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Auf den Spuren stillgelegter Straßenbahnstrecken

Dortmund: Lindemannstraße

Stillgelegt: 2002
Status: Keine Gleisreste mehr vorhanden

[01] Lindemannstraße/Ecke Sonnenstraße
Mai 2007  © Tramtracks

Am nördlichen Ende der Lindemannstraße sind bis heute noch die Reste des stadtauswärtigen Bahnsteigs der Haltestelle "Möllerbrücke" zu finden. Einige Jahre stand am Ende der schmalen Verkehrsinsel auch ein kurzer Mast für das (H)-Schild. Die aus zwei N-Achtachsern gebildeten Doppelzüge, die hier zuletzt hielten, mussten allerdings ein Stück weiter vorfahren, um nicht mit ihrem Zugende die Kreuzung dahinter zu blockieren – deshalb auch die Abmarkierung, die über den Bahnsteig hinaus reichte.

Richtung Innenstadt hatte die Linie 402 genau gegenüber ihren Halt, nur mussten dort die Fahrgäste auf der Straße ein- und aussteigen. Die Autos waren mithilfe einer "Zeitinsel" kurzfristig ausgesperrt: Ein rotes Licht hielt die Pkw auf, solange die Straßenbahn noch nicht weitergefahren war. Induktionsschleifen für die Signalanlage lagen auch noch Jahre nach der Streckenstilllegung im Gleisbereich.

[02] Ehemalige Haltestelle Möllerbrücke am nördlichen Ende der Lindemannstraße
Mai 2007  © Tramtracks
[03] Lindemannstraße zwischen Neuer Graben und Möllerbrücke
Mai 2007  © Tramtracks
[04] Lindemannstraße zwischen Möllerbrücke und Neuer Graben
Mai 2007  © Tramtracks

Architektonisch vermittelt das Kreuzviertel immer noch einen Eindruck davon, wie es hier aussah, als die Straßenbahn das modernste innerstädtische Verkehrsmittel war. Dabei wurden die ersten Gleise auf der Lindemannstraße erst ziemlich spät verlegt. Offiziell wurden sie zuerst am 13. November 1925 befahren, als die Tramstrecke aus der Innenstadt durch das Klinikviertel bis zum Südwestfriedhof in Betrieb ging. Im darauffolgenden Jahr wurde aber an der Verlängerung über Barop nach Hombruch gebaut und diese dann am 15. Dezember 1927 eingeweiht.

Inmitten der vielen Gründerzeitbauten bleibt nicht jede alte Bausubstanz vor dem Abriss verschont. Das ursprünglich 1907 errichtete und nach Kriegsschäden 1955 neu aufgebaute Gebäude für das Schillergymnasium (Lindemannstr. 6-8), das später von der Pädagogischen Hochschule Ruhr und dann von der TU Dortmund genutzt wurde, stand jahrelang leer. Von 2013 bis 2015 wurde es durch ein modernes Wohnhaus ersetzt.

Die Lindemannstraße ist neben der Hohen Straße eine der beiden Nord-Süd-Achsen des Kreuzviertels. Es entstand zwischen 1900 und 1914. Der Beamten-Wohnungsverein prägte mit seinen Bauaktivitäten maßgeblich das Erscheinungsbild des vom Bombenkrieg einigermaßen verschonten Quartiers. Auf die in den ersten Jahrzehnten gutbürgerlichen Mieter folgten in den 1970er-Jahren vor allem junge Akademiker und Studenten, die das günstige Wohnen in den noch nicht gründlich sanierten Altbauten und die Kneipenkultur schätzten. Gut 20 Jahre später wandelte sich das Bild abermals. Viel Mietfläche wurde in Eigentumswohnungen umgewandelt, was die Rückkehr einer arrivierten Bevölkerungsschicht begünstigte. Dennoch zeigt sich bei jeder Wahl, dass das politische Herz des Kreuzviertels nach wie vor links schlägt.

[05] Lindemannstraße/Ecke Neuer Graben
Mai 2007  © Tramtracks
[06] Lindemannstraße zwischen Essener Straße und Kreuzstraße
Mai 2007  © Tramtracks

Die Perspektive täuscht nicht: Die Lindemannstraße weist ein gewisses Gefälle auf. Dies spielte bei einem spektakulären Unfall am 11. Oktober 1993 eine wesentliche Rolle: An der Endstation vor dem WDR-Funkhaus in Höhe Nicolaikirche machte sich ein GT8 der Linie 404 selbstständig, als die Fahrerin ausstieg, um mal eben die Toilette aufzusuchen. Sie bemerkte zwar noch, wie sich der Wagen eigenmächtig in Bewegung setzte, konnte ihn aber nicht mehr stoppen. Und so nahm der Achtachser auf der leicht abschüssigen Piste an Fahrt auf, um vor der Kreuzung Neuer Graben mit rund 50 Stundenkilometern einen an der Ampel wartenden BMW auf die Hörner zu nehmen. Dessen Fahrerin wurde zum Glück nur leicht verletzt. Doch die Geisterfahrt war noch nicht zu Ende: Den Pkw schob die Bahn zur Seite und fuhr auf die Möllerbrücke zu. Dort ging es aber wieder bergauf, so dass der Wagen abgebremst wurde, wieder zurückrollte und erneut an Tempo gewann. Da stellte sich ein Lkw-Fahrer mit seinem Gefährt beherzt der Bahn in den Weg und brachte sie schließlich zum Stehen. Der Achtachser mit der Nummer 8 wurde bei dem Unfall stark beschädigt und anschließend verschrottet.

