten. Hab einer welche Vorſtellung er will von ſeinem 
Leben, ja ſelbſt von ſeiner Bedeutung für die Ewigkeit, er redet 
ſich nicht los vom Tode, er macht nicht den Übergang zum 
Ewigen in der Rede Lauf und im ſelben Atemzug: ſie haben 
alle erſt ſchweigen gemußt. Und vereinte ſich auch Geſchlecht 
mit Geſchlecht zu gemeinſamer Tat, und vergäße der Einzelne 
ſich ſelbſt und fände ſich ſo ſicher im Verſteck der Menge: ſiehe, 
der Tod nimmt jeden für ſich — und er wird ſtill. Wäre auch 
des Lebenden Verſchiedenheit ſo groß, wie einer ſie denken mag, 
der Tod macht ihn gleich mit dem, der unkenntlich war durch 
ſeine Verſchiedenheit. Denn der Spiegel des Lebens gibt wohl 
zuweilen dem Eitlen mit ſchmeichelnder Treue ſeine Verſ chieden⸗ 
heit wider, aber des Todes Spiegel ſchmeichelt nicht, ſeine Treue 


195 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


zeigt alle eins, ſie gleichen einander alle, wenn der Tod mit 
ſeinem Spiegel geprüft hat, ob der Tote ſchweigt. 

So iſt die Entſcheidung des Todes unbeſtimmbar in Gleich⸗ 
heit, denn die Gleichheit iſt in der Vernichtung. Und daran 
denken ſoll Ruhe geben dem Lebenden. Wenn der Geiſt, müde 
der Unterſchiede, die dauern und dauern und niemals aufhören, 
ſtolz ſich zurückzieht in ſich ſelbſt und Groll anhäuft im Trotz 
der Ohnmacht, daß er der Lebenskraft der Unterſchiede nicht 
Einhalt zu tun vermag: da ſoll es Ruhe geben zu bedenken, 
daß der Tod dieſe Macht hat; da ſoll dieſe Vorſtellung jener 
Vernichtung Begeiſterung anſchüren zu einer Glut, in der das 
Leben ſich ſteigern will. — Wenn der Elende ſeufzt in ſeinem 
Winkel, weil das Leben ihm unrecht tat, wie eine Stiefmutter; 
wenn er mißgeſtaltet nicht einmal wagen darf ſich zu zeigen, 
weil ſelbſt der beſte Menſch unwillkürlich lächelt über ſeinen 
qualvollen, ach, und doch lächerlichen Jammer; wenn er ab⸗ 
geſondert und abgeſchloſſen nicht liebt, weil keiner bei ihm das 
Gleiche findet, das er ſelbſt vergebens bei andern ſucht: da fol 
es des verborgenen Harmes Brand lindern wie kühler Schnee, 
zu bedenken, daß der Tod alle gleich macht. — Wenn der Ge⸗ 
kränkte ſich windet unter dem Unrecht des Mächtigen, und der 
Haß in Ohnmacht an der Rache verzweifelt: da ſoll es der will⸗ 
kommene Troſt ſein, der nächſtens die Luſt des Lebens wieder 
herbeiruft, daß der Tod ſie alle gleich macht. — Wenn der 
durch Wünſche Verzärtelte unwirkſam ſitzt und mit des 
Wunſches hohen Vorſtellungen von ihm ſelber ſpielt, aber nur 


196 


An einem Grab 


andere ſtreben und das Große erreichen ſieht; wenn der Unge⸗ 
duld Leidenſchaft den Atem des Verzärtelten ſchwer macht: 
da ſoll es lindern, ſoll wieder Luft geben, zu bedenken, daß der 
Tod einen Strich macht durch das Ganze und alle gleich 
macht. — Wenn der Verlierende wohl verftand, daß der Streit 
nun vorbei ſei und er der Schwächere, aber zugleich verſteht, 
daß es doch nicht vorbei iſt, daß ſeine Niederlage dem Sieger 
des Glückes Fahrt gab, daß ſein Leiden durch die Folgen der 
Niederlage täglich, aber ferner und ferner der Bericht iſt von 
des andern Steigen in der Ferne: da ſoll es lindern zu be⸗ 
denken, daß der Tod ihn einholt und den Unterſchied zunichte 
macht. — Wenn Krankheit der tägliche Gaſt wird und die Zeit 
hingeht, der Freude Zeit; wenn ſelbſt die Nächſten des Leidenden 
müde werden und manch ein ungeduldiges Wort verwundet; 
wenn der Leidende ſelbſt fühlt, daß ſeine Gegenwart nur ſtörend 
iſt für die Frohen, wenn er ferne ſitzen muß, fern vom Tanz: 
da ſoll es lindern, zu bedenken, daß der Tod doch auch ihn einlädt 
zum Tanz und daß in dieſem Tanz alle gleich werden. 

Jedoch das iſt Stimmung; und eigentlich iſt es Feigheit, 
die durch eine Fälſchung in dichteriſcher Geſtalt ſich beſſer 
dünken will, wiewohl ſie doch im Weſen ebenſo erbärmlich iſt. 
Denn wenn der Einfältige vielleicht nicht imſtand iſt, dieſe Art 
Stimmung zu faſſen — iſt dieſe Vornehmheit denn an und für 
ſich ein entſcheidender Wert, iſt ſie nicht entſcheidend nur, weil 
ſie die Verantwortung größer macht?! Es iſt der Schwermut 
feige Luſt, ſich im Leeren betäuben zu wollen und in dieſer Be⸗ 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


täubung die letzte Zerſtreuung zu ſuchen; es iſt Neid, im Auf⸗ 
ruhr gegen Gott Schaden an ſeiner Seele nehmen zu wollen, 
verwundet von der Verſchiedenheit; es iſt Selbſtbezichtigung, 
ohnmächtig haſſen zu wollen, die verrät, daß man bloß der 
Macht ermangelt, da man den fürchterlichen Mißbrauch mit 
der Ohnmacht treibt; es iſt ein verächtlicher Weg zu unbefugter 
Klage über das Leben, daß man bloß wünſchen will, und dann 
klagen, weil man nicht wurde, was man ſich wünſchte, niemals 
zu anderem tauglich werden als zum Wünſchen, und endlich 
jämmerlich genug, alles wegzuwünſchen; es iſt ſelbſtplageriſche 
Ausdauer des Überwundenen, nichts Höheres verſtehen zu 
wollen als den Streit zwiſchen Mein und Dein und beider 
Untergang; es iſt eine noch furchtbarere Krankheit, nicht faſſen 
zu wollen, was für einen Arzt der Kranke nötig hat. Wahrlich, 
iſt es feige und wollüſtige Weichlichkeit, nicht einmal im Ge⸗ 
danken den begünſtigenden Unterſchied aufgeben zu können und 
ſein Leben in ihm verloren zu haben, ſo iſt es ein aufgeſchminkter 
Mut, der ſich an der Vorſtellung von der Gleichheit des Todes 
verſuchen will, wenn doch derſelbe Menſch unter des Lebens 
Unterſchieden ſeufzt und ſtöhnt. 

Und wenn das wirklich die Meinung eines Menſchen wäre — 
ſollte es nicht der Widerſpruch ſein, daß er noch lebte, der das Ä 
Lockmittel zu dem vermeſſenen Wageſtück war, ſich fo tröften 
zu wollen mit der Gleichheit des Todes; ob wohl ſeine Vor⸗ 
ſtellung vom Tode Stich hielt im Tode ſelbſt, dann alſo, wenn 
die Luſt des Denkens nicht mehr die Leidenſchaft reizte? Der 


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An einem Grab 


Tote hat ja den Unterfchied vergeſſen; und wenn er auch ein 
ganzes Leben hindurch ſich vornahm, ſeiner zu gedenken, um 
die Freude zu haben, ihn einem andern im Tode genommen zu 
ſehen, im Tode iſt ja dieſer Gedanke nicht bei ihm, ſelbſt wenn 
wir einen Augenblick die Verantwortung vergeſſen wollen, die 
auf ihn wartet. Es iſt die Lüge und der Betrug in dem ver⸗ 
meſſenen Trotz, der ſich mit dem Tod verſchwören will gegen 
das Leben. Es wird vergeſſen, daß der Tod der Stärkere iſt, 
vergeſſen, daß er ohne Vorliebe iſt, daß er keinen Bund ſchließt 
mit irgendeinem, ſo daß dieſer im Tod einen Freipaß bekäme 
und Zeit und Gelegenheit, die Luft der Vernichtung zu ge- 
nießen. Nur wenn des Lebenden Vorſtellung wie im Märchen 
umgeht im ſtillen Reich der Toten, wie eine Gauklerin der Tod 
ſelber iſt, und vor ſich ſelbſt verſchwindet im Tod; nur wenn 
des Lebenden Vorſtellung den Tod nachäfft, den Beneideten 
zum Stelldichein lädt, ihn all ſeiner Herrlichkeit entkleidet und 
ſich an ſeiner Ohnmacht weidet; nur wenn die Vorſtellung 
zwiſchen den Gräbern umgeht, vermeſſen den Spaten in die 
Erde ſenkt und den Frieden der Toten kränkt mit der Luſt ihres 
Trotzes, daß des einen Entſeelten Leichnam ausſehe genau wie 
der des andern — nur dann iſt es Linderung. 
Aber all dies iſt nicht Ernſt; und iſt ſein Weſen auch noch ſo 
finſter, und iſt die Luſt auch noch ſo düſter, deshalb iſt es doch 
nicht Ernſt. Denn der Ernſt ſpielt nicht Verſteck, ſondern iſt 
verſöhnt mit dem Leben und weiß den Tod zu fürchten. | 
Der Ernſt verfteht nun dasſelbe vom Tod, aber er verfteht 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


es anders. Er verſteht, daß der Tod alle gleich macht; und das 
hat er ſchon lange verſtanden, weil der Ernſt gelernt hat, vor 
Gott die Gleichheit zu ſuchen, in der alle gleich ſein können. Und 
in dieſem Streben entdeckt der Ernſte einen Unter ſchied, den 
ſeiner ſelbſt nämlich von dem Ziel, das ihm geſetzt iſt, und 
entdeckt, daß am aller fernſten von dieſem Ziel ein Zuſtand wäre, 
wie ihn die Gleichheit des Todes ausdrückt. Aber jedesmal, 
wenn die irdiſche Verſchiedenheit ihn verſuchen will, aufhalten 
will, tritt der ernſte Gedanke von des Todes Gleichheit da⸗ 
zwiſchen und feuert ihn wieder an. Wie kein böſer Geiſt den 
heiligen Namen nennen darf, ſo ſchaudert jeder gute Geiſt vor 
dem Leeren, vor der Gleichheit der Vernichtung, und dieſer 
Schauder, der ſchöpferiſch iſt im Leben der Natur, iſt an⸗ 
feuernd im Leben des Geiſtes. Wie oft lehrte nicht ſchon die 
Gleichheit der Vernichtung, wenn der Tod zu einem Menſchen 
kam, dieſen ſich die ſchwerſte Verſchiedenheit zurückzuwünſchen, 
die letzte Bedingung wünſchenswert zu finden, nun da des 
Todes Bedingung die einzige war! Und ſo hat des Todes ernſter 
Gedanke den Lebenden gelehrt, die ſchwerſte Verſchiedenheit mit 
der Gleichheit vor Gott zu durchdringen. Und kein Vergleich hat 
die vorwärtstreibende Macht, und gibt dem Haſtenden ſo ſicher 
die wahre Richtung, wie wenn der Lebende ſich vergleicht mit 
der Gleichheit des Todes. Und iſt von allen Vergleichen der der 
eitelſte, wenn ein Menſch jeden andern verſchmäht, um ſich mit 
ſich ſelbſt in Selbſtzufriedenheit zu vergleichen, ja ſtand viel⸗ 
leicht nie ein eitles Weib ſo eitel vor der Bewunderung ſeiner 


