Svoboda | Graniru | BBC Russia | Golosameriki | Facebook

Ok

Europa

Nordische Militärkooperation

Die neue Angst vor Russland

Festung gegen den Feind: Angesichts der russischen Muskelspiele hat Gotland wieder an strategischer Bedeutung gewonnen.
Festung gegen den Feind: Angesichts der russischen Muskelspiele hat Gotland wieder an strategischer Bedeutung gewonnen. (Bild: Dukas)
Das Säbelrasseln Moskaus im Ostseeraum und in der Arktis hat die nordischen Länder aufgeschreckt. Nun wird hastig versucht, Lücken in der Verteidigung zu schliessen. Helfen soll dabei eine vertiefte militärische Kooperation.

Dicke Mauern sind allgegenwärtig in Visby. Sie gehören zu den zahlreichen mittelalterlichen Kirchen und Kirchenruinen, von denen einige eher an Trutzburgen gemahnen, oder zu den stattlichen Häusern reicher Kaufmannsfamilien. Unübersehbar ist jedoch vor allem die in weiten Teilen gut erhaltene, massive Ringmauer von fast vier Kilometern Länge, die sich um den substanziellen historischen Stadtkern zieht.

Gotland ohne Verteidigung

Der Hauptort der schwedischen Insel Gotland, die etwa auf halbem Weg zwischen Schweden und Lettland in der Ostsee liegt, war einst mächtig und Gotland wichtig. Im 12. Jahrhundert hatte sich Visby als Scharnier zwischen Westeuropa, dem Baltikum und dem russischen Handelszentrum Nowgorod zum führenden Handelshafen Europas entwickelt. Und der Insel Gotland kam mit ihrer Lage in der Ostsee nicht nur handelspolitische, sondern auch militärstrategische Bedeutung zu. Über Jahrhunderte war sie umkämpft.

Wollte man hingegen das heute auf Gotland präsente schwedische Militärpersonal auf die 36 erhaltenen Türme in der Stadtmauer von Visby verteilen, könnte jeder der hier ständig stationierten Soldaten sich in einem eigenen Turm wohnlich einrichten – und einige blieben immer noch frei. An militärischem Material gibt es auf Gotland zwar ein gutes Dutzend moderner Panzer, ihre Besatzungen müssten vor einem Einsatz allerdings zuerst eingeflogen werden. Auch existiert ein Bataillon der Miliz-Heimwehr, das es im Bedarfsfall jedoch noch zu mobilisieren gälte.

Gotland, 170 Kilometer lang, bis zu 50 Kilometer breit und bewohnt von knapp 60 000 Menschen, ist damit heute de facto demilitarisiert. Zur Zeit des Kalten Krieges waren hier noch rund 5000 Mann mit zahlreichem Gerät stationiert, als die Insel gewissermassen einen Vorposten des Westens darstellte und die baltische Küste Teil der Sowjetunion war. Doch Entwicklungen wie der Fall des Eisernen Vorhangs, die Wiedererstehung der baltischen Republiken Estland, Lettland und Litauen als selbständige Staaten sowie deren nachfolgende Eingliederung in EU und Nato trugen zu einer deutlichen Entspannung im Ostseeraum bei. Die Möglichkeit eines Abbaus der nicht eben billigen Präsenz schwedischer Streitkräfte auf Gotland wurde damals als Teil der neuen «Friedensdividende» verstanden.

Umdenken in Stockholm

Zwar räumte der Oberbefehlshaber der schwedischen Streitkräfte, Sverker Göranson , schon vor rund einem Jahr ein, dass bei einem allfälligen russischen Griff nach den baltischen Staaten (zum vermeintlichen «Schutz» russischsprachiger Minderheiten) der Ostseeinsel Gotland eminente strategische Bedeutung zukäme. Während man eine solche Entwicklung nicht ausschliessen könne, schätze man ihre Wahrscheinlichkeit aber als gering ein. Er halte es deshalb für besser, mit den Mitteln, die für mehr Truppenpräsenz auf Gotland nötig wären, die Armee anderweitig zu stärken.

Inzwischen hat in der schwedischen Regierung in dieser Sache jedoch ein gewisses Umdenken stattgefunden. So bekundete Ministerpräsident Löfven die Absicht, auf Gotland wieder eine Truppe ständig zu stationieren, und zwar in der Stärke von rund 150 Mann. Abgesehen von der Frage, ob eine Kompanie ausreichend wäre, um eine tatsächliche Schutzfunktion wahrzunehmen, ist laut Militärexperten eine rasche Verlegung der Truppe allerdings gar nicht möglich. Die Infrastruktur sei ungenügend und müsse erneuert werden. Das gehe nicht von heute auf morgen.

