Wissenschaftsfreiheit in der Demokratie oder Wozu ist
das Gut der Wissenschaftsfreiheit gut?
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Von Elif Özmen (Gießen)
Es ist kein Zufall, dass die Freiheit der Wissenschaft, Forschung und Lehre unter ein und
denselben Art. 5 GG fallen mit der Freiheit der Meinung, Information, Presse und Kunst.
Der Verbund dieser Kommunikationsgrundrechte dient dem Schutz einer kritischen
Öffentlichkeit, die als unverzichtbar gilt für den Bestand und das Prosperieren der
Demokratie. Zwar ist Wissenschaftsfreiheit kein universelles Menschen- oder
Bürgerrecht. Aber ihre förderlichen Wirkungen entfaltet sie nicht nur innerhalb
wissenschaftlicher Institutionen und Tätigkeitsfelder, sondern auch im Verhältnis zur
Gesamtgesellschaft.
Daher möchte ich vorschlagen, die aktuellen Debatten um eine zunehmende
„Politisierung“ und „Moralisierung“ der Wissenschaft (auch) als Auseinandersetzungen zu
verstehen über die Gelingensbedingungen der freien Wissenschaft in der freiheitlichen
Demokratie. Das würde auch das große öffentliche Interesse erklären, das sich zuletzt an
dem Netzwerk Wissenschaftsfreiheit entzündet hat. Bezüglich anderer Gefährdungen der
freien Wissenschaft, Forschung und Lehre (wie die weltweite Zunahme staatlicher
Zensur-, Regulierungs- und Verfolgungsmaßnahmen oder die Ökonomisierung und
Bürokratisierung der Hochschulen) bleibt ein solches Interesse bislang ebenso aus wie
eine lautstarke mediale Orchestrierung. Dabei zeigen die Warnungen vor den
wissenschaftsschädlichen Wirkungen von political correctness, cancel culture oder
chilling effects auffällige Parallelen zu einem anderen gesellschaftlichen Konfliktthema:
den Gegenständen und Grenzen der Meinungsfreiheit. Auch deswegen hat sich die
Debatte um Wissenschaftsfreiheit zu einer stetigen Ausweitung der Kampfzone
entwickelt, deren Feind-Freund-Antagonismus bereits in früheren Beiträgen beklagt oder
verteidigt wurde. Die allseits beschworene Wissenschaftsfreiheit scheint zu einem
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umkämpften Begriff geworden zu sein, der von verschiedenen Seiten (etwa: liberal vs.
konservativ, links vs. rechts, woke vs. boomer) zu durchaus unterschiedlichen Zwecken
vereinnahmt werden kann. Man könnte das als eine Politisierung und Moralisierung der
Wissenschaftsfreiheit selbst bezeichnen.
Dabei ist Wissenschaftsfreiheit, zumal in der deutschen Verfassungstradition, ein
spezifischer Rechtsbegriff, der sich solcher Vereinnahmungen widersetzt. Die Freiheit der
Wissenschaft, Lehre und Forschung wird als defensives und konstitutives Individualrecht
ohne Gesetzesvorbehalt im Grundgesetz garantiert. Als Wissenschaft gilt, was nach
Inhalt und Form als ernsthafter Versuch zur Ermittlung von Wahrheit anzusehen ist, d.h.
auch Mindermeinungen, fehlerhafte Forschungsansätze, unkonventionelle, unfruchtbare,
erratische Hypothesen, Theorien und Positionen. Was oder wer den Anspruch auf
Wissenschaftlichkeit systematisch verfehlt, darf aber nicht rechtlich entschieden werden,
sondern bleibt den Kontroll- und Sanktionsmechanismen der Wissenschaftsgemeinschaft
überantwortet (hierzu BVerfGE 90, 1 (13)). Folglich können außerwissenschaftliche
Sanktionen und Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit nur durch eine Kollision mit
gleichwertigen Rechtsgütern begründet werden, namentlich Würde, Leben, körperliche
Unversehrtheit, Gesundheit sowie Tier- und Umweltschutzgesetzen.
