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Geschwister Scholl: Erzogen zum Widerstand

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Geschwister Scholl Erzogen zum Widerstand

Ihre letzte Botschaft galt den Eltern: 1943 wurden Hans und Sophie Scholl hingerichtet. Hinter den berühmten Geschwistern stand eine Familie, die sich immer wieder gegen den Krieg und Hitler gestellt hatte - und sie unterstützte die Widerstandskämpfer bis zuletzt.
Von Karoline Kuhla
Dieser Beitrag stammt aus dem SPIEGEL-Archiv. Warum ist das wichtig?

Dieser Text ist ein »einestages«-Klassiker und erschien bereits am 21.02.2013

Ulm, 1939: Im Dunkel der Nacht schleicht ein junger Mann um das Gerichtsgebäude der Stadt. Kurz zuvor hat sein bester Freund, Otl Aicher, sich geweigert, der Hitlerjugend beizutreten und er wurde nicht zum Abitur zugelassen. Als der nächtliche Aktivist sich solidarisch zeigen und ebenfalls austreten will, wird diese Erklärung ignoriert. Nun will er ein Zeichen setzen.

Als Ulm am folgenden Morgen erwacht, trägt die Justitia vor dem Gerichtsgebäude eine Hakenkreuzbinde über den Augen. Der Täter wird nie ausfindig gemacht. Doch es bleibt das Bild der durch das Hakenkreuz erblindeten Justitia. Der Junge, der für die Aktion seine Freiheit riskierte, trug den Nachnamen Scholl. Doch es war nicht Hans, der gemeinsam mit seiner Schwester Sophie Scholl für die Aktionen der Weißen Rose in die Geschichtsbücher eingehen sollte, sondern ihr jüngerer Bruder Werner. Denn das Geschwisterpaar war Teil einer willensstarken Familie.

Ist heutzutage von den "Geschwistern Scholl" die Rede, denkt man an Hans und Sophie. Tatsächlich aber sind es sechs Geschwister: Inge, Hans, Elisabeth, Sophie, Werner und Thilde. Sie wachsen in einem liberalen Elternhaus auf. Vater Robert ist Pazifist und ihre Mutter Magdalena religiös geprägt. Sie leben ihnen vor, für ihre Überzeugungen einzustehen. So hat Robert Scholl, ein württembergischer Politiker, sich bereits 1914 gegen den Krieg gestellt, als er den Waffendienst verweigerte.

"Ich habe damit gerechnet, dadurch mein Leben zu verlieren"

1943 sind es dann der 24-jährige Hans und die 21-jährige Sophie Scholl, die ungeheuren Mut beweisen. Nach ihrer Gefangennahme legen sie bei der Gestapo ein umfassendes Geständnis ab. Sie geben zu, als Mitglieder der Weißen Rose Flugblätter zum aktiven Widerstand gegen Hitler verfasst, getippt, vervielfältigt und verschickt zu haben. Auch für die Verteilung Hunderter Exemplare des Flugblatts "Kommilitonen! Kommilitoninnen!" am Morgen des 18. Februar in der Münchner Universität, kurz vor ihrer Verhaftung, übernehmen die beiden die Verantwortung. Hans räumt außerdem ein, Urheber der Aufrufe "Nieder mit Hitler!" an Fassaden nahe der Universität zu sein.

Ohne Rücksicht auf drohende Strafen versuchen die Geständigen, alles auf sich zu nehmen. Die Geschwister erklären, dass sie all diese Dinge allein getan und organisiert hätten. In Verdacht geratene Freunde bezeichnen sie als "unpolitisch". Dass Christoph Probst, ein weiteres Mitglied der Weißen Rose, dennoch einen Tag nach ihnen verhaftet wird, können sie nicht verhindern. Zum Schluss bittet Sophie nur darum, keine geringere Strafe als ihr Bruder zu bekommen. Und Hans endet mit den Worten: "Was ich damit auf mich nahm, wusste ich und habe auch damit gerechnet, dadurch mein Leben zu verlieren."

Am 22. Februar 1943 ist dieser Tag für sie beide gekommen.

Am Morgen des Prozesstages herrscht angespannte Stimmung. Die Plätze im Saal sind mit Uniformträgern besetzt. Die Gesichter, so der damalige Gerichtsreferendar Leo Samberger, seien bleich gewesen "vor jener Angst, die sich vom Richtertisch her ausbreitete". Die Angst gilt dem Richter, der extra aus Berlin angereist ist, um an diesem Tag ein Exempel zu statuieren. Sein Name: Roland Freisler. Er bezeichnet sich selbst als "politischer Soldat" Hitlers. Der Präsident des Volksgerichtshofs ist dafür bekannt, Angeklagte anzuschreien und zu erniedrigen.

Die Verurteilung der Mitglieder der Weißen Rose soll ein weiterer Schauprozess zur Einschüchterung der Massen werden. Doch an den Geschwistern Scholl beißt sich der jähzornige Bluthund der nationalsozialistischen Justiz seine Zähne aus. "Da standen Menschen, die ganz offensichtlich von ihren Idealen erfüllt waren", erinnert sich Samberger später, "ihre Antworten auf die teilweise unverschämten Fragen (...) waren ruhig, gefasst, klar und tapfer."

Begeistert von der Hitlerjugend

Die Haltung der Geschwister zum Nationalsozialismus ist nicht immer so klar gewesen. Anfangs sind die Scholl-Kinder begeistert von der Hitlerjugend (HJ) und dem Bund Deutscher Mädel (BDM). In der Familie kommt es deswegen immer wieder zu Streit mit den Eltern. Doch 1936 kehrt der 17-jährige Hans Scholl ernüchtert vom NSDAP-Parteitag in Nürnberg zurück. Die dort zelebrierte, platte Uniformität hat ihm die Augen geöffnet. Bei HJ und BDM sorgen die Geschwister Scholl in der Folge für Probleme, bis sie ihre Führungspositionen verlieren.