[07] Lindemannstraße/Ecke Essener Straße
Mai 2007  © Tramtracks
[08] Lindemannstraße/Ecke Kreuzstraße
Mai 2007  © Tramtracks

Die Lindemannstraße ist nach Ernst Heinrich Lindemann (1833-1900) benannt, Dortmunder Oberbürgermeister von 1878 bis 1886. Während seiner Amtszeit begann der innerstädtische Schienenverkehr in Dortmund, allerdings zunächst noch mit Wagen, die von Pferden bzw. kleinen Dampfloks gezogen wurden. Am 1. Juni 1881 ging die Pferdebahnlinie vom Steinplatz zum Fredenbaum in Betrieb. Nach seiner Zeit in Dortmund wurde Lindemann Oberbürgermeister in Düsseldorf. Dieses Amt hatte er bis 1899 inne, und unter seiner Regie wurde die dort zunächst privat geführte Straßenbahn in kommunale Hand überführt. Eine solche Option nach 25 Jahren Betrieb war auch Teil des Vertrags zwischen der Stadt Dortmund und dem Berliner Unternehmer Georg Sönderop, der die Pferdebahnlinien bewirtschaftete. Eine Klausel, mit denen die Stadtväter Weitblick bewiesen, denn zu jener Zeit entwickelte sich der Nahverkehr zu einem ausgesprochen profitablen Geschäft.

[09] Lindemannstraße in Höhe Nicolaikirche
Mai 2007  © Tramtracks
[10] Südliches Ende der Lindemannstraße kurz vor der B1
Mai 2007  © Tramtracks

Südlich der Kreuzung mit der Wittekindstraße lag eine Zwischenendstelle, die unter den Namen "Nicolaikirche" oder "WDR-Funkhaus" firmierte. Vor der 1952 entstandenen Bergschule, die den Führungsnachwuchs für die Zechen des Ruhrgebiets ausbildete, wurde in den Fünfzigern eine Wendeschleife für die Straßenbahn angelegt. Das Gebäude der Bergschule mietete 1983 der Westdeutsche Rundfunk für sein Kabelpilotprojekt an. Dort produzierte auch der Lokalsender Radio Dortmund sein Programm. All dies ist inzwischen Geschichte: Das Gebäude fiel um 1993 der Abrissbirne zum Opfer, um für Hotelneubauten Platz zu schaffen. Die Gleisschleife war Mitte 1992 zu einem einfachen Gleiswechsel zurückgebaut worden. Nur noch ein Betonmast auf dem Hinterhof des Steigenberger-Hotels erinnerte an die langjährige Endstelle der Linie 404.

[11] Lindemannstraße/Ecke Neuer Graben
Juli 2010  © Tramtracks
[12] Lindemannstraße/Ecke Neuer Graben
Juli 2010  © Tramtracks

Im Oktober 2007 bekam die Lindemannstraße zwischen Möllerbrücke und der Kreuzung Neuer Graben einen frischen Belag. Um das restliche Stück bis zur Wittekindstraße zu sanieren, hatte die Stadt Dortmund die Bauarbeiten in die Sommerferien gelegt: Von Juli bis September 2010 erhielt die Fahrbahn eine neue Deckschicht aus Asphaltbeton, die die den Autolärm mindern sollte. Damit verschwanden auch die letzten Gleisreste im Kreuzviertel. Bezahlt wurde die Baumaßnahme aus dem Konjunkturpaket II der Bundesregierung.

Nach wie vor ist die Lindemannstraße eine sehr stark befahrene Verkehrsachse. Fotos ohne Autos sind bei Tageslicht eigentlich nur am frühen Sonntagmorgen möglich. Wer ins Kreuzviertel zieht, sollte wissen, dass die Parkplatzsuche dauern kann und es überhaupt ein Quartier ist, das zwar sehr lebendig ist, aber eben nicht unbedingt leise. Die Herausnahme der Straßenbahn hat wenig überraschend nur minimal zur Verkehrsberuhigung beigetragen. Die letzten Wagen der Linie 408 fuhren hier am 15. Juni 2002. Seither ist das Kreuzviertel an das unterirdische Stadtbahnnetz angebunden. Die U42 hat zwar keine Station direkt an der Lindemannstraße, aber dafür rund 150 Meter weiter westlich an der Kreuzstraße/Ecke Große Heimstraße.

Auf dem Stadtplan markiert ist das nördliche Ende der Gleise vor der Kreuzung Neuer Graben, die noch bis Mitte 2010 auf der Lindemannstraße zu finden waren.

Stadtplan auf Openstreetmap

 

Literatur

  • Dieter Höltge: Straßen- und Stadtbahnen in Deutschland. Band 4: Ruhrgebiet. Freiburg 1994 (S. 110, 116)
  • Historischer Verein der Dortmunder Stadtwerke AG: Seit 1881 Straßenbahnen in der Dortmunder Innenstadt. Dortmund 2007 (S. 11, 21)