Wissenschaft folgt ihren eigenen Zwecken und ist in diesem Sinne frei von politischen,
gesellschaftlichen und ökonomischen Finalisierungen zu halten. Das bedeutet aber nicht,
dass sie neutral oder indifferent sei oder sich der Verantwortung für ihre möglichen
Anwendungen und gesellschaftlichen Folgen entziehen könnte mit Verweis auf ihre
Freiheit. So entbindet die Lehrfreiheit gerade nicht von der Verfassungstreue (eine
Einschränkung, die für bloße Meinungsfreiheit nicht gilt). Zudem sind für verbeamtete
Hochschullehr*innen weitere Freiheitseinschränkungen gegeben. Der Wissenschaftler als
Beamter hat sich durch sein gesamtes, also auch privates Verhalten, zur freiheitlichdemokratischen Grundordnung im Sinne des Grundgesetzes zu bekennen, für deren
Erhalt einzutreten und muss bei politischer Betätigung auch außerhalb der Hochschule
Mäßigung und Zurückhaltung walten lassen. Somit sind Wissenschaft, Forschung und
Lehre, die dem menschlichen Wohl oder den freiheitlich-demokratischen Werten
zuwiderlaufen, wissenschaftsintern und -extern kritisch zu evaluieren.
Wissenschaftsfreiheit ist ohne Verantwortung der Wissenschaft(ler*innen) nicht zu haben,
vielmehr verpflichtet gerade die weitreichende Freiheit von Fremdbestimmung – und auch
die für Deutschland nach wie vor übliche Finanzierung der Hochschulen durch die
Gesamtgesellschaft – zu einer verantwortungsvollen Selbstbestimmung und
Selbstkontrolle. Daher erschöpft sich das Gut der Wissenschaftsfreiheit auch nicht in
seiner positiv-rechtlichen Satzung und juristischen Auslegung, sondern ist eingebettet in
ein umfassenderes Normen- und Sanktionsgefüge der Wissenschaftsgemeinschaft.
Zu diesem Wissenschaftsethos gehört, dass die Freiheit der Wissenschaft unberührt
davon bleibt, ob die konkreten wissenschaftlichen Meinungen, Theorien oder Personen
krude, unliebsam, unbequem, bigott oder reaktionär sind, sich als unvernünftig,
unbegründet oder abwegig erweisen lassen oder als beunruhigend, schockierend oder
verletzend empfunden werden. Das ausgezeichnete Mittel der Kritik oder Zurückweisung
einer solchen wissenschaftlichen Positionierung ist die Gegenrede, der Widerspruch, das
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argumentative Contra. Das Recht der Freiheit der Wissenschaft ist also, hier analog zur
Meinungsfreiheit, ein Recht, das man auf eigenes Risiko wahrnimmt und das kein Recht
auf Affirmation und Solidarität nach sich zieht. Aber zugleich bildet das Ethos der
Wissenschaft mit seinen eigentümlichen epistemischen und ethischen Werten und
Tugenden das normative Fundament, auf dem sich der wissenschaftliche Disput, die
harte argumentative Auseinandersetzung, ja, der wilde Streit um die richtige Meinung,
These und Theorie fruchtbar entfalten kann.
Die aktuellen Debatten um die Wissenschaftsfreiheit sind auch Debatten darüber, wie
dieses normative Fundament auszubuchstabieren und ggf. zu erweitern wäre. Dabei ist
die Häufung englischer Begrifflichkeiten augenfällig. In vielen US-amerikanischen
Hochschulen bestimmen seit den späten 1980er Jahren progressive Reformen und
emanzipative Normsetzungen im Zeichen von Gleichberechtigung, Diversität und
Gerechtigkeit den akademischen Alltag. Zu diesem gehören auch konkrete (und
weitgehend unübersetzbare) Forderungen nach speech codes, trigger-warnings, safe
spaces, no-platforming ebenso wie die Bereitschaft, denjenigen, die diesen Forderungen
nicht nachkommen – etwa, weil sie nicht einverstanden sind, weil sie verständnislos
bleiben oder es ihnen an Zeit, Lust und Interesse fehlt – mit großer Härte zu begegnen.
Dem Ideal der Wissenschaftsfreiheit werden also weitere Ideale – wie Gerechtigkeit,
Gleichheit, Nicht-Diskriminierung, aber auch Anerkennung, Affirmation und Empowerment
– zur Seite und fallweise auch vorangestellt. Das führt regelmäßig zu Interventionen und
Protesten, die von Mitgliedern der Wissenschaftsgemeinschaft (wie Kolleg*innen,
Studierenden und ihren Vertretungen, Hochschulleitungen) ebenso wie von Externen
(sozialen Bewegungen, politischen oder weltanschaulichen Parteiungen, sozialmedialen
Aktivisten) gegen bestimmte wissenschaftliche Inhalte, Texte, Fragestellungen,
Denkfiguren oder Sprachverwendungen vorgebracht werden.