200 


An einem Grab 


Umgebung, wie da es einſam vor dem Spiegel ſtand: oh, fo 
iſt kein Vergleich ſo ernſt wie der eines Menſchen, welcher ein⸗ 
ſam mit der Gleichheit des Todes ſich verglich. Einſam; denn 
das iſt es ja, wozu ihn die Gleichheit des Todes macht, wenn 
das Grab geſchloſſen iſt, wenn die Türe geſchloſſen iſt vor dem 
Friedhof, wenn die Nacht hernieder fällt, und er einſam liegt 
fern von aller Teilnahme, unkenntlich, in der Geſtalt, die nur 
Grauen wecken kann, einſam draußen, wo der Toten Menge 
nicht eine Geſellſchaft bildet. Der Tod hat vermocht, Throne 
umzuſtürzen und Fürſtentümer, aber der ernſte Gedanke des 
Todes hat das ebenſo Große vollbracht: hat dem Ernſten ge⸗ 
holfen, der meiſt begünſtigten Verſchiedenheit die demütige 
Gleichheit vor Gott zu unterlegen und hat ihm geholfen, ſich 
emporzuheben über die ſchwerſte niederdrückendſte Verſchieden⸗ 
heit durch die demütige Gleichheit vor Gott. 

Und wenn eines Menſchen Seele irre geht in der Begün⸗ 
ſtigung, und wenn er kaum ſich ſelber wiedererkennen kann vor 
Herrlichkeit, da macht der ernſte Gedanke von des Todes Gleich⸗ 
heit ihn auf eine andere Weiſe unkenntlich, und er lernt ſich 
ſelber erkennen, und erkannt ſein zu wollen vor Gott. Oder wenn 
ſeine Seele ſeufzt in der ſchweren Beſchränkung der Leiden, 
der Widerwärtigkeiten, der Kränkungen, der Schwermut, ach, 
und es ſcheint ihm, daß die Beſchränkung lebenslänglich ſein 
werde; wenn auch der Verſucher kommt in ſein Haus, er, der 
Verſucher, den man in ſeinem eigenen Innern hat, und der 
betrügeriſch Grüße von andern bringt und wenn der ihm erſt 


201 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


der andern Glück vorgaukelt, bis er mißmutig wird, und jener 
ihn nun aufzurichten verſpricht: da gebe er ſich ihm nicht hin 
in Stimmung. Er ſage: ſolches iſt Aufruhr gegen Gott und 
eine Feindſchaft wider mich ſelber; und dann ſage er: ich will 
den ernſten Gedanken des Todes anrufen. Und der hilft ihm, 
die Verſchiedenheit zu überwinden, die Gleichheit vor Gott zu 
finden, dieſe Gleichheit ausdrücken zu wollen. Denn des Todes 
Gleichheit iſt furchtbar dadurch, daß nichts ihr widerſtehen kann 
(wie troſtlos !). Aber die Gleichheit vor Gott ift ſelig dadurch, 
daß nichts ſie verhindern kann, wenn der Menſch nicht ſelbſt es 
will. Und iſt dann die Verſchiedenheit des Lebens ſo groß? 
Denn er nehme den Frohen, er laſſe ihn ſich freuen über ſein 
Glück — wenn er, der Unglückliche, ſich wieder freute über Jenes 
Glück, da waren ſie ja beide froh! Er nehme den Ausgezeich⸗ 
neten, er laſſe ihn ſich freuen über ſeinen Vorzug — wenn er, 
der Gekränkte, die Beleidigung vergeſſen hatte, und nun das 
Vorzügliche an jenem ſah, war der Unterſchied ſo groß? Er 
nehme den Jüngling, er laſſe ihn vorwärtseilen mit der Zuver⸗ 
ſicht der Hoffnung — wenn er, wiewohl enttäuſcht vom Leben, 
vielleicht ſogar im geheimen ihn unterſtützte, war da der Unter⸗ 
ſchied ſo groß? Glück und Ehre und Reichtum und Schönheit 
und Macht, ſie ſind es ja, die den Unterſchied ausmachen, aber 
wenn der Unterſchied nur der war, daß des Einen Glück und 
Ehre und Reichtum und Schönheit und Macht eine Freilands⸗ 
pflanze war, des andern eine Grabesblume, gehegt in der 
Selbſtverleugnung geheiligter Erde: iſt der Unterſchied ſo 


202 


An einem Gra b 


groß? Sie ſind ja beide glücklich und geehrt und reich und ſchön 
und mächtig! Wie ſchwer auch der Unterſchied war, der ernſte 
Gedanke an die Gleichheit des Todes half doch wie eine ſtrenge 
Erziehung dazu, allen weltlichen Vergleich zu verſchmähen, die 
Vernichtung als das noch Schrecklichere zu verſtehen und die 
Gleichheit vor Gott ſuchen zu wollen. 

Des Todes Gleichheit bekam nicht Macht, ihn mit ihren 


Zaubermitteln zu verlocken; es iſt ja auch keine Zeit dazu. Denn 
wie die Entſcheidung des Todes un beſtimm bar iſt durch 
die Gleichheit, fo iſt fie ebenſo unbeſtim mbar durch 
die Ungleichheit. Wer hat nicht oft die Rede gehört, daß 
der Tod keinen Unterſchied macht, daß er nicht Stand und nicht 
Alter kennt; wer hat es nicht ſelbſt oft überlegt, wenn er die 
verſchiedenſten Verhältniſſe der Lebenden nannte und nun den 
Tod in ein Verhältnis zu ihnen denken wollte, daß er dieſes ſo 
beſtimmen mußte, daß der Tod ſeine Beute ebenſogut hier wie 
dort ſuchen könne — ebenſogut, weil keine Rückſicht genommen 
wird, während aller Unterſchied gerade darin liegt, daß man 
Rückſicht nimmt. So iſt er unbeſtimmbar durch ſeine Ungleich⸗ 
heit. Er eilt dem Leben faſt voraus, und das Kind wird tot⸗ 
geboren, er läßt den Greis warten von Jahr zu Jahr; glaubt 
man ſich in Frieden und Sicherheit, ſo ſteht er über einem, 
und in der Lebensgefahr ſucht man ihn zuweilen vergebens, wäh⸗ 
rend er den findet, der ſich abſeits verſteckt; wenn die Käſten 
voll ſind und Vorrat für ein ganzes Leben, kommt der Tod und 
fordert des Reichen Seele, wenn Mangel iſt, bleibt er weg; 


203 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


wenn der Hungrige bekümmert ſorgt, was er morgen eſſen 
werde, kommt der Tod und nimmt die Nahrungsſorgen von 
ihm, wenn der Lüſterne im Überdruß ſich darum kümmert, was 
er morgen eſſen ſoll, kommt richtend der Tod und macht die 
Bekümmerung überflüſſig. 

So iſt der Tod unbeſtimmbar: das einzige Gewiſſe, und 
das Einzige, worüber nichts gewiß iſt. Dieſe Vorſtellung lockt 
den Gedanken hinaus in den Wechſel des Unbeſtimmbaren, um 
ſich in dieſem Schaudern zu verſuchen wie in einem Spiel, um 
dieſes wunderliche Rätſel zu erraten, um ſich in der Plötzlich⸗ 
keit unerklärliches Verſchwinden und unerklärliches Hervor⸗ 
brechen zu verſenken. Es ſoll lindernd ſein, über dieſen Treff 
nachzudenken, dieſes Gleich und Ungleich, dieſes geahnte Geſetz 
im Geſetzloſen, das iſt und das nicht iſt, ſich zu allem Lebenden 
verhält, aber unbeſtimmbar iſt in jedem ſeinem Verhältnis. 
Wenn die Seele müde wird des Zwangs und der Gebundenheit, 
des beſtimmbaren und wieder beſtimmbaren, knappen, täglichen 
Maßes, und des Bewußtſeins davon, daß mehr und mehr ver⸗ 
ſäumt wird; wenn die Willenskraft ausgedient hat, und der 
Markloſe wie Zunder wird; wenn die Neugierde, des Lebens 
müde, eine reichere Aufgabe ſucht für die Neugierde: da ſoll 
es unterhaltend ſein, die Unbeſtimmbarkeit des Todes zu be⸗ 
denken, und lindernd, ſich mit dieſem Gedanken vertraut zu 
machen. Nun verwundert man ſich über einen Todesfall, nun 
über einen andern, nun redet man ſich wirr in allgemeinen Aus⸗ 
drücken von dem, was ſich der allgemeinen Beſtimmung ent⸗ 


204 


An einem Gra b 


— — . — 


— — 


zieht, nun iſt man in einer Stimmung, nun in einer andern, 
nun wehmütig, nun unerſchrocken, nun ſpottend, nun knüpft 
man den Tod an den glücklichſten Augenblick als das größte 
Glück, nun als das größte Unglück, nun wünſcht man ſich einen 
raſchen Tod, nun einen langſamen, nun zankt man ſich müde, 
welcher Tod doch der wünſchenswerteſte ſei, nun wird man über⸗ 
drüſſig der ganzen Überlegung, vergißt den Tod, bis das Rad 
der Betrachtung wieder in Bewegung geſetzt wird und man 
der Betrachtung Einzelheiten zuſammenſchart in neuen Ver⸗ 
bindungen zu neuem Staunen — ach ja, bis der Gedanke an 
den eigenen Tod im Nebel verdunſtet vor den Augen, und das 
Gedenken des eigenen Todes für das Ohr zum unbeſtimmten 
Brauſen wird. Dies iſt die Linderung der Vertrautheit in der 
Betrachtung des Abgeſtumpften, daß es nun einmal ſo iſt, in 
der erhebenden unperfönlichen Vergeßlichkeit, die ſich ſelbſt ver⸗ 
gißt über dem Ganzen, oder beſſer ſich ſelber in Gedankenloſig⸗ 
keit, wodurch der eigene Tod ein ſchnurriger Zufall wird unter 
den mannigfachen unberechenbaren Zufällen, und die Langeweile 
eine Vorbereitung, die des eigenen Todes Übergang milde 
macht. 

