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Auf den Spuren stillgelegter Straßenbahnstrecken

Dortmund: Brüderweg/Reinoldikirche

Stillgelegt: 2008
Status: Gleisrelikte noch vorhanden (Stand: September 2023)

[01] Reinoldikirche und der Pylon an der Kreuzung Kuckelke/Kleppingstraße
Mai 2008  © Tramtracks

Als in den 1990er-Jahren die neue Haltestelle Reinoldikirche mit dem weithin sichtbaren Pylon entstand, gab es reichlich Diskussionsstoff. Ursprünglich sollte die Spitze höher als der Turm der Reinoldikirche nebenan in den Himmel ragen. Wie man sieht, kam es am Ende ein wenig anders, und der Pylon wurde "nur" 49 Meter hoch. Der "Hinterhof" der Reinoldikirche ist als Asphaltbrache noch keine städtebauliche Spitze. Der Platz von Leeds als Portal zum Brückstraßenviertel hatte sich in den Neunzigern gemausert. Zuvor war er als "Platz von Pieks" wegen der dort offen handelnden Drogenszene in Verruf, bis die Polizei Junkies und Hehler durch gehäufte Einsätze vertrieb.

Unter den transparenten Schwingen des Pylons hatten die wartenden Fahrgäste einen Regenschutz. In der Mitte befindet sich der Zugang zur unterirdischen Station, die auf zwei Ebenen zwei Tunnelstrecken miteinander verknüpft. Seit dem 27. April 2008 ersetzen die U43 und U44 die Linien 403 und 404.

 

[02] Ehemalige Haltestelle Reinoldikirche an der Kreuzung Kuckelke/Kleppingstraße
Mai 2008  © Tramtracks
[03] Ehemalige stadtauswärtige Haltestelle Reinoldikirche
Mai 2008  © Tramtracks
[04] Blick auf den Pylon aus dem Brüderweg
Mai 2008  © Tramtracks

Bevor das Tunnelzeitalter über Dortmund kam, befand sich an dieser Stelle am Tageslicht eine zentrale Umsteigestation. Im Sommer 1983 fuhren die Linien 409 (Marten – Wickede) und 404 (Nicolaikirch – Kirchderner Straße) auf der Ost-West-Achse. In Nord-Süd-Richtung kreuzten die Linien 405 (Mengede – Hacheney), 406 (Kirchderne – Hörde) sowie 407 (Hauptbahnhof – Aplerbeck). An der Reinoldikirche wurde jedoch auch abgebogen: Die 402 aus Grevel schwenkte von Norden kommend zur Kampstraße, um dann weiter nach Hombruch zu fahren.

Um einen flexiblen Betrieb mit Abbiegemöglichkeiten in sämtliche Richtungen zu ermöglichen, hatten die Dortmunder Stadtwerke einen Gleisstern in der Oberhausener Gutehoffnungshütte gießen lassen. 175 Tonnen wog die Konstruktion mit 16 Weichen, die 1954 eingebaut wurde. Ein kleines Stellwerk, das in Sichtweite am Fuß der Reinoldikirche aufgestellt worden war, steuerte die Anlage. Die Nord-Süd-Linien, die durch Kuckelke und Kleppingstraße verkehrten, wurden 1984 bzw. 1986 verlegt – teils unter die Erde, teils vorübergehend auf oberirdische Ausweichstrecken. Der Tunnelbau, der eine große und tiefe Grube vor der Kirche mit sich brachte, änderte die Situation noch einmal grundlegend, im wahrsten Sinne des Wortes. Sternfahrten und die Verknüpfung diverser Linien kann man allerdings noch heute vor St. Reinoldi erleben: Dort starten die Nachtexpress-Busse, die Dortmund als Vorreiter im Revier einführte.

[05] Brüderweg zwischen Kuckelke und Mönchengang
Mai 2008  © Tramtracks

Der Gleiswechsel, der gut drei Wochen nach der Stilllegung sichtbar Rost angesetzt hatte, spielte beim offiziellen Ende des Straßenbahnbetriebs auf dem Brüderweg am 26. April 2008 noch eine Rolle. Auf dem Streckengleis Richtung Osten war ein Doppelzug (aus den N-Wagen 115 und 119 im klassischen Dortmunder Beigebraun) geparkt worden. Nachdem der letzte Kurswagen der Linie 404 nach Marten vorgefahren war, rollte das Duo als Abschiedswagen mit Blumengirlande über diese Weiche aufs richtige Gleis. Gegen 12.40 Uhr ging es zurück in Richtung Betriebshof Dorstfeld, umschwärmt von Fotografen.

