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Wie gendern?

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Wie gendert man korrekt?
Wie gendert man korrekt? © FR-Grafik

Sprache ist Haltung. Inklusives Reden und Schreiben sind eine Frage der Gerechtigkeit.

Liebe Leserinnen, liebe Leser, ich mag keine Sprachverhunzung. Als Vielleser und Schnellschreiber haben sich Schriftbilder tief in meine Seele und in mein Sprachgefühl eingegraben. Eine Änderung der Rechtschreibung benötigt schon eine sehr gute Begründung, damit ich bereit bin, die enormen Kosten für eine Umstellung zu bezahlen.

Als 1996 die deutsche Rechtschreibung reformiert wurde, zweifelte ich. Ich finde es bis heute grauenhaft, gegen das Sparsamkeitsprinzip zu verstoßen und nicht mehr „Schiffahrt“ zu schreiben. Ich hielt es nicht für zu viel verlangt, dass Schülerinnen und Schüler den Merksatz „Trenne nie ST zum Scherz, denn es fühlt wie du den Schmerz“ lernen, um die schöne kalligrafische Verschmelzung der beiden Buchstaben bei Trennungen zu erhalten. Damals ergaben Umfragen, dass rund 90 Prozent der Deutschen wie ich die Änderungen ablehnten und keine Notwendigkeit sahen, umzustellen.

Überzeugt hat mich dann die Analyse des Pisa-Schocks dieser Zeit. Forschungen zeigten, die deutschen Schülerinnen und Schüler schnitten unter anderem deswegen so schlecht im internationalen Bildungsvergleich ab, weil sie erhebliche Schwierigkeiten im Umgang mit der deutschen Sprache hatten. Das war nicht nur den Lehrplänen geschuldet, es war höchste Zeit, die komplizierte Rechtschreibung zu reformieren, wenn alle Kinder aus allen Schichten gleichberechtigten Zugang zur Sprachverwendung bekommen sollten.

Sprache trifft soziale Unterscheidungen. Weil wir unterschiedliche Sprachen sprechen, schließen wir andere aus. Je komplizierter die Regeln sind, desto höher sind die Hürden zur Integration in eine Kultur. Die Vereinfachung der deutschen Rechtschreibung, die dann 2002 und 2004 noch einmal überarbeitet wurde, macht das Schriftbild nicht schöner, aber die Verwendung ein Stück gerechter. Und nach aktuellen Umfragen ist die neue deutsche Rechtschreibung längst akzeptiert, die „Kritiker der Elche“ von damals verteidigen die Einhaltung der neuen Regeln für „Schifffahrt“ und „Fris-ten“, als hätte es nie andere gegeben.

Gelernt habe ich daraus: Wenn ich von Ungerechtigkeiten oder Zynismen in meiner Sprache höre, kann ich mich einer Lösung nicht verschließen. Ich kann nicht einfach so weitermachen wie bisher. Ich plädiere auch diesmal dafür, es mit Schriftwandel nicht zu übertreiben, doch bei geschlechtergerechter Sprache ist eine Veränderung überfällig. Die Zeit der alten männlichen Form, die angeblich für alle Geschlechter steht, ist vorbei. Selbst wenn ich das neue Schriftbild erst einmal unbequem und hässlich finde, kann ich darauf vertrauen, dass die Sprachgemeinschaft nach einigen Anpassungsrunden in wenigen Jahren eine breit akzeptierte Lösung finden wird. Wir müssen aber endlich mit der Änderung beginnen.

Als Zeitung kommt uns hier besondere Verantwortung und Vorbildfunktion zu. Für die Sprache, aber vor allem für die in jedem Wort aufscheinenden impliziten Werte. Wir werden in gedruckter Form gelesen, aus der digitalen Ausgabe wird vorgelesen und unsere Texte werden zitiert und aus dem Zusammenhang gelöst an vielen Stellen eingebunden. Die Frankfurter Rundschau muss in all ihren Texten für Gerechtigkeit stehen, auch für die gegenüber allen Geschlechtern.

Wir benötigen eine klare, handhabbare Lösung, die als unaufgeregte Regel die meisten Fälle mit geringstmöglichen Nachteilen abdeckt. Mein Diskussionsvorschlag für die Schreibung in der Frankfurter Rundschau ist der Doppelpunkt im Wort. Also „Leser:innen“ und „Hörer:innen“. Nicht nur, dass Vorleseprogramme diese Form problemlos bewältigen, schon bald gewöhnt sich das Auge beim Lesen und Schreiben daran.

Sprache drückt eine implizite Haltung aus. Lassen Sie uns gemeinsam eine Veränderung hin zu mehr Gerechtigkeit anpacken. Wir freuen uns auf die Diskussion mit Ihnen!

Ihr Thomas Kaspar, Chefredakteur

Wer die Augen aufmacht, sieht: Die Welt ändert sich – und mit ihr die Sprache. Manche Debatte hat sich damit erledigt. Jetzt reden wir über Mut, schreibt auch Karin Dalka, stellvertretende FR-Chefredakteurin. Dass das generische Maskulinum zusehends Missverständnisse schafft, sieht Michael Bayer, stellvertretender FR-Chefredakteur, als Problem. Doch eine Sensibilisierung der Sprache reicht nicht. Journalistinnen und Journalisten müssen die Verhältnisse prüfen.

In unserem FR-Tagesthema spricht zudem Kathrin Gunkel-Razum, Leiterin der Duden-Redaktion, im Interview über das Gendern, notwendigen Wandel, schrumpfende Widerstände und clevere Unternehmen, die Frauen als Zielgruppe entdecken.

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