Aber ſelbſt wenn ein ſolches Leben das Wunder des Todes 
bedenkend alle möglichen Stimmungen durchliefe, iſt die Be⸗ 
trachtung deshalb Ernſt? Endet der Stimmungen Weitläufig⸗ 
keit immer im Ernſt, ſollte der Beginn des Ernſtes nicht eher 
fein, jene Weitläufigkeit zu verhindern, in welcher der Betrach⸗ 
tende ſein Leben verſäumt und dem gleich wird, der dem Spiel 


205 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


verfällt, wenn er grübelt und grübelt und von den Zahlen träumt 
in der Nacht, anſtatt zu arbeiten am Tag! Der, welcher den 
Tod fo betrachtet, iſt ein Betäubter in Hinſicht auf fein geiftiges 
Leben; er ſchwächt ſein Bewußtſein, ſo daß es den ernſten Ein⸗ 
druck des Unerklärlichen nicht aushalten kann und nicht im Ernſt 
ſich unter den Eindruck beugt, aber dann auch das Rätſel be⸗ 
zwingt. Ja, gewiß iſt der Tod ein wunderbares Rätſel, aber 
nur der Ernſt kann es beſtimmen. Woher kommt wohl jene 
Verwirrung der Gedankenloſigkeit, wenn nicht daher, daß der 
Gedanke des Einzelnen betrachtend ſich hinauswagt in das 
Leben, das ganze Daſein überſchauen will, jenes Spiel der 
Kräfte, das nur Gott im Himmel ruhig betrachten kann, weil Er 
in Seiner Vorſehung es beherrſcht mit Seinem weiſen und all⸗ 
gegenwärtigen Willen, das aber den Geiſt eines Menſchen 
ſchwächt, ihn ſchwachſinnig macht, ihm unzeitige Sorge be⸗ 
reitet, und mit traurigem Troſt ſtärkt. Unzeitige Sorge näm⸗ 
lich in Stimmung, weil er ſich um ſo vieles bekümmert, 
traurigen Troſt nämlich in Abſpannung und Schlaffheit, wenn 
ſeine Betrachtung ſo viele Eingänge und Ausgänge hat, daß 
ſie ſchließlich ein Irrweg wird. Und wenn dann der Tod kommt, 
betrügt er doch den Betrachter, weil alle Betrachtung der Er⸗ 
klärung nicht um einen Schritt näher kam, ſondern ihn nur 
um das Leben betrog. | 

Der Ernſt verſteht dasſelbe vom Tod, daß er unbeſtimmbar 
iſt durch die Ungleichheit, daß kein Alter, kein Umſtand, und 
kein Lebensverhältnis vor ihm ſicher machen, aber danach ver⸗ 


206 


An einem Grab 


ſteht der Ernſte es anders und verſteht ſich ſelber. Sieh, die 
Axt liegt ſchon an der Wurzel des Baumes, jeder Baum, der 
nicht gute Frucht trägt, ſoll umgehauen werden — nein, jeder 
Baum ſoll umgehauen werden, auch der, welcher gute Frucht 
trägt. Das Gewiſſe iſt, daß die Axt an der Wurzel des Baumes 
liegt; und wenn einer auch nicht bemerkt, daß der Tod über ſein 
Grab geht und daß die Axt ſich bewegt, die Ungewißheit iſt 
doch in jedem Augenblick da, das Ungewiſſe, wann der Hieb 
fällt — und der Baum. Aber wenn er gefallen iſt, da iſt es 
entſchieden — ob der Baum gute Frucht trug oder ſchlechte 
Frucht. 

Der Ernſte betrachtet ſich ſelber; iſt er jung, da lehrt ihn 
der Gedanke an den Tod, daß hier ein junger Menſch ſeine 
Beute wird, wenn er heute kommt, aber er ſchwatzt nicht in 
allgemeinen Redensarten von der Jugend als der Beute des 
Todes. Der Ernſte betrachtet ſich ſelber, er weiß alſo, wie der 
beſchaffen iſt, der hier die Beute des Todes werden würde, 
wenn er heute käme; er bedenkt ſein eigenes Tun und weiß alſo, 
welches Tun hier abgebrochen würde, wenn der Tod heute käme. 
So hört das Spiel auf, ſo iſt das Rätſel beſtimmt. Die all⸗ 
gemeine Betrachtung des Todes verwirrt nur den Gedanken 
ebenſo wie wenn man im Abſtrakten erfahren will. Die Ge⸗ 
wißheit des Todes iſt der Ernſt, ſeine Ungewißheit iſt die Unter⸗ 
weiſung, die Einübung des Ernſtes; der Ernſte iſt der, welcher 
durch die Ungewißheit erzogen wird zum Ernſt, kraft der Ge⸗ 
wißheit. Wie lernt ein Menſch Ernſt? Vielleicht dadurch, daß 


207 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ein Ernſter ihm etwas vorſagt, daß er dies nun lernen könnte? 
Keineswegs. Der Lernende bekümmert ſich (denn ohne Beküm⸗ 
merung kein Lernender!) um den einen oder andern Gegen⸗ 
ſtand mit ſeiner ganzen Seele; und die Gewißheit des Todes 
iſt ja ein Gegenſtand der Bekümmerung. Nun wendet ſich der 
Bekümmerte an den Lehrer des Ernſtes; und das iſt ja der 
Tod, nicht ein Schreckbild, außer für die Einbildung. Der 
Lernende will nun dieſes oder jenes, er will es ſo machen und 
unter dieſen Vorausſetzungen: „und nicht wahr, ſo glückt es.“ 
Aber der Ernſte antwortet gar nichts, und endlich ſagt er, doch 
ohne zu ſpotten, mit der Ruhe des Ernſtes: „Ja, das iſt mög⸗ 
lich.“ Der Lernende wird bereits etwas ungeduldig; er entwirft 
einen neuen Plan, verändert die Vorausſetzungen, und ſchließt 
ſeine Rede auf eine noch eindringlichere Weiſe. Aber der Ernſte 
ſchweigt, ſieht ruhig auf ihn und ſagt endlich: „Ja, das iſt mög⸗ 
lich.“ Nun wird der Lernende leidenſchaftlich, er greift zu 
Bitten, oder wenn er ſo ausgerüſtet iſt, zu hinterliſtigen Ge⸗ 
dankenwendungen, ja, er beleidigt vielleicht ſogar den Ernſten, 
und wird ſelbſt ganz verwirrt, und alles ſcheint Verwirrung 
um ihn; aber da er mit dieſen Waffen und in dieſem Zuſtand 
auf den Ernſten einſtürmt, muß er deſſen unveränderten, 
ruhigen Blick aushalten und in ſein Schweigen ſich finden, 
denn der Ernſte ſieht bloß auf ihn und ſagt endlich: „Ja, das 
iſt möglich.“ So mit dem Tod. Die Gewißheit iſt das Unver⸗ 
änderliche, und die Ungewißheit iſt das kurze Wort: es iſt mög⸗ 
lich; und jede Bedingung, die des Todes Gewißheit zu einer 


208 


1 hr 


An einem Grab 


bedingten Gewißheit für den Wünſchenden machen will, jede 
Übereinkunft, die des Todes Gewißheit zu einer bedingten Ge⸗ 
wißheit für den Beſchließenden machen will, jede Abrede, die 
des Todes Gewißheit nach Zeit und Stunde für den Handeln⸗ 
den beſtimmen will — jede Bedingung, jede Übereinkunft, jede 
Abrede ſcheitern an dieſem Wort; und alle Leidenſchaftlichkeit 
und alle Schlauheit und allen Trotz macht dieſes Wort ohn⸗ 
mächtig, bis der Lernende in ſich ſelber geht. Aber darin liegt 
der Ernſt, und dazu wollten die Gewißheit und die Ungewißheit 
dem Lernenden verhelfen. Bekommt die Gewißheit das Recht 
dazuſtehen, für was man gerade will, für eine allgemeine Über- 
ſchrift über das Leben, nicht wie es mit Hilfe der Ungewißheit 
geſchieht, wie die Aufforderung zur Anwendung auf das Ein⸗ 
zelne und Tägliche, ſo wird der Ernſt nicht gelernt. Die Un⸗ 
gewißheit tritt hinzu und zeigt beſtändig, wie der Lehrer auf 
den Gegenſtand der Lehre, und ſagt zu dem Lernenden: gib wohl 
acht auf die Gewißheit: ſo entſteht der Ernſt. Und kein Lehrer 
vermag ſo den Schüler zu lehren, acht zu geben auf das, was 
geſagt wird, wie die Ungewißheit des Todes, wenn ſie auf des 
Todes Gewißheit zeigt; und kein Lehrer vermag ſo des Schülers 
Gedanken geſammelt zu halten auf der Unterweiſung einzigen 
Gegenſtand, wie der Gedanke von der Ungewißheit des Todes, 
wenn er den Gedanken an des Todes Gewißheit einübt. 