[06] Brüderweg/Ecke Stefanstraße
Mai 2008  © Tramtracks
[07] Brüderweg/Ecke Schwanenwall
Mai 2008  © Tramtracks

Noch bevor der Fahrdraht aus der Luft geholt wurde, hatte die Stadtbegrünung in Form dieser Betonkübelbepflanzung mit dem Charme der Siebziger den Brüderweg erreicht. Die eigenartige Maßnahme scheint eher der Verkehrsverhinderung auf dem ehemaligen Bahnkörper zu dienen als dem vorwegzugreifen, was die Stadt unter einem Ausbau zum "Boulevard" verstand. Doch auf die in Aussicht gestellte durchgreifende Umgestaltung zur Allee mit Flanierqualität musste der Brüderweg noch warten, wenngleich er im Vergleich zum parallel verlaufenden Ostenhellweg noch weniger Anlass zum Verweilen bot.

[08] Brüderweg/Ecke Schwanenwall
Februar 2012  © Tramtracks
[09] Brüderweg/Ecke Stefanstraße
Februar 2012  © Tramtracks

Für den Umbau des Brüderwegs orientierte man sich am neuen Aussehen der Kampstraße im Bereich Westentor. In der Mitte des Brüderwegs sollten Autos zwei Fahrspuren erhalten, gesäumt von Parkstreifen auf beiden Seiten. Die Gehwege wurden auf mindestens 6,50 Meter verbreitert und erhielten Bänke. Neu gepflanzte Platanen, die abends angestrahlt werden, sollten aus dem Brüderweg eine Allee machen.

Den frostigen Temperaturen zum Trotz begannen Anfang Februar 2012 die Bauarbeiten: Erster Schritt war die Entfernung der gut vier Jahre lang brachliegenden Schienen aus der Mitte des Brüderwegs. Mit dem Umbau mussten die noch an der Oberfläche verbliebenen Buslinien 460 und SB30 sowie der NachtExpress in die Kuckelke ausweichen. Nahe des Pylons entstand ein Kinderspielplatz. Die gesamte Baumaßnahme war auf 3,2 Millionen Euro veranschlagt. Im Zuge der Baumaßnahmen fielen auch die Oberleitungsmasten, die inzwischen funktionslos geworden waren. Aber nicht alle. Und so blieb ein Betonpfeiler an der Nordseite des Brüderwegs das einzige auffällige Relikt der Straßenbahnära dort.

[10] Brüderweg/Ecke Kleppingstraße
Oktober 2012  © Tramtracks
[11] Brüderweg in Höhe Mönchengang
Februar 2013  © Tramtracks

Anfang 2013 geisterte ein Vorschlag durch die Gazetten, den im Entstehen begriffenen Boulevard nach dem langjährigen, im Jahr 2011 verstorbenen Dortmunder Oberbürgermeister Günter Samtlebe zu benennen und damit die alteingeführten Namen Brüderweg und Kampstraße zu ersetzen. Nach spöttischen Kommentaren über ein Denkmal für den SPD-Filz und dass ein Urbanität simulierender Boulevard einem betont volkstümlichen Politiker nicht gerecht werde, war die Idee flott wieder vom Tisch.

Den Brüderweg zu Anfang des 20. Jahrhunderts muss man sich als enge, an manchen Stellen kaum drei Meter schmale Gasse mit grobem Pflaster vorstellen. In den 1920er-Jahren wurde ohne viel Federlesens alte Bausubstanz abgerissen, um eine leistungsfähige Ost-West-Achse für den Verkehr zu schaffen und den Hellweg damit zu entlasten. Der Brüderweg, wie er sich dann darstellte, war immer noch nur halb so breit wie heute. Er nahm ab dem 19. November 1929 das Streckengleis der Tram nach Westen auf, während das gen Osten führende Pendant auf dem Ostenhellweg verblieb. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Brüderweg abermals verbreitert und dann auch zweigleisig ausgebaut.