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Geschwister Scholl: Erzogen zum Widerstand

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Werner und Hans Scholl schließen sich daraufhin der von den Nazis verbotenen Bündischen Jugend an. Als sie 1937 wegen dieser Mitgliedschaft verhaftet werden, tobt Robert Scholl über Hitler: "Wenn die meinen Kindern etwas antun, gehe ich nach Berlin und knalle ihn nieder", zitiert Inge Scholl später den Zornausbruch ihres Vaters. "Einen solchen Satz vergisst man nicht", berichtet sie, "weil er das Gefühl gibt: Du stehst auf Granit. Du hast jemanden hinter dir. Das ist wichtig in solchen Zeiten."

Es ist wohl auch dieses Bewusstsein, auf Granit zu stehen, das Hans und Sophie Scholl den Mut gibt, "selbst mit einzugreifen, in das Rad der Geschichte". Ohne die Eltern einzuweihen, gründen die beiden Studenten im Juni 1942 mit Gleichgesinnten die Weiße Rose.

"Bleib' stark - keine Zugeständnisse!"

Als sie am 22. Februar 1943 vor dem Richter Roland Freisler stehen, hat sie dieses Gefühl, jemanden hinter sich zu haben, nicht verlassen. Jetzt geht es nur noch darum, ihre Idee zu retten: "Was wir schrieben und sagten, das denken Sie alle ja auch, nur haben Sie nicht den Mut, es auszusprechen", erklärt Sophie während ihrer Aussage vor einem Publikum, das keine Reaktion zeigt.

Der Pflichtverteidiger nutzt sein Plädoyer lediglich, um zu erklären, wie sehr er sich für seine Mandanten schämt. Da gibt es hinten im Saal Tumult. Ein Mann mittleren Alters kämpft sich nach vorn. Es ist Robert Scholl, der auch jetzt hinter seinen Kindern steht und bereits selbst vier Monate in Haft war, weil er den "Führer" als "Geißel Gottes" bezeichnet hatte. Verzweifelt bittet er darum, zu Gunsten seiner Kinder angehört zu werden. Freisler duldet diese Emotionalität nicht und verweist ihn des Saals. Während Scholl hinausgeführt wird, warnt er Freisler lauthals: "Es gibt noch eine andere Gerechtigkeit!"

Unbeeindruckt verkündet der Präsident des Volksgerichtshofs kurz darauf das Todesurteil für Hans und Sophie Scholl sowie Christoph Probst. Die Angeklagten überrascht das nicht mehr. Hans zeigt auf die Richterbank: "Heute hängt ihr uns, und morgen werdet ihr es sein!" Die Familie Scholl, nicht Freisler, behält damit das letzte Wort in diesem Verfahren.

In der Unruhe nach der Urteilsverkündung gelingt es Werner Scholl, der auf Urlaub von der Ostfront in München ist, zum großen Bruder vorzudringen, er hat Tränen in den Augen. "Bleib' stark - keine Zugeständnisse", kann ihm Hans noch mit auf den Weg geben, dann werden die Verurteilten in die Vollzugsanstalt Stadelheim gebracht.

Letzte Botschaft an der Zellenwand

Als Robert und Magdalene Scholl ihre Kinder zwischen 16 und 17 Uhr desselben Tages in Stadelheim besuchen, weiß keiner der Beteiligten, dass es ihre letzte Zusammenkunft, ja die letzte Lebensstunde von Hans und Sophie sein würde. Hans versichert, keinen Hass zu verspüren und alles bereits hinter sich gelassen zu haben. Der Vater schließt ihn in die Arme und verspricht: "Ihr werdet in die Geschichte eingehen." Auch Sophie begegnet den Eltern frei und furchtlos. Ein letztes Mal machen sich Tochter und Mutter gegenseitig Hoffnung: Bevor sie geht, erinnert die Mutter daran, dass Jesus stets an Sophies Seite sei. "Ja, aber du auch", erwidert die Tochter und verlässt den Raum.

Auch die Gefängniswärter sind beeindruckt von der Tapferkeit der drei jungen Leute und führen sie noch für eine letzte Zigarette zusammen. Dann ist es soweit. Um 17 Uhr soll das Todesurteil mit dem Fallbeil vollzogen werden. "In wenigen Minuten sehen wir uns in der Ewigkeit wieder", sagt Probst. Sophie geht als Erste, ohne mit der Wimper zu zucken. Dann Hans, der auf dem Richtblock noch "Es lebe die Freiheit!" ruft und schließlich Christoph Probst.

Zurück bleiben die Eltern Scholl bei Kriegsende mit ihren Töchtern Inge und Elisabeth. Thilde ist im Kindesalter verstorben, Hans und Sophie sind hingerichtet worden und Werner ist seit 1944 in Russland vermisst. Einzig der Stolz auf den Mut ihrer Kinder kann ihnen ein Trost sein. Noch am Morgen des 22. Februars 1943, kurz bevor ihn die Gefängniswärter in Fesseln zum Gerichtssaal bringen, hat Hans mit einem Bleistift eine Notiz an der Zellenwand hinterlassen: "Allen Gewalten zum Trutz sich erhalten". Das Goethe-Zitat ist ein letzter Gruß von Hans und gilt seinen Eltern. Es ist die Losung der Familie Scholl.