Die Gewißheit des Todes beſtimmt den Lernenden ein für 
allemal im Ernſt, aber des Todes Ungewißheit iſt die tägliche, 
oder doch die häufige, oder doch die nötige Aufſicht, die über 


ei 209 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


dem Ernſte wacht: erſt das iſt Ernſt. Und keine Aufſicht iſt ſo 
genau, nicht des Vaters über das Kind, nicht des Lehrers über 
den Schüler, ja nicht des Gefangenenwärters über den Ge⸗ 
fangenen; und keine Aufſicht ſo veredelnd wie die Ungewißheit 
des Todes, wenn ſie die Anwendung der Zeit und die Be⸗ 
ſchaffenheit des Tuns prüft, des Beſchließenden oder des Han⸗ 
delnden, des Jünglings oder des Greiſes, des Mannes oder 
des Weibes. Denn mit Rückſicht auf wohl angewandte Zeit 
iſt es im Verhältnis zum Abbruch durch den Tod nicht weſent⸗ 
lich, ob die Zeit lang oder kurz war; und mit Rückſicht auf 
das weſentliche Tun iſt es im Verhältnis zum Abbruch durch 
den Tod nicht weſentlich, ob es fertig oder nur begonnen wurde. 
Mit Rückſicht auf das Zufällige iſt die Länge der Zeit be⸗ 
ſtimmend, wie, um das Glück zu nennen: das Ende erſt ent⸗ 
ſcheidet, ob einer glücklich geweſen iſt. Im Verhältnis zur zu⸗ 
fälligen Tat, die im Außeren iſt, iſt es weſentlich, daß das 
Werk fertig wird. Aber die weſentliche Tat wird nicht weſentlich 
durch die Zeit und das Außere beſtimmt, inſoweit der Tod der 
Abbruch iſt. So wird der Ernſt der, jeden Tag zu leben, als 
wäre er der letzte und zugleich der erſte in einem langen Leben; 
und die Tat zu wählen, die nicht davon abhängig iſt, ob ein 
Menſchenalter vergönnt wird, ſie gut zu vollenden, oder nur 
eine kurze Zeit, ſie gut begonnen zu haben. 

Endlich muß man von der Entſcheidung des Todes ſagen, 
daß ſie unerklärlich iſt. Ob nämlich die Menſchen eine Er⸗ 
klärung finden — der Tod ſelbſt erklärt nichts. Denn wenn 


210 


An einem Grab 


einer ihn mit dem Auge erblicken könnte, den bleichen, freude⸗ 
loſen Schnitter, wie er müßig ſteht, ſich ſtützend auf die Senſe, 
und er zu ihm hingehen wollte, es ſei nun, daß er meinte, ſein 
Überdruß am Leben müßte ihn bei ihm einſchmeicheln oder feine 
brennende Sehnſucht nach dem Ewigen könnte ihn rühren; wenn 
er ihm die Hand auf die Schulter legte und ſagte: erkläre dich, 
bloß ein Wort — glaubſt du, er antwortete? Ich denke, er 
merkte es nicht einmal, daß einer ihm die Hand auf die Schulter 
legte und zu ihm redete. Oder wenn der Tod käme, ach, ſo ge⸗ 
legen, ach, wie der größte Wohltäter, wie ein Retter; wenn er 
käme und einen Menſchen davor rettete, ſich die Schuld zu⸗ 
zuziehen, die nicht bereut wird im Leben, weil die Schuld ein 
Ende macht dem Leben; wenn jener Unglückliche dem Tode 
danken wollte, daß er ihm das Geſuchte brachte und ihn hin⸗ 
derte, ſchuldig zu werden, glaubt einer, er verſtände ihn? Ich 
denke, er hörte nicht einmal ein Wort von dem, was er ſagte; 
denn er erklärt nichts. Ob er als die größte Wohltat kommt 
oder als das größte Unglück, ob er mit Jubel begrüßt wird 
oder mit verzweifeltem Widerſtand, davon weiß der Tod nichts, 
er iſt der Übergang; vom Verhältnis weiß er nichts, gar nichts. 

Dieſe Unerklärlichkeit drängt ja nach einer Erklärung. Aber 
darin liegt der Ernſt, daß die Erklärung nicht den Tod erklärt, 
ſondern offenbart, wie der Erklärende in ſeinem innerſten 
Weſen beſchaffen iſt. Ernſte Mahnung, langſam zu ſein im 
Reden! Muß man auch lächeln, wenn man ſieht, wie die Ge⸗ 
dankenloſigkeit mit der Hand den grübelnden Kopf ſtützt, der 


211 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


die Erklärung ergründen ſoll; muß man auch wieder lächeln, 
wenn der Denker dann herausrückt mit ſeiner Erklärung; oder 
wenn, wie auf ein allgemeines Aufgebot ſelbſt die leichtfertigſten 
Denker im Vorübergehen mit einem Einfall bereit ſind, mit 
einer Bemerkung als Erklärung, die ſeltene Gelegenheit be⸗ 
nützend, da ja für alle der Tod ein unerklärliches Rätſel iſt: 
ach, der richtende Ernſt über ſolches Benehmen iſt, daß der 
Erklärende ſich ſelber angibt; verrät, wie gedankenlos, wie 
töricht ſein Leben iſt. Deshalb iſt Zurückhaltung mit der Er⸗ 
klärung bereits ein Zeichen von etwas Ernſt, der doch verſteht, 
daß der Tod, gerade weil er nichts iſt, nicht ſo etwas iſt, wie 
eine wunderliche Inſchrift, die jeder Vorübergehende ſuchen 
und leſen ſoll, oder wie eine Merkwürdigkeit, welche jeder ge⸗ 
ſehen haben, worüber jeder eine Meinung haben muß. Das 
Entſcheidende bei der Erklärung, das, was verhindert, daß das 
Nichts des Todes nicht die Erklärung zu nichts mache, iſt, daß 
ſie rückwirkende Kraft und dadurch Wirklichkeit im Leben des 
Lebendigen bekommt, ſo daß ihm der Tod zum Lehrer wird und 
nicht verräteriſch ihm zu einer Selbſtbezichtigung hilft, die den 
Erklärer angibt als einen Toren. 

Als das Unerklärliche kann ja der Tod ſcheinen alles und 
nichts zu ſein, und die Erklärung ſcheint zu ſein, dieſes in 
einem Wort auszuſagen. Eine ſolche Erklärung gibt ein Leben 
an, das ſich begnügend mit dem Gegenwärtigen gegen den Ein⸗ 
fluß des Todes ſich wehrt durch eine Stimmung, die ſie im 
Gleichgewicht der Unentſchiedenheit hält. Der Tod bekommt 


212 


3 
SNN 


— —— 


An einem Grab 


nicht Macht, ein ſolches Leben zu ſtören, erhält wohl Einfluß, 
aber nicht rückwirkende Kraft, ein ſolches Leben umzubilden. Die 
Erklärung wechſelt nicht in verſchiedenen Stimmungen, aber 
der Tod wird in jedem Augenblick außerhalb des Lebens in 
das Gleichgewicht der Unentſchiedenheit geführt, das ihn im Ab⸗ 
ſtand hält. Und der höchſte Mut des Heidentums war es, wenn 
der Weiſe (deſſen Ernſt gerade darin ſeinen Ausdruck fand, 
daß er ſich mit der Erklärung nicht beeilte) mit dem Gedanken 
des Todes ſo zu leben vermochte, daß er dieſen Gedanken jeden 


Augenblick in ſeinem Leben durch die Unentſchiedenheit über⸗ 


wand. Das irdiſche Leben wird hier ausgelebt, der Weiſe weiß, 
daß der Tod da iſt, er vergißt nicht in Gedankenloſigkeit, daß 
er da iſt, er begegnet ſich mit ihm im Gedanken, er entwaffnet 
ihn zur Ohnmacht in der Unbeſtimmbarkeit, und das iſt ſein 
Sieg über den Tod; aber der Tod kommt nicht dazu, das Leben 
umſchaffend zu durchdringen. 

Als das Unerklärliche könnte der Tod ſcheinen das höchſte 
Glück zu ſein. Eine ſolche Erklärung verrät ein Leben in Kind⸗ 
lichkeit, die Erklärung iſt wie deren letzte Frucht: der Aber⸗ 
glaube. Der Erklärende hatte des Kindes und des Jünglings 
Vorſtellung vom Behaglichen und vom Unbehaglichen, aber das 
Leben ging hin, er ſah ſich betrogen, er ward älter an Jahren, 
nicht an Sinn, er griff nichts Ewiges; da ſammelte ſich die 
Kindlichkeit in ihm zu einer überſpannten Vorſtellung, daß der 
Tod kommen und alles in Erfüllung gehen laſſen würde; der 
Tod wurde nun der begehrte Freund, der Geliebte, der reiche 


213 


Sören Kierkegaard Religisſe Reden 


Wohltäter, der alles zu verſchenken hatte, deſſen Erfüllung der 
Kindliche vergebens im Leben geſucht hatte. Zuweilen wird 
leichtſinnig oder dummdreiſt von dieſem Glück geredet, zuweilen 
wehmütig, zuweilen drängt der Erklärende ſich ſogar laut vor 
mit ſeiner Erklärung und will anderen helfen; aber ſie verrät 
nur, wie der Erklärende in ſeinem Innern beſchaffen iſt; daß 
er nicht des Ernſtes Rückwirkung vernahm, ſondern kindlich 
vorwärts haſtet, kindlich auf den Tod hofft, als hoffte er aufs 
Leben. | 

Als das Unerflärliche kann der Tod ſcheinen das größte Un- 
glück zu ſein. Aber dieſe Erklärung gibt an, daß der Erklärende 
feig am Leben hängt, feig vielleicht an deſſen Begünſtigung, 
feig vielleicht an deſſen Leiden, ſo daß er das Leben fürchtet, 
aber den Tod noch mehr. Rückwirkende Kraft bekommt der 
Tod nicht, das will ſagen nicht in Kraft der Auffaſſung, denn 
ſonſt wirkt er wohl zurück, dem Einen des Glückes Begünſti⸗ 
gung freudelos, dem Andern irdiſches Leiden hoffnungslos zu 
machen. 