[12] Der Pylon vom Turm der Reinoldikirche aus gesehen
September 2017  © Tramtracks
[13] Platz von Leeds vom Turm der Reinoldikirche aus gesehen
September 2017  © Tramtracks

Bei der Umgestaltung der ehemaligen Straßenbahnachse auf Kampstraße und Brüderweg ist die Stadt Dortmund von außen nach innen vorgegangen. Und das ist schon ein wenig kurios, denn das bedeutet, dass ausgerechnet zentrale Plätze wie der Bereich vor der Reinoldikirche auch mehr als zehn Jahre nach Ende des oberirdischen Trambetriebs auf einen Umbau warten mussten. Dies ist umso erstaunlicher, denn eines der wesentlichen Argumente dafür, die Bahn in den Untergrund zu schicken, war ja gerade, dass sich so neue Möglichkeiten für die Stadtgestaltung eröffnen.

Unterdessen haben am Platz von Leeds private Investoren Nägel mit Köpfen gemacht. Das im Jahr 2010 im Zuge der ersten Karstadt-Insolvenz geschlossene Technikkaufhaus wurde nach acht Jahren teilweisen Leerstands abgerissen.

[14] Friedhof in Höhe Platz von Leeds
April 2018  © Tramtracks
[15] Platz vor der Reinoldikirche
April 2018  © Tramtracks
[16] Friedhof/Ecke Platz von Leeds
April 2018  © Tramtracks
[17] Friedhof/Ecke Platz von Leeds
Oktober 2018  © Tramtracks
[18] Ehemalige stadteinwärtige Haltestelle "Reinoldikirche"
Oktober 2018  © Tramtracks
[19] Brüderweg/Ecke Kleppingstraße
Oktober 2018  © Tramtracks

Die Schließung des Karstadt-Technikhaus darf als Konsequenz eines sich wandelnden Einkaufsverhaltens interpretiert werden. Ein Großteil an Unterhaltungselektronik wird inzwischen online bestellt. Der Verkauf von CDs hatte seine besten Jahre auch hinter sich. Eine Immobilie dieser Größe war anscheinend auch nicht mehr anderweitig zu vermieten, und mit der im September 2011 eröffneten Thier-Galerie gibt es seither an anderer Stelle in der Dortmunder City einen weiteren Konsummagneten. Temporäre Zwischennutzungen mit Restpostenländen auf einem Bruchteil der Fläche konnten den Leerstand kaum kaschieren.

Nach dem Abriss sollte an diesem zentralen Ort ein siebengeschossiger Neubau entstehen, der vor allem eines haben wird, was es sonst im Stadtkern praktisch nicht gibt: Studenten-Appartements. Ob das Konzept aufgeht, 430 möblierte und hochpreisige Mini-Wohnungen an eine chronisch klamme Klientel zu vermieten, muss sich noch erweisen. Ansonsten waren eine Ladenzeile im Erdgeschoss und eine Gastronomie auf dem Dach geplant.

[20] Platz vor der Reinoldikirche
Oktober 2018  © Tramtracks
[21] Weihnachtsmarkt vor der Reinoldikirche
November 2018  © Tramtracks

Der Abriss der Karstadt-Immobilie verzögerte sich etwas, um nicht den Weihnachtsmarkt zu stören. Als die Straßenbahn hier noch oberirdisch fuhr, schlich sie in den Wochen vor den Festtagen immer besonders vorsichtig an den Glühwein-Buden vorbei. Seither hat sich der Markt auch den Gleisbereich erobert, mit einer als Fachwerkhaus sich ausgebenden Verkaufsstätte für Honig, Kerzen und Met oder eben mit dem Ausschank von innen wärmenden Gesöffs.

Von all den Entwicklungen entlang der Schienenstrecke bekommen Fahrgäste heutzutage bei der Anreise im Tunnel nichts mehr mit. Dass die Innenstadt insgesamt weniger Publikum anzieht, lässt sich allerdings nicht behaupten.

[22] Friedhof/Ecke Kuckelke
August 2021  © Tramtracks
[23] Friedhof/Ecke Kuckelke
August 2021  © Tramtracks

Ende Mai 2021 hat schließlich die Umgestaltung des Bereichs rund um den Pylon begonnen. Die Baustelle umfasst eine Fläche von rund 2.500 Quadratmetern. Anstelle des Kopfsteinpflasters mit den Gleisen werden Betonplatten gelegt, die auch der Beanspruchung durch die Busse standhalten, die an der Reinoldikirche halten. Dort ist immer noch ein wichtiger Verknüpfungspunkt der NachtExpress-Linien. Unter das Pylondach kommt "hochwertiges Betonpflaster".

