"Klassikkampf" von Berthold Seliger Wie ernst steht es um die Ernste Musik?
Publikum überaltert, ewig gleiches Repertoire, vornehmlich konservative Eliten bedienen sich aus dem Topf der musikalischen Kultur. So stellt sich für den Autor Berthold Seliger die aktuelle Klassikszene dar.
Land unter! Der inzwischen sprichwörtliche "Silbersee" der ergrauten Rentner regiere die Klassik-Hallen, so tönt es seit Langem missvergnügt von vielen Feuilletonseiten. Junge Menschen meiden die "Ernste Musik", vornehmlich ein älteres, konservatives Publikum frequentiere die stereotyp programmierten Events, ein abgespielter Stücke-Kanon von Mozart, Beethoven und Brahms bis zu Mahler und Strauss tönt immergleich durch die Konzertsäle, während die Opernhäuser strikt nach der Erfolgsformel "A / B / C" ("Aida" / "La Bohème" / "Carmen") inszenieren lassen. Das Repertoire eines satten, arrivierten Bürgertums, das Kultur nur als affirmativen Gerüstbau seiner gesellschaftlichen Herrschaft begreift, weniger als Herausforderung, Innovation oder gar Verunsicherung. Die Kultur in Gefahr: So jedenfalls sieht der Autor Berthold Seliger die aktuelle Situation der arrivierten Musikszene in Deutschland. Und wenn dem Leser zum Titel seiner Streitschrift - Achtung, Sternstunden des Wortspiels! - "Klassikkampf" (Matthes & Seitz) Assoziationen aus alten 68er-Tagen in den Sinn kommen, folgt er der richtigen Fährte.
Seliger sieht seine Spur der entbeinten Kultur bis zu den Ausläufern der Französischen Revolution und der deutschen Aufstände des Bürgertums 1848. Sie kreierten ein neues Selbstbewusstsein des "Dritten Standes", bevor die Bürger sich Ende des 19. Jahrhunderts den von Seliger vielbeschworenen "Eliten" aufwärtsstrebend annäherten und en passant den Stachel des selbstbewussten Geisteslebens abstumpfen ließen. Dass es "gewissermaßen Aufgabe der künstlerischen Avantgarde ist, die Freiheitsmöglichkeiten ihrer Zeit zu artikulieren und zu fördern" (Musiksoziologe Hans G. Helms), fasst das Credo des Autors von "Klassikkampf" zusammen. Man könnte es allerdings auch mit dem immer wieder beliebten Satz vom Komponisten Hanns Eisler weiter greifen: "Wer nur etwas von Musik versteht, versteht auch davon nichts."
Ein Füllhorn an Zitaten
Die Theoriegeschütze und geistesgeschichtlichen Zeugen, die Seliger anführt, sind von bestem Kaliber. Selten marschierten auf begrenztem Raum Platon, Friedrich Schiller, Hegel, Schelling, Hölderlin, Wolfgang Abendroth und etliche weitere Größen auf, gerundet durch die sympathisch sanft-anarchischen kulturdidaktischen Thesen von Piano-Genie und Provokateur Friedrich Gulda. Ein echtes Verdienst, diese unangepasste Persönlichkeit der Musikszene und Stachel im Fleisch des Kulturbetriebes zu würdigen, gerade weil seine Einspielung der 32 Beethoven-Klaviersonaten von 1968 immer noch zu den aufregendsten und stilprägendsten gehört.
Ein Füllhorn an Zitaten und Aspekten bietet Berthold Seliger an, und manchmal möchte man ihn gegen seinen heiligen Furor ein wenig in Schutz nehmen, denn sein leicht inflationärer Gebrauch etwa des Begriffes "Bourgeoisie" mutet an wie ein ferner Gruß aus 68er-Tagen, als Rudi Dutschke das Labermaß aller Dinge und die Anwesenheit in einem marxistischen Arbeitskreis soziale Pflicht in gewissen Schichten der Bevölkerung war. Dem Eindruck, dass er nur etwas von Musik verstehe, wirkt der Autor auf diese Weise erfolgreich entgegen. Dabei muss man sich vergegenwärtigen, dass sich Seliger auch als Konzertveranstalter betätigt, ein Job, der in der vordersten Reihe des Musikbusiness stattfindet, sehr anstrengend und risikoreich ist und nur selten (Fritz Rau, Karsten Jahnke, Marek Lieberberg) von Anerkennung begleitet wird, die über die Szene hinausreicht. Seliger kennt Künstler wie Lou Reed und Laurie Anderson, er wird nicht müde, seine breite musikalische Basis zu unterstreichen, um ja nicht in den Ruf eines "Fachidioten" (Alt-68er-Jargon) zu geraten. Das gelingt ihm, wenn auch durch wortreichen Übereifer etwas nervtötend.
Die Wunden des Kulturbetriebes
Seligers Forderung, dass sich die Ernste Musik nicht für ein Massenpublikum verbiegen solle, stattdessen die musikalische Ausbildung von Kinder und Jugendlichen verbessert werden müsse, ist nicht neu, aber richtig und sympathisch. Sie deckt sich mit den spitzen Conférencen von TV-Entertainer und Bildungsbotschafter Harald Schmidt dahingehend, dass Kultur eben Arbeit und Mühe mache, aber auch mit den Darlegungen im Buch des Musikschriftstellers Holger Noltze, "Die Leichtigkeitslüge (Über Musik, Medien Komplexität)" (edition Körber-Stiftung, 2010). Noltze kommt mit weniger Worten aus, brennt aber die Wunden des Kulturbetriebes mit gleicher Schärfe aus.
Ernste Musik, Bildung und Kultur für alle
Matthes & Seitz Berlin; 496 Seiten; 24 Euro
Seligers Urteil über den zeitgenössischen, selbstgefälligen Musikkonsumenten fußt auf der historischen Sentenz des Musikwissenschaftlers Stuckenschmidt, der 1927 die "Musikhörigen", später nannte man sie Kulinariker, die sich selbst über den Kultur-/Musikkonsum vergewissern, "auch in der Realität einer jeglichen Herrschaft, die seinen Konsumentenstandard nicht gar zu offensichtlich beeinträchtigt." Der unkritische Kulturkonsument, ein Produkt des Neoliberalismus: Wer sich mit dieser simplen These nicht so recht zufriedengeben mag, wird im "Klassikkampf" wenig Befriedigung finden.
In China ist Klassik Jugendkult
Was an Berthold Seligers Kampfschrift Spaß macht und reichlich Diskussionsstoff für Kaminabende liefert, sind die vielen Zitate, Beispiele und der mäandernde Stil, durch welchen die Erregung des Autors auf über 400 Seiten immer wieder Statements für Hochkultur und Anspruch in hellsten Flammen - tja, selbstgewisser Rhetorik liefert. Eventuell hat sich da ein Bildungsbürger selbst überführt: Ist aber nicht schlimm. Wer ohne Sünde ist, der spiele den ersten Akkord. Und der Klassikkult blüht aktuell unter kommunistischer Führung: Die "Süddeutsche Zeitung" meldete im Wochenend-Feuilleton (14.10.17), dass in China die klassische Musik derzeit die hippe Unterhaltungsform Jugendlicher sei. Na also. Geht doch.