Szenarien und Hypothesen

Dass Gotland so plötzlich in den Fokus von Militärbeobachtern gerückt ist, hat seinen Grund in der Rolle, welche die beschauliche Ferieninsel in einer Konfliktsituation im baltischen Raum spielen könnte. In hypothetischen Worst-Case-Szenarien ist die Rede von der Möglichkeit einer handstreichartigen Besetzung der Insel durch Russland, um durch die Stationierung von Waffensystemen mit grosser Reichweite die Nato daran zu hindern, Flugzeuge und Schiffe heranzuführen, die den baltischen Staaten Hilfe leisten könnten.

Diese Möglichkeit hätte Russland zwar schon heute, nämlich vom Kaliningrader Gebiet aus. Doch ist dieses, eingeklemmt zwischen den Nato-Staaten Polen und Litauen und ohne Landverbindung zu Russland, für Moskau weit schwieriger zu verteidigen, als es ein besetztes Gotland mitten im Meer wäre.

Reaktionsschnelligkeit testen

Die in den vergangenen Monaten wiederholt festgestellten russischen Flugmanöver über der Ostsee werden von den einen als Machtdemonstration, von anderen aber als Tests Russlands interpretiert, wie schnell und energisch Schweden und Finnland, beide nicht Mitglieder der Nato, mit ihrer Luftwaffe zu reagieren imstande wären. Einen Überflug eines russischen Verbands mit Transportflugzeugen und begleitenden Jägern durch den Ostseeraum in Richtung Kaliningrad vermochte Schweden unlängst nicht zu überwachen. Es reagierten italienische Flugzeuge, die von einer Nato-Basis in Litauen aufstiegen – doch wären sie in einer Auseinandersetzung dem russischen Verband krass unterlegen gewesen.

Eine Besetzung Gotlands durch Russland würde jedoch eine Ost-West-Konfrontation bedeuten, aus der es kaum einen Weg zurück gäbe. Ein solcher Schritt, müsste man annehmen, würde deshalb im Kreml kaum leichtfertig beschlossen. Dass das Szenario in westlichen Köpfen aber überhaupt herumgeistert und nicht von vornherein als absurd abgetan wird, zeigt, wie schwierig die Einschätzung dessen geworden ist, was Moskau zuzutrauen ist und was nicht. Noch vor nicht allzu langer Zeit figurierte wohl für die meisten auch eine russische Besetzung der Krim im Bereich des Undenkbaren.

Zusammenrücken im Norden

Nicht nur in Schweden ist man jedoch überrascht davon, wie kalt der neue Ostwind bläst. Auch Norwegen bedauert, Winterkleider weggegeben zu haben, die nun sehr willkommen wären. So hat man 2009 die früher streng geheime, in den Fels gehauene U-Boot-Basis Olavsvern am Polarmeer, die man nicht mehr zu benötigen glaubte, an einen privaten Abnehmer verkauft. Das Interesse war gering, schliesslich ging die Anlage zu einem Zehntel ihres ursprünglichen Baupreises an einen Unternehmer, der sie weitervermietet – an staatliche russische Forschungsschiffe. Pikant an der Sache ist nicht zuletzt, dass es die Regierung von Jens Stoltenberg war, die den Entschluss fällte, die Basis abzustossen. Von jenem Stoltenberg, der jetzt Nato-Generalsekretär ist und vor dem «neuen» Russland warnt.

Der norwegische Oberbefehlshaber Admiral Haakon Bruun-Hansen bezeichnete den russischen Aufbau militärischer Kapazität in der Arktis als grösste derzeitige militärische Herausforderung für sein Land. Die Budgetmittel, um ihr zu begegnen, seien dabei knapp. Verteidigungsministerin Ine Eriksen Sörejde erklärte, man müsse die Prioritäten neu setzen, um den besten Effekt mit den Möglichkeiten des Verteidigungshaushalts zu erzielen.

Vor dem Hintergrund des russischen Gebarens veröffentlichten die Verteidigungsminister der nordischen Staaten sowie Islands Aussenminister letzte Woche in der norwegischen Zeitung «Aftenposten» einen gemeinsam unterzeichneten Artikel, in dem sie verstärkte militärische Zusammenarbeit ankündigten. Russland stelle eine ernste Herausforderung für die Sicherheit Europas dar, der man mit Solidarität und vertiefter Kooperation begegnen wolle.

Eine negative Reaktion Moskaus, wie von Kommentatoren beim Erscheinen des Artikels vorausgesagt, liess nicht lange auf sich warten. Man betrachte die nordische Verteidigungskooperation als gegen Russland gerichtet, hiess es aus dem Kreml am Wochenende. Der finnische Ministerpräsident Stubb richtete darauf einen Aufruf an die finnische Bevölkerung, sich vom russischen Säbelrasseln nicht beeindrucken zu lassen. Der Direktor des Osteuropa-Instituts der Universität Helsinki, Kivinen, bezeichnete die Position der nordischen Verteidigungsminister laut der Sendeanstalt YLE jedoch als «unkluge Provokation», auf die Russland kaum überraschend reagiert habe.

Kommentare

Loading

Mehr aus Europa [х]

articlemorebox

Sarkozy setzt auf neuen Namen

«Les Républicains»