So hat die Erklärung auch andere bezeichnende Namen ge⸗ 
braucht, ſie hat den Tod genannt: einen Übergang, eine Ver⸗ 
wandlung, ein Leiden, einen Streit, den letzten Streit, eine 
Strafe, der Sünde Sold. Jede dieſer Erklärungen enthält 
eine ganze Lebensanſchauung. Oh, ernſte Aufforderung an den 
Erklärenden! Leicht iſt es, ſie alle auswendig herzuſagen, leicht 
den Tod zu erklären, wenn es keine Überwindung koſtet, nicht 


verſtehen zu wollen, daß die Rede darum geht, wie die Er⸗ 


214 


N - 
as 2 es — 


An einem Grab 


klärung rückwirkende Kraft im Leben bekomme. Warum will 
man doch den Tod zu einem Spott über ſich verwanden; denn 
der Tod drängt ja nicht nach Erklärung, er hat gewiß niemals 
einem Denker zugemutet, ihm dabei behilflich zu ſein. Aber 
der Lebende drängt nach Erklärung, und warum? Um danach 
zu leben. | 

Wenn einer z. B. meint, daß der Tod eine Verwandlung 
ſei, ſo kann das ganz richtig ſein, aber geſetzt nun, des Todes 
Ungewißheit, die wie der Lehrer umhergeht und alle Augen⸗ 
blicke nachſieht, ob der Schüler aufmerkſam iſt, geſetzt nun: ſie 
entdeckte, daß des Erklärenden Meinung ungefähr dieſe ſei: 
ich habe ein langes Leben vor mir, 30 Jahre, ja vielleicht 40, 
und dann kommt einmal der Tod wie eine Verwandlung; was 
möchte wohl der Lehrer denken von dieſem Schüler, der nicht 
einmal beim Tod die Beſtimmung der Ungewißheit erfaßt 
hatte? Und wenn einer meint, daß der Tod eine Verwandlung 
ſei, die einmal eintrete, und er, nicht ungleich einem Spieler, 
dies wie eine Begebenheit erwartet, die ſich einmal ereignen 
wird — was würde wohl der Lehrer denken von dieſem Schüler, 
der nicht einmal darauf aufmerkſam war, daß es mit der Ent⸗ 
ſcheidung des Todes vorbei iſt, und daß alſo die Verwandlung 
nicht in die gleiche Reihe mit den übrigen Begebenheiten treten 
kann als eine neue Begebenheit, weil im Tod abgeſchloſſen iſt. 
Man kann eine Meinung haben über ferne Begebenheiten, 
über einen Naturgegenſtand, über die Natur, über gelehrte 
Schriften, über einen anderen Menſchen, und ſo über vieles 


215 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


andere, und wenn man dieſe Meinung äußert, kann der Weiſe 
entſcheiden, ob ſie richtig iſt oder unrichtig. Dagegen bemüht 
keiner den Meinenden damit, die andere Seite der Wahrheit 
zu betrachten, ob man nun wirklich die Meinung hat, ob ſie nicht 
etwas iſt, das man bloß herſagt. Und doch iſt dieſe andere Seite 
ebenſo wichtig, denn nicht der allein iſt ja geiſteskrank, der das 
Sinnloſe ſagt, ſondern ebenſoſehr der, welcher eine richtige Mei⸗ 
nung ſagt, wenn dieſe doch ganz und gar keine Bedeutung für 
ihn hat. Der eine Menſch erweiſt dem andern das Vertrauen, 
die Anerkennung, anzunehmen, daß es ſeine Meinung ſei, wenn 
er ſie ſagt. Ach, und doch iſt es ſo leicht, ſo ſehr leicht, eine wahre 
Meinung zu bekommen, ach, und doch iſt es ſo ſchwer, ſo ſehr 
ſchwer, eine Meinung zu haben und ſie in Wahrheit zu haben. 
Da nun der Tod der Gegenſtand des Ernſtes iſt, ſo iſt der 
Ernſt hier wieder: daß man den Tod betreffend gerade nicht 
ſich beeilen ſoll, eine Meinung zu erlangen. Des Todes Un⸗ 
gewißheit nimmt ſich ja beſtändig in allem Ernſt die Freiheit, 
nachzuſehen, ob der Meinende wirklich dieſe Meinung hat, das 
heißt, ob ſein Leben ſie ausdrückt. Im Verhältnis zu anderem 
kann man eine Meinung äußern, und wenn dann gefordert 
wird, daß man handeln ſoll in Kraft dieſer Meinung, alſo 
zeigen, daß man ſie hat, ſo ſind unzählige Ausflüchte möglich. 
Aber die Ungewißheit des Todes iſt des Schülers ſtrenger Ab⸗ 
hörer; und wenn der nun die Erklärung herſagt, ſo ſagt die 
Ungewißheit zu ihm: gut, ich werde unterſuchen, ob es deine 
Meinung iſt, denn jetzt, jetzt in dieſem Augenblick iſt es vorbei 


216 


An einem Grab 


für dich, vorbei, da iſt kein Gedanke an Ausflucht, nicht ein 
Buchſtabe hinzuzufügen, ſo bekomme ich zu ſehen, ob du wirk⸗ 
lich meinteſt, was du über mich ſagteſt. Ach, alles leere Erklären 
und aller Wortſchwall und alles Ausmalen und alles Zu⸗ 
ſammenfügen früherer Erklärungen, um eine noch ſinn⸗ 
reichere zu finden, und alle Bewunderung dafür und alle Mühe 
damit: all dies iſt nur Zerſtreuung und Geiſtesabweſenheit in 
Gedankenferne — was wohl die Ungewißheit des Todes davon 
denken mag? 

Deshalb ſoll ſich die Rede jeder Erklärung enthalten; wie 
der Tod das letzte iſt von allem, ſo ſoll dies das letzte ſein, was 
über ihn geſagt wird: er iſt unerklärlich. Die Unerklärlichkeit 
iſt die Grenze, und die Bedeutung der Ausſage nur die, dem 
Gedanken des Todes rückwirkende Kraft zu geben, ihn zur vor⸗ 
wärtstreibenden Kraft im Leben zu machen, weil es mit der 
Entſcheidung des Todes vorbei iſt, und weil die Ungewißheit 
des Todes in jedem Augenblick nachſieht. Die Unerklärlichkeit 
iſt deshalb nicht eine Aufforderung, Rätſel zu raten, eine Ein⸗ 
ladung ſinnreich zu ſein, ſondern des Todes ernſte Mahnung 
an den Lebenden iſt: ich brauche keine Erklärung, bedenke du, 
daß es mit dieſer Entſcheidung vorbei iſt, und daß ſie jeden 
Augenblick da ſein kann; ſieh, das zu bedenken iſt wohl der 
Mühe wert für dich. 

Vielleicht ſcheint es einem, daß er aus dieſer Rede nur wenig 
zu wiſſen bekomme; er weiß vielleicht ſelbſt viel mehr, und doch 
ſoll ſie nicht vergebens geweſen ſein, wenn die Vorſtellung von 


217 


Sören Kierkegaard Religiöfe Reden 


der Ungewißheit des Todes ihm Anlaß war, daß er ſich felbft 
daran erinnerte, daß viel zu wiſſen nicht unbedingt gut iſt. Viel⸗ 
leicht ſcheint es ihm, daß der Gedanke an den Tod nur furchtbar 
geworden iſt, und daß er doch auch eine mildere, eine freundlichere 
Seite für die Betrachtung habe, daß des müden Arbeiters 
Sehnſucht nach Ruhe, des müden Wanderers Haſten nach dem 
Ausgang, des Bekümmerten Vertröſtung auf des Todes 
ſchmerzſtillenden Schlaf, des Mißverſtandenen ſchwermütiger 
Drang, im Frieden zu ſchlummern, auch eine ſchöne und eine be⸗ 
rechtigte Erklärung des Todes ſei. Unleugbar! Aber ſie wird 
nicht auswendig gelernt, ſie wird nicht gelernt, indem man ſie 
nachlieſt, ſie wird langſam erworben, und wohl erſt erworben 
von dem, der ſich müde arbeitete im guten Handeln, der ſich 
müde wanderte auf dem rechten Weg, der bekümmert war für 
eine gerechte Sache, der mißverſtanden ward in einem edeln 
Streben — erſt ſo wohl erworben iſt ſie an ihrer rechten Stelle 
und eine berechtigte Rede im Munde des Hochehrwürdigen. 
Aber der Jüngere darf nicht ſo reden, damit nicht die ſchöne 
Erklärung, gleichwie das weiſe Wort in eines Toren Mund, in 
ſeinem Mund eine Unwahrheit werde. Und ich habe wohl ge⸗ 
hört, daß des Kindes und des Jünglings ernſter Lehrer in einer 
ſpäteren Zeit des Alteren und Reiferen Freund wurde, aber 
ich habe niemals gehört, wenigſtens nicht von einem, von dem 
ich zu lernen wünſchte, daß es damit begann, daß der Lehrer 
jefort zum Spielbruder wurde und das Kind zum alten Mann, 
noch auch daß dann jenes Freundſchaftsverhältnis in Wahrheit 


218 


An einem Gra b 


eingetreten ſei. So mit dem Gedanken an den Tod. Hat er 
nicht einmal mit Schrecken das Leben des Jüngeren angehalten 
und den Ernſt nur gebraucht, um Maß zu halten mit dem 
Schrecken, hat die Ungewißheit des Todes nicht ihre Zeit zur 
Unterweiſung gehabt, wo ſie mit der Strenge des Ernſtes ihn 
auferzog: da habe ich niemals gehört, wenigſtens nicht von 
einem, an deſſen Wiſſen ich Teil zu haben wünſchte, ich habe 
niemals gehört von einem ſolchen, daß es da Wahrheit war, wenn 
einer den Tod ſeinen Freund nannte, da er in ihm niemals etwas 
anderes gehabt hatte als einen Spielbruder, wenn er ſchon in 
der Jugend, des Lebens müde, hinterliſtig, um das Leben zu 
betrügen, von der Freundſchaft des Todes redete, wenn er, 
ohne das Leben genoſſen zu haben, als Greis hinterliſtig, um 
ſich ſelbſt zu betrügen, von der Freundſchaft des Todes redete. — 
Der, welcher hier geredet hat, er iſt jung, noch im Alter des 
Lernenden; er faßt nur die Schwierigkeit und die Strenge der 
Unterweiſung, oh, daß es ihm glücken möchte, dies ſo zu tun, 
daß er gerade dadurch würdig würde, ſich einmal an des Lehrers 
Freundſchaft erfreuen zu dürfen! Der, welcher hier geredet hat, 
er iſt ja nicht Lehrer, er läßt einen andern ja bloß, gleichwie er 
ſelbſt es iſt, Zeuge deſſen ſein, wie ein Menſch etwas zu lernen 
ſucht aus dem Gedanken an den Tod, jenen Lehrmeiſter des 
Ernſtes, der mit der Geburt jedem zum Lehrer für das ganze 
Leben beſtellt wurde, und der in Ungewißheit allzeit bereit iſt, 
die Unterweiſung zu beginnen, wenn ſie verlangt wird. Denn 
der Tod kommt nicht, weil einer nach ihm ruft (das wäre nur 


219 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Spaß, daß ſo der Schwächere über den Stärkeren geböte), aber 
ſobald einer der Ungewißheit Eingang verſchafft, iſt der Lehrer 
da. Der Lehrer, der einmal kommt, um Prüfung abzuhalten 
und den Schüler zu überhören, ob er nun ſeine Unterweiſung 
genießen gewollt hat oder nicht. Und dieſe Prüfung des Todes, 
oder um mit einem mehr gebrauchten Fremdwort dasſelbe 
zu ſagen, dieſes letzte Examen des Lebens iſt gleich ſchwer für 
alle. Es iſt nicht ſo, wie ſonſt, daß der glücklich Begabte leicht 
hat, es zu beſtehen, der gering Begabte ſchwer, nein: der Tod 
hält die Prüfung ab im Verhältnis zur Begabung, und ſo 
genau, daß die Prüfung für jeden gleich ſchwer wird, weil es 
die Prüfung des Ernſtes iſt. 


