Svoboda | Graniru | BBC Russia | Golosameriki | Facebook



100 Tage nach G20 Die Polizei braucht Mut

Vor 100 Tagen eskalierte beim G20-Gipfel die Gewalt auf Hamburgs Straßen. Davon hat sich die Stadt noch nicht erholt.

Randalierer bei G20-Gipfel
AFP

Randalierer bei G20-Gipfel

Ein Kommentar von


Auch 100 Tage nach dem G20-Gipfel schwären in Hamburg Wunden. Randalierer warfen damals Steine auf Polizisten, legten Brände, zerstörten Schaufenster. Als hehres Fanal gegen Trump & Co. galt bereits, den Kleinwagen von Rentnern in ein rauchendes Wrack zu verwandeln.

Was bleibt, ist ein Gefühl von Ohnmacht. Denn noch immer ist unklar, warum die Polizei daran scheiterte, neben den Gästen auch die Stadt zu schützen. Es ist das Urvertrauen in den Rechtsstaat, das an der Elbe Schäden erlitten hat.

Gehwegplatten und Molotowcocktails

Auf Videoclips im Netz ist zu sehen, wie am 7. Juli morgens vermummte Horden ungestört durch Altona zogen - obwohl die angrenzenden Wachen in fußläufiger Nähe voll besetzt waren. Man habe auf Hundertschaften der Bereitschaftspolizei warten wollen, die ohnehin im Einsatz waren, hieß es später. Das habe gedauert.

Am Abend jenes Tages, die Lage in der Sternschanze eskalierte, griff die Polizei zwei Stunden nicht ein, weil sie einen Hinterhalt fürchtete. Unbekannte hätten sich auf Hausdächern postiert, mit Gehwegplatten und Molotowcocktails. Erst Spezialkräfte konnten die Lage klären. Da waren längst Geschäfte geplündert, und auf den Straßen herrschte Anarchie.

In der Bürgerschaft, dem Parlament des Stadtstaates, hat sich im August ein Sonderausschuss formiert, der die G20-Vorfälle untersucht. Die Erkenntnisse halten sich bisher in Grenzen.

Entscheidende Fragen sind offen. Was bedeutete der Ukas im Einsatzbefehl, wonach der Schutz der Gäste höchste Priorität hatte? Wie konnte sich die Lage in der Schanze über Stunden hochschaukeln? Warum konnte die Polizei bis heute weder sichergestellte Gehwegplatten noch Molotowcocktails als Beweismittel vorlegen?

Dass Beamte in Uniform, oft junge Mütter und Väter, vor entfesselter Gewalt zurückschrecken, ist menschlich verständlich. Zugleich kann es mit dieser Erklärung nicht sein Bewenden haben. Immerhin waren insgesamt 31.000 Polizisten im G20-Einsatz, Experten zufolge das Maximum für eine solche Großlage.

Die Polizei muss klarmachen, wie sie in Zukunft mit vergleichbaren Situationen umgehen will. Dazu gehört die Bereitschaft, Fehler einzugestehen, auch wenn das schwerfällt, dazu gehört Mut. Und es schadet nicht, auf die eigene Glaubwürdigkeit zu achten. Wenn man Angaben korrigieren muss, ist das ärgerlich.

So hieß es jüngst, es seien 8000 Polizisten mehr im Einsatz gewesen als zuvor verkündet. Und während des Einsatzes twitterte die Pressestelle, Gummigeschosse würden nicht eingesetzt. Später hieß es, das sächsische SEK habe das durchaus getan.

Der Staat hat das Monopol, Gewalt anzuwenden. Im Gegenzug gewährt er seinen Bürgern Schutz und verhindert Selbstjustiz. Diesen Deal hat die Polizei beim G20-Gipfel nicht eingelöst. Das darf nicht wieder geschehen.

Wer den Notruf wählt, muss sich darauf verlassen können, dass eine Streife kommt. Und zwar sofort. Auch wenn es Polizisten gibt, denen manchmal der Mut fehlt.

insgesamt 69 Beiträge
Alle Kommentare öffnen
Seite 1
Newspeak 16.10.2017
1. ...
"Wenn man Angaben korrigieren muss, ist das ärgerlich." Nicht, wenn man sich korrigieren muss. Wenn man luegt. Und nicht aergerlich. Sondern skandaloes. Die Polizei beruft sich auf einen Hinterhalt, den es so, wie beschrieben, nachweislich nicht gegeben hat. Sie leugnet den Einsatz von unverhaeltnismaessiger Gewalt, obwohl hinreichen viele und unterschiedliche Beobachter dies bestaetigen. Man luegt, luegt, luegt, solange bis einem jemand das Gegenteil beweist. Das ist keine Polizei, das ist eine Mafia. Derselbe Korpsgeist. Schweigen und sich gegenseitig decken und ungesetztliche Dinge vertuschen. Und eine Presse, die sich noch daran beteiligt.
DerNachfrager 16.10.2017
2. Wie schön dass hier wieder nur die Polizei Fehler gemacht hat und...
...der Politik ein Persilschein ausgestellt wird !
keinputintroll 16.10.2017
3. Verantwortung?
Die für das Desaster verantwortlichen Merkel und Scholz sind immer noch in Amt und Würden. Ein Tiefpunkt der Demokratie.
jla.owl 16.10.2017
4. ärgerlich?
es ist nicht ärgerlich, es ist ein alltäglicher Skandal, der täglich vorkommt. Es gab bei der Polizei weltweit diesen Corpsgeist, sich gegenseitig decken, niemand macht Fehler, bei Beschwerden gibts eine Anzeige gegen den Beschwerdeführer, gedeckt von den Vorgesetzten. Wenn dann über 30.000 Polizisten inklusive Vorgesetzten im Einsatz sind, dann ist doch klar, was passiert. Der Corpsgeist wird eindrucksvoll demonstriert.
Nordstadtbewohner 16.10.2017
5. Vielleicht auch eine Frage der (falschen) Personalwahl
"Es ist das Urvertrauen in den Rechtsstaat, das an der Elbe Schäden erlitten hat." Das halte ich für unrealistisch. In der Stadt habe es ich schon mehrfach erlebt, wie Polizisten regelrecht Angst vor ein paar randalierenden Jugendlichen hatten, und das war lange vor dem G20-Gipfel. Das waren unter anderem Situationen, also Großveranstaltungen, die eigentlich nicht besonders waren. Zumindest hatte ich in solchen Situationen als unbeteiligter Bürger keine Angst, die Polizisten und Polizistinnen schon. Und da war das sogenannte "Urvertrauen" lange weg. Meiner Meinung nach liegt es einfach an der falschen Personalauswahl. Es werden Kandidaten bei Polizei auf genommen, bei denen ich mich frage, was sie tun, wenn es zu sozialen Unruhen wie in Frankreich und GB wie vor einigen Jahren kommt. Da kann sich der Bürger nur noch selbst schützen.
Alle Kommentare öffnen
Seite 1

© SPIEGEL ONLINE 2017
Alle Rechte vorbehalten
Vervielfältigung nur mit Genehmigung der SPIEGELnet GmbH


TOP
Die Homepage wurde aktualisiert. Jetzt aufrufen.
Hinweis nicht mehr anzeigen.