Ich sehe nicht, wie man das anders als eine Einschränkung – wenngleich mit einer
mutmaßlich guten Absicht – der Denk- und Debattierräume der Hochschulen und
Wissenschaftler*innen interpretieren kann. Mit Blick auf das Gut der freien Wissenschaft
und der kritischen Universität scheint es mir daher prima facie zwingend, ein solches
vermeintes Recht, akademische Freiheiten aus Gerechtigkeitsliebe zu opfern,
zurückzuweisen. Immerhin gehören neue Perspektiven, unkonventionelle Thesen,
kontrafaktische Annahmen, konfrontative Meinungen, zivilisierter Streit und
unversöhnliche Dissense zur Essenz der Wissenschaft. Die Räume der Wissenschaft
sind Räume der Gründe. Die rationalen Gütekriterien sind hoch; der wissenschaftlichen
Rede folgt gemeinhin Kritik und Gegenrede; die Vorwegnahme der Gegenposition zur
eigenen und deren ernsthafte Reflexion sind der wissenschaftliche Idealfall; die
sachbezogene Beharrlichkeit (statt Ablenkung, Themenwechsel, bullshitting) der
diskursive Standard.
Aber auf den zweiten Blick scheint mir ebenso unbestreitbar, dass ein gemeinsames
wissenschaftliches Ethos und eine geteilte akademische Kultur den Rahmen für die
Möglichkeit und den Bestand solcher epistemischer Freiräume bilden. Daher sollte man
nicht bloß von den Abwehrrechten sprechen, die mit der Freiheit der Wissenschaft
verbunden sind, sondern auch die Haltungen, Tugenden und Pflichten in den Blick
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nehmen, die sie flankieren und stützen. Welche Rolle spielen etwa intellektuelle
Redlichkeit, Wohlwollen, Gelassenheit, Tapferkeit und Toleranz für die Praxis der freien
Wissenschaft? Und wie ist demgegenüber ein Bedürfnis (oder auch die Forderung) nach
epistemischer Gerechtigkeit, normativer Richtigkeit und politischer Verantwortbarkeit der
eigenen wissenschaftlichen Beiträge bzw. ihrer wohlmöglich verstörenden, verletzenden
oder politisch-ethisch unappetitlichen Wirkungen einzuordnen? Geraten hier wohlmöglich
zwei Dimensionen der Wissenschaftsfreiheit in einen Konflikt, nämlich die epistemische
Freiheit der Wissenschaftler*in, zu forschen, lehren, äußern und zu publizieren, was,
wann und wo sie will, und die gerechte Freiheit aller, an der Wissenschaft zu
partizipieren, ohne benachteiligt, beschämt und verachtet zu werden? Lassen sich solche
Konflikte moderieren, indem die Akteure der Wissenschaft Handreichungen und
Empfehlungen entwickeln? Oder stellen solche Selbstregulierungsversuche bereits
Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit dar?
Dieses Bündel von Fragen will keine schlichte Ja/Nein-Antwort provozieren, sondern
darauf aufmerksam machen, dass Wissenschaftsfreiheit ein Ideal darstellt, dessen
Voraussetzungen, Probleme und Grenzen erst dann deutlich und diskutierbar werden,
wenn sich das Ideal in einer institutionellen Praxis (der Forschung, Lehre, Hochschule)
und in einem gesellschaftlichen Kontext (der freiheitlichen pluralistischen Demokratie)
konkretisieren und bewähren muss. Deswegen sollten wir uns als
Wissenschaftsgemeinschaft gründlicher über die Gelingensbedingungen der
Wissenschaftsfreiheit und auch unsere individuelle und institutionelle Verantwortung
hierfür verständigen. Ansonsten wäre nicht nur die Freiheit der Wissenschaft, sondern
vorallem die herausragende Bedeutung der Universitäten in der und für die freiheitliche
Demokratie in Gefahr.
Elif Özmen ist Professorin für Praktische Philosophie an der Universität Gießen. Gerade
ist der von ihr herausgegebene Essayband erschienen Wissenschaftsfreiheit im Konflikt.
Grundlagen, Herausforderungen und Grenzen, in dem sich auch eine längere Version
dieses Beitrags mit bibliographischen Nachweisen findet.
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