220 


Die Kraft Gottes 
in der Schwachheit des Menſchen 


Denke dir einen Kreis von Menſchen, vereint zu geſellſchaft⸗ 
licher Unterhaltung; das Geſpräch iſt in vollem Gange, lebhaft, 
faſt heftig, der eine kann, um das Seine anzubringen, kaum 
warten, bis der andere ausgeredet hat, und alle ſind mehr oder 
weniger eifrig beteiligt an dieſem Wortwechſel; da tritt ein 
Fremder ein. Aus den Mienen und dem Lärm der Ver⸗ 
ſammelten ſchließt er, daß der Gegenſtand der Unterredung ſie 
ſtark beſchäftige, und ſchließt höflich, daß dieſer alſo auch ein 
bedeutender ſein müſſe — er fragt nun ruhig, was er ja ganz 
gut ſein kann, da er nicht in der Hitze mit dabei war, wovon 
da eigentlich geſprochen werde. Denke dir, daß es, wos doch 
oft vorkommt, eine reine Geringfügigkeit war. Der Fremde 
iſt alſo unſchuldig an der Wirkung, die er hervorbringt, er 
hat höflich angenommen, daß es etwas Bedeutendes ſei. Aber 
welche ſonderbare Wirkung, ſo plötzlich darauf aufmerkſam zu 
werden, daß das, was vielleicht mehr als eine Stunde lang 
eine große Geſellſchaft beſchäftigt hat, und faſt leidenſchaftlich, 
ſo unbedeutend iſt, daß es kaum ſich ſagen läßt, daß es nichts 
iſt, wenn ein Fremder ruhig fragt, wovon die Rede ſei! 


221 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Aber eine noch ſonderbarere Wirkung bringt oft die fromme 
Rede hervor, wenn ſie in die weltliche hineintönt. So iſt in 
der Welt oft genug die Rede von Streit und Streit und Streit. 
Es iſt davon die Rede, daß der und jener Mann in Streit mit⸗ 
einander leben; daß Mann und Weib, wiewohl vereint durch 
das heilige Band der Ehe, in Streit miteinander leben; von 
dem gelehrten Streit, der nun zwiſchen dem und jenem be⸗ 
gonnen hat; davon, daß einer den anderen auf Leben und Tod 
gefordert hat; daß Aufruhr ausbrach in der Stadt; von den 
Tauſenden der feindlichen Heere, die nun vorrücken gegen das 
Land; von einem europäiſchen Krieg, der bevorſtehe; vom 
Streit der raſenden Elemente. Siehe, davon ſpricht man in 
der Welt, Tag aus, Tag ein, Tauſende und Abertauſende! Haſt 
du davon etwas zu erzählen, ſo wirſt du Zuhörer leicht finden; 
und wünſcheſt du davon etwas zu hören, ſo wirſt du Redner 
leicht finden. Aber ſtelle dir vor, daß einer an dieſer Rede von 
Streit Anlaß nähme, von dem Streite zu reden, den jeder 
Menſch zu ſtreiten hat — mit Gott: welche ſonderbare Wir⸗ 
kung; ſollte es nicht den meiſten eher vorkommen, daß er es 
ſei, der von nichts redet, während alle die anderen doch von 
etwas redeten, oder ſogar von etwas ſehr Wichtigem! Sonder⸗ 
bar! Denn reiſ' um die Welt, mache Bekanntſchaft mit den 
ver ſchiedenen Völkerſchaften, geh umher zwiſchen den Menſchen, 
laſſe mit ihnen dich ein, beſuche fie in ihren Häuſern, folge mit 
zu ihren Zuſammenkünften — und höre genau zu, was das iſt, 
von dem ſie reden; nimm an den vielen, vielen verſchiedenen Ge⸗ 


222 


ENTER 


Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen 


ſprächen teil, über die unzählig vielen verſchiedenen Weiſen, wie 
ein Menſch hier in dieſer Welt zum Streit kommen kann, aber 
beſtändig ſo, daß du ſelbſt nicht der biſt, der dieſen Gegenſtand 
ins Geſpräch führt: und ſage dann, ob du jemals von dieſem 
Streit ſprechen gehört haſt. Und doch geht dieſer Streit jeden 
Menſchen an; es gibt keinen anderen, von welchem es in dem 
Grade gilt, daß er unbedingt jeden Menſchen angeht. Denn 
der Streit zwiſchen Mann und Mann — nun, da ſind doch 
viele, die ihr Leben ohne Streit friedlich hinleben. Und der 
Streit zwiſchen Eheleuten — nun, es gibt doch viele glück⸗ 
liche Ehen, welche dieſer Streit alſo nicht angeht. Und das 
iſt doch wohl eine Seltenheit, daß ein Menſch auf Leben 
und Tod gefordert wird, ſo daß dieſer Streit nur ſehr 
wenige angeht. Und ſelbſt in einem europäiſchen Krieg gibt 
es doch viele, ja wäre er auch am allerentſetzlichſten, da ſind 
doch viele, wenn nicht anderswo, ſo in Amerika, die in Frieden 
hinleben. Aber dieſer Streit mit Gott geht unbedingt jeden 
Menſchen an. 

Doch vielleicht wird dieſer Streit für ſo heilig und ernſt ge⸗ 
halten, daß aus dieſem Grunde nie von ihm geſprochen wird. 
Wie Gott nicht geradezu in der Welt wahrzunehmen iſt, wo 
dagegen die ungeheure Menge des Mannigfaltigen die Auf⸗ 
merkſamkeit auf ſich zieht, ſo daß es iſt, als wäre Gott über⸗ 
haupt nicht da: ſo iſt vielleicht dieſer Streit wie ein Geheimnis, 
das jeder Menſch hat, von dem aber nie geredet wird, während 
all das andere, von dem geredet wird, die Aufmerkſamkeit auf 


223 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſich zieht, als wäre jener Streit überhaupt nicht da. Vielleicht 
iſt es ſo, vielleicht. 

Aber gewiß iſt dieſes: jeder Leidende iſt auf die eine oder 
andere Weiſe veranlaßt, auf dieſen Streit aufmerkſam zu 
werden. Und an Leidende wenden ja dieſe Reden ſich. So laß 
uns reden von dieſem Streit, von der Freude im Ge⸗ 
danken: daß Gott, je ſchwächer du wirſt, um ſo 
ſtärker wird in dir. 

Indeſſen gilt es hier, wie in allen dieſen Reden: alles beruht 
darauf, wie das Verhältnis geſehen wird. Will der Leidende, 
mißmutig, verſtimmt, vielleicht verzweifelt, dabei beharren, nur 
darauf zu ſtieren, wie ſchwach er geworden iſt: darin liegt keine 
Freude. Aber will er davon wegſehen, um zu ſehen, was es be⸗ 
deutet, daß er ſchwach wird, wer es denn iſt, der ſtark wird; 
daß es Gott iſt: ſo i ſt ja hier die Freude. Man hört zuweilen 
einen Überwundenen ſagen: „Ich ward überwunden, war der 
Schwächere (dieſes iſt das Schmerzliche), aber was mich tröſtet, 
ja freut, iſt, daß doch Er es war, der ſiegte.“ Welcher „Er“? 
Ja, das muß einer fein, von dem der Überwundene große Stücke 
hält, den er hochachtet. Die Freude iſt gewiß nicht vollkommen, 
er wäre lieber Sieger geworden; aber er gewinnt der Nieder⸗ 
lage eine frohere Seite ab, er gönnt dem Sieger den Sieg. 
Aber wenn nun Er, der ſiegt, Gott iſt — und wieder iſt es 
ja nur ein falſches Sehen des Leidenden, wenn er nach außen 
darauf ſtieren will, daß es ſeine Feinde, ſeine Neider ſind, die 
ſtärker werden; denn wohl möglich, daß ſie ſtärker werden, aber 


224 


En Se En 8 — 


r T. 


Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen 


damit hat der Leidende es gar nicht zu tun. Er wird ſchwach; 
nach innen verſtanden bedeutet dieſes einzig und allein, daß 
Gott ſtark wird. Alſo wenn nun Er, der ſiegt, Gott iſt! Gott 
den Sieg gönnen, damit ſich tröſten, daß Er es iſt, der geſiegt 
hat! oh, das heißt doch im Grunde den Sieg ſich ſelber gönnen! 
Denn im Verhältnis zu Gott kann ein Menſch in Wahrheit 
nur dadurch ſiegen, daß Gott ſiegt. Doch laſſet uns erſt danach 
ſtreben, es recht einleuchtend zu machen, daß dieſes, daß ein 
Menſch ſchwach wird, nach innen bedeutet, daß Gott ſtark 


wird in ihm. Und das iſt's, worum wir zuerſt und zuletzt den 


Leidenden bitten müſſen, was wir von ihm fordern müſſen, 
um zu ihm reden zu können, daß er, ſo raſch wie möglich, das 
Auge vom Außeren wegwende, den Blick nach innen kehre, 
damit dieſer nicht, und er mit ihm, in einer äußeren Betrach⸗ 
tung des Verhältniſſes ſeines Leidens zu einer Umwelt hängen 


bleibe. Wenn ſo das erſte getan iſt, wenn es einleuchtend ge⸗ 


macht worden iſt, daß dieſes, daß ein Menſch ſchwach wird, nach 
innen bedeutet, daß Gott ſtark wird in ihm: ſo wird von ſelbſt 
folgen, daß dieſes Freude iſt. 

