Ein Versuch, das relativ neue Medium grundsätzlich zu untersuchen und eine Systematik und Theorie des Mediums zu skizzieren, unter besonderer Berücksichtigung von Live-Situation, Fragen zu Kommunikations-Richtungen und der bewussten und...
moreEin Versuch, das relativ neue Medium grundsätzlich zu untersuchen und eine Systematik und Theorie des Mediums zu skizzieren, unter besonderer Berücksichtigung von Live-Situation, Fragen zu Kommunikations-Richtungen und der bewussten und unbewussten Interaktion zwischen allen Beteiligten
Dieser Text entstand im Sommer 2020. Im vorangegangenen Frühjahr kam es zu einer, die meisten Menschen vollkommen unvorbereitet treffenden, Bedrohung durch das neuartige Coronavirus SARS-CoV-2. "Social-distancing" wurde als Maxime für alle ausgegeben. Schnell wurden Kontaktbeschränkungen und Verbote von Veranstaltungen ab einer Zahl von 100 Teilnehmern 1 verordnet. Das Durchführen von Veranstaltungen war praktisch undenkbar. Ebenso schnell kam Veranstaltern die Idee, ihre Arbeit irgendwie dem Publikum online zu präsentieren. Schließlich hatten wir alle in den vergangenen Jahren gelernt, dass man inzwischen mit geringem Technik-Aufwand relativ leicht eigene Fernsehsendungen erstellen und im Internet verbreiten kann. Sehr schnell gab es viele neue Online-Angebote, von Sportkursen über Gottesdienste bis zu "virtuellen Richtfesten". Schulen und Universitäten haben versucht ihren Unterricht komplett über das Internet zu erteilen. Preisverleihungen wurden online durchgeführt und Filmfestivals fanden digital statt. Ein großer Teil davon wurde mit leicht verfügbarer Bürobesprechungs-Software bestritten. Auch die meisten darstellenden Künstler, Konzertmusiker und alle weiteren mit künstlerischen Aufführungen Befassten fanden sich ohne bisherige Arbeitsgrundlage wieder und versuchten entsprechend ihr Glück im Internet. Die Online-Live-Übertragung von Aufführungen vor präsentem Publikum wurde schon seit einigen Jahren entwickelt. Nun stand man aber vor einem leeren Saal und konnte nur noch vor Kameras spielen. In den ersten Wochen wurde vielfach das Live-Streaming von älteren Aufzeichnungen als Online-Event präsentiert. Oft wurde angeboten, diese auch für einen Zeitraum danach noch abrufen zu können. Wenn tatsächlich gerade live stattfindende Aufführungen übertragen wurden, dann war dies für das Publikum oft nicht zwingend erkennbar. Sie hätten genauso gut aufgezeichnet sein können. Die meisten Angebote waren dabei kostenfrei zugänglich. Manche Künstler, oft etabliertere, lehnten und lehnen deshalb komplett ab ihre Arbeit live zu streamen, weil sie befürchten ihre Lebensgrundlage damit nachhaltig zu zerstören. Für viele stellten sich bestimmte Fragen das erste Mal: Was bedeutet es, dass eine Aufführung live stattfindet? Was macht es aus? Was fehlt, wenn es nicht live ist? Was bedeutet es live zu übertragen? Welche Funktionen erfüllte das Publikum eigentlich bisher? Neue Begriffe entstehen, weil sie gebraucht werden: Echt-live oder Live-live im Gegensatz zu Online-Live, die Offline-, Onsite-, Präsenz-oder physische Aufführung im Gegensatz zur Online-Live-Aufführung. Man kann kaum mehr nachvollziehen, wie die Online-Live-Aufführung sich in den ersten Monaten der sich verbreitenden Pandemie entwickelt hat, so schnell wurden wir da rein geworfen. Sie ist nun aber in der Welt, für die meisten von uns Neuland, und wird auch nicht mehr weggehen. Neben der aktuellen Pandemie und der ohnehin laufenden digitalen Transformation unserer Leben und Institutionen kann und wird auch der sich ständig verschärfende Klimawandel ein Argument für mehr Fernkommunikation sein. Ich möchte im Folgenden zunächst versuchen einen strukturierten Überblick über die neue Technologie und ihre Möglichkeiten zu schaffen, die Begriffe "Live", "Aufführung" und "Online-Übertragung" zu definieren und einzuordnen, im Weiteren eine nähere Betrachtung von bewusster und unbewusster Kommunikation und unbewusster Kommunikation und Interaktion bei Aufführungen anstellen und im Anschluss einen Ausblick auf mögliche Entwicklungen geben. Es ist der Versuch sich mit Ruhe und etwas Abstand einen Überblick zu verschaffen, zur Inspiration, um Ideen anzuregen und um dem neuerlich “neuen Hören und neuen Sehen" (Adorno) habhaft zu werden.