Für den Tiefbau, bei dem vor allem Wasserleitungen und Stromkabel gelegt werden, wurde der Bereich nördlich des Pylons geöffnet. Allerdings wurden die Arbeiten Anfang September 2021 gestoppt, nachdem sie für Schäden an der direkt unter der Baustelle gelegenen Stadtbahnstation gesorgt hatten. Möglicherweise muss für den Oberbau auch anderes Material verwendet werden als eigentlich vorgesehen. Dies könnte die Kosten von bislang 2,85 Millionen Euro nach oben treiben.

[24] Friedhof zwischen Brückstraße und Kuckelke
August 2022  © Tramtracks
[25] Friedhof/Ecke Brückstraße
August 2022  © Tramtracks
[26] Friedhof/Ecke Brückstraße
August 2022  © Tramtracks

Nach der Winterpause wurden die Arbeiten im Frühjahr 2022 wieder aufgenommen, zogen sich aber weiter hin. Um unliebsame Überraschungen mit neuerlichen Rissen im Tunnelbauwerk zu vermeiden, wurden erst einmal Sensoren installiert. Sie sollten warnen, wenn es bei späteren Arbeiten zu Bauwerksbewegungen kommen sollte. Als nächstes wurde auf einem begrenzten Testfeld die alte Oberfläche abgeräumt und der neue Oberbau gelegt.

Im August 2022 wurden schließlich in Höhe des Platzes von Leeds (Friedhof/Ecke Brückstraße) ein paar Meter Gleis entfernt. Der Zeitplan sah nun vor, dass die Arbeiten für den vierten Bauabschnitt des "Boulevards Kampstraße" gegen Ende 2022 abgeschlossen sein sollten, also wieder ein halbes Jahr später als geplant.

[27] Friedhof/Ecke Brückstraße
September 2022  © Tramtracks
[28] Friedhof/Ecke Kuckelke
September 2022  © Tramtracks

Kurz darauf wurde der Abschnitt zwischen Brückstraße und Kuckelke beackert: Bis auf ein paar Stellen rund um den Pylon sind nunmehr keine Schienen mehr vorhanden.

Die restlichen Abschnitte, um den "Boulevard Kampstraße" endlich fertigzustellen, sollen ab 2023 folgen. Dies betrifft dann den Platz von Netanya (Kampstraße/Hansastraße), den Bereich der ehemaligen Haltestelle "Kampstraße" sowie zum Schluss das Areal vor der Petrikirche. Die im Herbst 2022 konkretisierten Pläne zur kurzfristigen Aufhübschung des Platzes sehen "mobile Baumkübel" und Sitzbänke vor, die etwa für den Weihnachtsmarkt wieder verschwinden können.

[29] Friedhof/Ecke Kleppingstraße
Januar 2023  © Tramtracks

Erst nach der Winterpause wurden die Bauarbeiten rund um den Pylon im Frühjahr 2023 wieder aufgenommen. Die westlich der ehemaligen Haltestelle provisorisch angelegte Asphaltdecke wurde wieder aufgebrochen, um den Grund für die endgültige Pflasterung frei zu machen.

Inzwischen war es 15 Jahre her, dass der letzte oberirdische Planzug an der Reinoldikirche über die Gleise gerollt war, von denen Fragmente an der ehemaligen Haltestelle immer noch zu finden waren.

[30] Friedhof/Ecke Kuckelke
April 2023  © Tramtracks
[31] Friedhof/Ecke Kuckelke
April 2023  © Tramtracks

Auf dem Stadtplan markiert ist die Position des Pylons mit der ehemaligen Straßenbahn-Haltestelle "Reinoldikirche". Unter Tage ist die Fundstelle mit diversen Linien (U42, U43, U44 und U46) erreichbar.

Stadtplan auf Openstreetmap

 

Literatur

  • Bernd Zander / Fred Teppe: Die Straßenbahnen in Dortmund. Düsseldorf 1992 (S. 29, 45, 48)
  • Dieter Höltge: Straßen- und Stadtbahnen in Deutschland. Band 4: Ruhrgebiet. Freiburg 1994 (S. 119, 124, 134)
  • Historischer Verein der Dortmunder Stadtwerke AG: Seit 1881 Straßenbahnen in der Dortmunder Innenstadt. Dortmund 2007 (S. 12, 17-18)
  • Bruno Wittke: Vom "grauen Bruder" zur Flaniermeile – Der Brüderweg als Teil des Boulevards Kampstraße. Dortmunder Denkmalhefte 05. Dortmund 2015
  • Michael Schenk: Straßenbahnen im östlichen Ruhrgebiet. Erfurt 2004 (S. 88)