Ein Menſch, der nur ſelten, und dann flüchtig, mit ſeinem 
Verhältnis zu Gott ſich beſchäftigt, denkt kaum daran oder 
träumt davon, daß er Gott ſo nahe angeht, oder daß Gott ihm 
ſo nahe liegt, daß zwiſchen ihm und Gott ein Wechſelverhältnis 
ſtatt hat: je ſtärker ein Menſch iſt, um ſo ſchwächer iſt Gott 
in ihm; je ſchwächer ein Menſch iſt, um ſo ſtärker iſt Gott in 
ihm. Jeder, der annimmt, daß ein Gott iſt, denkt Ihn ſich 


15 225 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


natürlich als den Stärkſten, was Er ja ewig iſt, Er, der All⸗ 
mächtige, der aus nichts ſchafft, und für den alle Schöpfung 
iſt wie nichts; aber er denkt wohl kaum die Möglichkeit eines 
Wechſelverhältniſſes. 

Doch iſt da für Gott, den ewig Stärkſten, ein Hindernis; 
Er hat es Sich ſelbſt geſetzt, ja Er hat liebreich, in unbegreif⸗ 
licher Liebe, es Sich ſelber geſetzt; denn Er ſetzte es, und ſetzt 
es, jedesmal wenn ein Menſch wird, den Er in Seiner Liebe 
erſchafft, daß er vor Ihm etwas ſei. Oh, wunderreiche Allmacht 
und Liebe! Ein Menſch, er kann es nicht ertragen, daß ſeine 
„Geſchöpfe“ etwas ſeien ihm gegenüber; ſie ſollen nichts ſein, 
deshalb nennt er fie auch, mit Verachtung „Geſchöpfe“. Aber 
Gott, der aus nichts ſchafft, allmächtig aus dem Nichts nimmt 
und ſagt: Werde! Er fügt liebreich hinzu: Werde etwas ſogar 
vor Mir! Wunderreiche Liebe, ſelbſt Seine Allmacht iſt noch 
in der Macht der Liebe! 

Darum das Wechſelverhältnis. Wäre Gott nur der Allmäch⸗ 
tige, ſo gäbe es kein Wechſelverhältnis; denn für den Allmäch⸗ 
tigen iſt das Geſchöpf nichts. Aber für die Liebe iſt es etwas. 
Unbegreifliche Allmacht der Liebe! Denn es iſt, als könnte man 
doch, im Vergleich mit dieſer Allmacht, beſſer begreifen, was 
man doch nicht begreifen kann: die Allmacht, die aus nichts 
ſchafft; aber dieſe Allmacht, die (wunderreicher, als alles Wer⸗ 
den der Schöpfung!) ſich ſelber zwingt, und das Erſchaffene 
liebreich zu etwas vor Ihr macht: oh, wunderreiche Allmacht 
der Liebe! Strenge deinen Gedanken bloß ein wenig an; das 


226 


3 8 


Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen 


iſt nicht ſo ſchwer, und es iſt doch ſo ſelig. Die Allmacht, die 
aus nichts ſchafft, iſt nicht ſo unbegreiflich, wie die allmächtige 
Liebe, die jenes vor der Allmacht erbärmliche Nichts zum 
Gegenſtand der Liebe machen kann. 

Aber juſt deshalb fordert auch die Liebe etwas vom Men⸗ 
ſchen. Die Allmacht fordert nicht etwas; der Allmacht fällt 
niemals etwas anderes ein, als daß der Menſch nichts iſt — 
für die Allmacht iſt er nichts. Man meint, daß der allmächtige 
Gott es ſei, der etwas fordert vom Menſchen, und dann, viel⸗ 


leicht, daß es der liebende Gott ſei, der etwas nachgibt. O trau⸗ 


riges Mißverſtändnis, das vergißt, wie Gottes unendliche Liebe 
ſchon da fein muß, damit ein Menſch fo für Gott eriftiere, 
daß die Rede davon ſein kann, etwas von ihm zu fordern. Wenn 
der Allmächtige etwas von dir forderte, ſo wäreſt du im ſelben 
Augenblicke nichts. Aber der liebende Gott, der in unbegreif⸗ 
licher Liebe dich zu etwas vor Ihm ſchuf, Er fordert liebreich 
etwas von dir. In menſchlichen Verhältniſſen iſt es die Macht 
des Mächtigen, die etwas von dir fordert, ſeine Liebe aber, 
die nachgibt. Aber nicht ſo in deinem Verhältnis zu Gott. Es 
gibt keinen irdiſchen Machthaber, für den du nichts biſt, deshalb 
iſt es ſeine Macht, die fordert; aber vor Gott biſt du nichts, 
deshalb iſt es Seine Liebe, die, wie ſie dich zu etwas erſchuf, 
etwas von dir fordert. Man redet davon, daß die Allmacht 
Gottes einen Menſchen zermalme. Aber das iſt nicht ſo; ſo 
viel iſt kein Menſch, daß Gott die Allmacht gebrauchen müßte, 
um ihn zu zermalmen, denn für die Allmacht iſt er nichts. Es 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


iſt die Liebe Gottes, die noch im letzten Augenblick Seine Liebe 
erweiſt, indem Er den Menſchen etwas vor Ihm ſein läßt. 
Wehe ihm, wenn die Allmacht gegen ihn ſich wendete! 

Alſo die Liebe, die den Menſchen zu etwas erſchuf (denn 
die Allmacht ließ ihn werden, aber die Liebe ließ ihn daſein 
vor Gott) fordert liebend etwas von ihm. Nun iſt das Wechſel⸗ 
verhältnis da. Will der Menſch dieſes Etwas, wozu die Liebe 
ihn ſchuf, ſelbſtiſch für ſich behalten, ſelbſtiſch dieſes Etwas 
ſein, ſo iſt er, weltlich verſtanden, ſtark — aber Gott ſchwach. 
Es iſt auch faſt, als wäre Gott geprellt: in unbegreiflicher Liebe 
hat Er den Menſchen zu etwas geſchaffen — und darnach be⸗ 
trügt Ihn der Menſch, behält dieſes, als wäre es ſein Eigenes. 
Der Weltliche beſtärkt ſo ſich ſelbſt darin, daß er ſtark ſei, 
wird vielleicht durch das weltliche Urteil anderer im ſelben 
beſtärkt, ſchafft vielleicht durch ſeine vermeintliche Stärke die 
Geſtalt der Welt um — aber Gott iſt ſchwach. Gibt dagegen 
der Menſch ſelbſt dieſes Etwas auf, die Selbſtändigkeit, die 
Freiheit, über ſich ſelbſt zu verfügen, welche die Liebe ihm 
ſchenkte; mißbraucht er nicht dieſe ſeine Vollkommenheit, vor 
Gott zu ſein, indem er ſie eitel nimmt; hilft Gott ihm viel⸗ 
leicht in dieſer Hinſicht durch ſchwere Leiden, indem Er ihm 
das Liebſte nimmt, ihn an ſeiner zarteſten Stelle verwundet, 
ihm die Erfüllung ſeines einzigen Wunſches verweigert, ihm 
ſeine letzte Hoffnung raubt, ſo iſt er ſchwach. Ja, das wird ihm 
jeder ſagen, ſo wird er von allen angeſehen werden, keiner will 
gemeinſame Sache mit ihm machen, denn es ſieht ja aus, als 


2²8 


Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen 


wäre er nur eine Bürde, die das Mitleid zu tragen habe. Er 
iſt ſchwach — aber Gott iſt ſtark. Er, der Schwache, hat ganz 
dieſes Etwas aufgegeben, zu dem die Liebe ihn ſchuf, er hat 
aus ganzem Herzen eingewilligt, daß Gott alles von ihm 
nehme, was da genommen werden kann. Gott wartet bloß 
darauf, daß er liebend ſeine demütige, ſeine freudige Einwilli⸗ 
gung gebe und dadurch alles ganz aufgebe, ſo daß er ganz ſchwach 
iſt — und ſo iſt Gott am ſtärkſten. Es gibt nur einen, der 
Gott daran hindern kann, der Stärkſte zu werden, Ihn, der doch 


ewig der Stärkſte iſt: dieſer eine iſt der Menſch ſelber. Daß 


Gott ſo der Stärkſte iſt, wird erkannt an dieſem: daß der 
Menſch ganz ſchwach iſt. Es gibt für Gott nur ein Hindernis: 
die Selbſtſucht des Menſchen, die zwiſchen Gott und den Men⸗ 
ſchen tritt, wie der Schatten der Erde, wenn ſie den Mond 
ver finſtert. Beſteht dieſe Selbſtſucht, fo iſt der Menſch ſtark, 
aber ſeine Kraft iſt Gottes Schwachheit; iſt dieſe Selbſtſucht 
weg, ſo iſt der Menſch ſchwach, Gott ſtark; je ſchwächer er wird, 
deſto ſtärker wird Gott in ihm. 

Doch da dieſes ſo iſt, ſo iſt das Verhältnis in einem anderen 
Sinne, im Sinne der Wahrheit umgekehrt, und 
nun ſind wir in der Freude. 

Denn der, welcher ſtark iſt ohne Gott, er iſt 
in Wahrheit ſchwach. Die Kraft, mit der ein Mann allein 
ſteht, kann im Vergleich mit der eines Kindes, Kraft ſein. Aber 
die Kraft, mit der ein Menſch allein ohne Gott ſteht, iſt 
Schwachheit. Gott iſt in dem Maße der Starke, daß Er alle 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden. 


Kraft, daß Er die Kraft iſt. Ohne Gott ſein heißt alſo 
ohne Kraft ſein, ſtark ſein ohne Gott alſo: ſtark ſein — ohne 
Kraft; es iſt wie lieben, ohne Gott zu lieben, alſo lieben — 
ohne Liebe, denn Gott i ſt die Liebe. 

Aber der, welcher ganz ſchwach ward, in ihm wurde Gott 
ſtark. Der, welcher anbetend und liebend und preiſend ſchwächer 
und ſchwächer ward, ſich ſelber vor Gott unbedeutender als ein 
Sperling, wie ein Nichts, in ihm wird Gott ſtärker und ſtärker. 
Und dieſes, daß Gott ſtärker und ſtärker wird 
in ihm, bedeutet, daß er ſelber ſtärker und 
ftärfer wir d. — Wenn du ganz ſchwach werden könnteſt 
in vollkommenem Gehorſam, ſo daß du liebend Gott verſtändeſt, 
daß du gar nichts vermagſt, ſo würden alle Machthaber der 
Welt, wenn ſie gegen dich ſich vereinten, dir nicht ein Haar auf 
deinem Haupte zu krümmen vermögen: welche ungeheure Kraft! 
Aber das iſt ja auch gar nicht wahr; und laſſet uns um alles 
nicht eine Unwahrheit ſagen. Ja, gewiß vermöchten ſie es, ſie 
vermögen ja ſogar dich totzuſchlagen, und die Vereinigung aller 
Machthaber der Welt iſt dazu gar nicht nötig, das weit, weit 
Geringere kann — und leicht genug — das tun. Aber wenn 
du doch ganz ſchwach wäreſt, in vollkommenem Gehorſam, ſo 
ſollten alle Machthaber der Welt vereint nicht vermögen, dir 
ein Haar auf deinem Haupte zu krümmen anders, als Gott 
es will. Und wenn es dir ſo gekrümmt wird, ja und wenn du 
ſo verhöhnt wirſt, ja und wenn du ſo totgeſchlagen wirſt — ſo 
du ganz ſchwach wäreſt, in vollkommenem Gehorfam: da 


230 


Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen 


wür deſt du liebend verſtehen, daß dir kein Schade zugefügt wird, 
nicht der geringſte, daß es juſt dein wahres Wohl iſt — welche 
ungeheure Kraft! 

Und ſelbſt wenn es nicht ſo wäre, daß du, in deſſen Schwach⸗ 
heit Gott ſtark iſt, der Stärkſte biſt: da iſt ja doch die Freude, 
die Seligkeit, daß Gott ſtärker und ſtärker wird. Laſſet uns 
von einem Verhältnis zwiſchen Menſch und Menſch reden, das, 
wenn auch ganz unvollkommen, in etwas dem entſpricht, was 
im Verhältnis zwiſchen Menſch und Gott die Wahrheit der 
Anbetung“ iſt, laſſet uns von der Bewunderung reden. Be⸗ 
wunderung iſt in ſich ein Doppeltes, kann von zwei Seiten be⸗ 
trachtet werden; das erſte iſt ein Gefühl von Schwachheit, da 
ja der Bewundernde in der Bewunderung zur Überlegenheit ſich 
verhält. Aber Bewunderung iſt ein glückliches Verhältnis zur 
Überlegenheit und iſt alſo ein ſeliges Gefühl; in wahrer Ein⸗ 
ſtimmigkeit mit ſich ſelbſt bewundern iſt vielleicht ſeliger als 
der Bewunderte zu ſein. Daß das erſte der Bewunderung ein 
Gefühl des Schmerzes iſt, erſieht man auch daraus, daß, wenn 
einer die Überlegenheit ſpürt, aber unwillig ſie einräumt, nicht 
freudig, er weit entfernt iſt, glücklich zu ſein, er iſt im Gegen⸗ 
teil höchſt unglücklich, in peinvollem Schmerz. Sobald er da⸗ 
gegen der Überlegenheit ſich ergibt, die er im Grunde doch, aber 
unglücklich bewunderte, und in Bewunderung ſich ergibt, ſo 
liegt die Freude in ihm. Je mehr eins mit ſich ſelbſt er iſt im 
Bewundern, um ſo näher iſt er dabei, der Überlegenheit faſt 
überlegen zu werden; er iſt in ſeiner Bewunderung unbe⸗ 


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Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


ſchreiblich befreit von allem Druck der Überlegenheit, er unter⸗ 
liegt nicht der Überlegenheit, ſondern er ſiegt in der Bewun⸗ 
derung. Laſſet uns nun vergeſſen, was hier an Unvollkommenem 
ſein mag, inſofern Bewunderung im Verhältnis zwiſchen 
Menſch und Menſch der Anbetung im Verhältnis zwiſchen 
Menſch und Gott entſprechen ſoll. Gott iſt unendlich der 
Stärkſte; das glaubt im Grunde jeder Menſch, und fühlt inſo⸗ 
weit, ob er will oder nicht will, Gottes unendliche Überlegen⸗ 
heit über ſein eigenes Nichts. Aber ſolange er nur glaubt, daß 
Gott der Stärkſte iſt, und, um das Furchtbare zu nennen, es 
glaubt, wie ja auch der Teufel es tut — und bebt; ſolange er 
es nur ſo glaubt, daß er nicht froh dabei wird: ſo lange iſt das 
Verhältnis peinigend, unglücklich, ſeine Schwachheit ein qual⸗ 
volles Gefühl. Denn Trotz iſt im Verhältnis zur Anbetung, 
was Neid im Verhältnis zur Bewunderung iſt. Trotz iſt 
Schwachheit und Ohnmacht, der ſich ſelbſt unglücklich macht, 
indem er nicht Schwachheit und Ohnmacht ſein will, iſt das 
unglückliche Verhältnis der Schwachheit und Ohnmacht zur 
Überlegenheit, gleichwie der Neid ſich ſelbſt martert, weil er 
nicht ſein will, was er im Grunde doch iſt: Bewunderung. Es 
wird vom Menſchen gefordert, was ſchon im Verhältnis der 
Bewunderung (denn der Bewundernde verliert ſich ſelber in 
der Bewunderung des ſo viel Größeren) angedeutet iſt, daß er 
ſich ſelbſt verlieren ſoll an Gott. Tut er das von ganzem Herzen, 
aus aller Kraft und mit ſeinem ganzen Sinn, ſo iſt er in einem 
glücklichen Verhältnis zu Gott als dem Stärkſten, ſo iſt er — 


232 


K 
. 
aa 
RG 


Die Kraft Gottes in der Schwachheit des Menſchen 


anbetend; nie, nie ward irgendein Liebender ſo glücklich; nie, 
nie ſpürte der vertrocknetſte und in Dürre ſchmachtende Erd⸗ 
boden des Regens Erquickung fo lebendig, wie der Anbetende 
in ſeiner Schwachheit ſelig die Kraft Gottes ſpürt. Nun paſſen 
dieſe beiden, Gott und der Anbetende, zueinander, glücklich, 

ſelig, wie nie Liebende zueinander gepaßt haben. Das iſt nun 
des Anbetenden einziger Wunſch, ſchwächer und ſchwächer zu 
werden, denn um ſo größer die Anbetung; das iſt der Anbetung 
einziger Drang, daß Gott ſtärker und ſtärker werde. Der An⸗ 


betende hat ſich ſelbſt verloren, und fo, daß dieſes das einzige 


iſt, das er los zu ſein wünſcht, das einzige, das er flieht; er hat 
Gott gewonnen — und ſo iſt es ſeine eigene Sache, daß Gott 
ftärfer und ſtärker werde... | 

Der Anbetende ift der Schwache; fo muß es allen anderen 
vorkommen, und das iſt das Demütigende. Er iſt ganz ſchwach; 
er vermag nicht, wie andere, Beſchlüſſe zu faſſen für ein langes 


Leben, nein, er iſt ganz ſchwach; er vermag kaum im voraus 


für den morgigen Tag einen Beſchluß zu faſſen, ohne hinzu⸗ 


zufügen: „So Gott will.“ Er vermag nicht auf ſeine Kraft zu 


trotzen, auf ſeine Talente, auf ſeine Gaben, ſeinen Einfluß, er 
vermag nicht, ſtolze Worte zu reden von dem, was er vermag — 


denn er vermag gar nichts. Das iſt das Demütigende. Aber nach 


innen, welche Seligkeit! Denn dieſe ſeine Seligkeit iſt das 
Geheimnis der Liebe mit Gott, iſt Anbetung. Je ſchwächer er 
ſelber wird, um ſo innerlicher kann er anbeten; und je inner⸗ 
licher er anbetet, um ſo ſchwächer wird er — und um ſo ſeliger. 


233 


Sören Kierkegaard Religiöſe Reden 


Iſt es alſo nicht Freude, daß Gott, je ſchwächer du wirſt, 
um ſo ſtärker wird in dir, oder, iſt es nicht Freude, daß du 
ſchwach wirſt? Iſt da im Grund darüber zu klagen, daß das 
Schwere dich traf, vor dem dir vielleicht am meiſten graute, 
und das dich ganz ohnmächtig und ſchwach machte: je ſchwächer 
du wirſt, um ſo ſtärker wird Gott in dir. Und daß dieſes Freude 
iſt, oh, das wirſt du ja doch wohl ſelber zugeſtehen! Bedenke, 
wie armſelig, wenn ein Menſch ſein Leben hinbringen könnte, 
ſtolz und ſelbſtzufrieden, ohne jemals etwas bewundert zu haben; 
aber wie furchtbar, wenn ein Menſch ſein Leben hinbringen 
könnte, ohne jemals über Gott geſtaunt zu haben, ohne aus 
Staunen über Gott in Anbetung ſich verloren zu haben! Aber 
anbeten kann man nur, indem man ſelber ſchwach wird; deine 
Schwachheit iſt weſentlich: Anbetung; wehe dem Vermeſſenen, 
der, vermeintlich ſtark, frech genug ſein wollte, als Starker 
Gott anzubeten! Der wahre Gott wird angebetet nur im Geiſt 
und in der Wahrheit — aber die Wahrheit iſt juſt, daß du 
ganz ſchwach biſt. 

So iſt nichts zu fürchten in der Welt, nichts von dem, das 
dich all deiner eigenen Kraft berauben und dich ganz ſchwach 
machen kann, das all dein Zutrauen zu dir ſelbſt zer brechen und 
dich ganz ſchwach machen kann, das deinen irdiſchen Mut ganz 
niederbeugen und dich ganz ſchwach machen kann — denn je 
ſchwächer du wirſt, deſto ſtärker wird Gott in dir. 

Nein: ſo verſtanden, iſt nichts in der Welt zu fürchten 
— denn nur die Sünde iſt das Verderben des Menſchen. 


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Inhalt 


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Liebe deckt der Sünden Menge. . . . . - 
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Die Bekräftigung im inneren Menſchen 
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An einem Grab J 

Die Kraft Gottes in der Shwanleit des Menſchen ; 


Vom felben Überſetzer ift erſchienen: 


Sören Kierkegaard 
und die Philoſophie der Innerlichkeit 
München, Verlag J. F. Schreiber 1913 


* 


Sören Kierkegaard: Der Pfahl im Fleiſch 
Brenner-Verlag, Innsbruck 1914 


* 


Sören Kierkegaard: Kritik der Gegenwart 
2. Auflage. Brenner-Verlag, Innsbruck 1922 


* 


Sören Kierkegaard: 
Der Begriff des Auserwählten 


Hellerauer Verlag Jak. Hegner 1917 


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