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Auf den Spuren stillgelegter Straßenbahnstrecken

Gelsenkirchen: Stadthafen

Stillgelegt: um 1960
Status: Keine Gleisreste mehr vorhanden

[01] Werftstraße in Höhe des Zollamts
Mai 2007  © Tramtracks

Nur einen Steinwurf vom Rhein-Herne-Kanal entfernt lagen jahrzehntelang stillgelegte Gleise auf der Werftstraße. Die Entstehungsgeschichte dieser Stichstrecke gibt noch ein paar Rätsel auf. Die Bogestra hatte von Süden her eine Strecke gebaut, die auf der Sutumer Straße (heute: Kurt-Schumacher-Straße) kurz vor der Kanalbrücke in zwei Stumpfgleisen endete. Von der anderen Seite bauten die Vestischen Kleinbahnen eine Strecke von Buer über Sutum bis hierher. Die Gleise wurden miteinander verbunden, und vom 18. Dezember 1927 an fuhr die Vestische mit ihrer Linie 12 bis zum Bahnhof Schalke-Nord bzw. zum Schalker Markt. Die Bogestra betrieb in den 1930er-Jahren ihrerseits die Linie 1, die vom Bochumer Hauptbahnhof bis zum Stadthafen fuhr. Die Wagen dieser Linie wendeten aber offenbar auf der Sutumer Straße. Der Plan, den die Preußische Kleinbahnaufsicht 1927 für den Bau der Verbindung der Bogestra- und Vestische-Netze prüfte, gibt keinen Hinweis auf ein Stichgleis in die Werftstraße.

Wahrscheinlich gab es auch nie Personenbeförderung auf dem Abzweig zum Stadthafen. Die Gleise auf der Werftstraße wurden wohl erst im Laufe des Zweiten Weltkriegs verlegt, und zwar für den Transport von Schüttgütern. Unter diesen Oberbegriff fallen beispielsweise Sand und Kies, aber auch Erze, Kohle und Salze, ebenso Lebensmittel wie Getreide, Zucker oder Mehl.

[02] Werftstraße in Höhe des Zollamts
Mai 2007  © Tramtracks
[03] Blick auf die westliche Hälfte der Werftstraße
Mai 2007  © Tramtracks

Die Strecke war zunächst zweigleisig, dann verengte sich die Strecke auf ein Schienenpaar. Die lange Jahre noch auf einer Länge von ungefähr 150 m sichtbaren Gleisrelikte führten bis knapp vor das Hafengelände. Tatsächlich reichten die Schienen aber früher bis kurz vor den Kai. Am westlichen Ende der Werftstraße, direkt am Beginn des Hafenbereichs, gabelte sich das Gleis noch einmal auf. Eines führte weiter geradeaus, ein zweites bog in einem 90-Grad-Winkel nach Nordwesten. Dieses auf den ersten Blick seltsame Gleisbild bot im Vergleich zu einer durchgehenden zweigleisigen Strecke den Vorteil verschiedener Rangiermöglichkeiten.

Der Gleisplan von 1948 zeigt eine nur eingleisige Anbindung der Werftstraße an das Streckengleis auf der Sutumer Straße Richtung Schalke. Die Anlage wurde wohl wenig später noch zu einem Gleisdreieck erweitert, denn in der Werftstraße wendeten Anfang der 1950er-Jahre noch Einrichtungswagen auf einigen Kursen der Linie 2, die aus der Gelsenkirchener Innenstadt kommend nur bis Sutum fuhren. Bis wann die Stichstrecke tatsächlich befahren wurde, ist nicht genau bekannt. Im Gleisplan vom März 1955 ist das Dreieck jedenfalls noch eingezeichnet. Es gibt die Aussage, dass es "um 1960" herum stillgelegt wurde. Fotos aus dem Mai 1973, die die Anlage eines eigenen Bahnkörpers auf der Kurt-Schumacher-Straße dokumentieren, zeigen noch eine Verbindung von dem alten Gleis aus Richtung Gelsenkirchen in die Werftstraße hinein. Der andere Schenkel des Dreiecks aus Richtung Buer war wegen der Bauarbeiten schon nicht mehr angeschlossen. Eine Oberleitung existierte auf der Werftstraße zu diesem Zeitpunkt nicht mehr.

[04] Westliches Ende der Werftstraße mit dem Werkstor der Gelsenkirchener Rohstoffverwertung
Juni 2007  © Tramtracks
[05] Westliches Ende der Werftstraße
Juni 2007  © Tramtracks

Der Stadthafen Gelsenkirchen wurde kurz nach der Fertigstellung des Rhein-Herne-Kanals im Juli 1914 eröffnet. Bis heute ist er ein wichtiges Logistik-Drehkreuz, wo traditionell Eisen, Stahl und andere Metalle umgeschlagen werden. Mittlerweile spielen Mineralöl- und Chemieprodukte eine zentrale Rolle. Vom BP/Aral-Tanklager am Hafen besteht eine Pipeline zur Raffinerie in Gelsenkirchen-Scholven. Mehr als 70 Unternehmen haben sich auf dem Gelände angesiedelt. Eine Landmarke ist das 1948 in Betrieb genommene, 42 Meter hohe Getreidesilo von Müller's Mühle, das aus nach dem Krieg nicht mehr benötigten Druckkörpern von U-Boot-Rümpfen zusammengefügt und dann ummantelt wurde. Am Eingang der Werftstraße befindet sich auch das Zollamt Gelsenkirchen, das als Kontrollstelle für den Warenverkehr nicht nur für das Hafengebiet zuständig ist.

An dem jetzt von einer Tochter der Gelsenkirchener Stadtwerke betriebenen Hafen liegen auch 18,4 km Eisenbahngleise, über die der Löwenanteil der Güter transportiert wird. Der ohnehin nur vorübergehend vorhandene Straßenbahnanschluss war da lediglich eine Ergänzung in Notzeiten.

[06] Westliches Ende der Werftstraße
Dezember 2012  © Thomas Uhlenbruch
[07] Westliches Ende der Werftstraße
Januar 2013  © Ludwig Mahns

Ende 2012 sind die Schienen schließlich verschwunden. Kurioserweise wurde bei dieser Gelegenheit nicht die komplette Werftstraße saniert, sondern zumindest im westlichen Bereich ist das Kopfsteinpflaster erhalten geblieben. Möglicherweise diente diese Aktion dazu, den autofahrenden Kunden des inzwischen dort angesiedelten Lidl-Supermarkts die Anreise zu entrumpeln.

Unklar ist allerdings, ob die Gleise tatsächlich demontiert wurden oder nun unter dieser etwas provisorisch wirkenden Asphaltschicht schlummern – was man sich angesichts dieses Patchworks durchaus vorstellen könnte. Es gibt allerdings einen Bericht, der vom Ausbau der Gleise spricht.

Auf dem Stadtplan markiert ist die Stelle, an der bis 2012 Gleise sichtbar waren. Die Werftstraße mündet auf die Kurt-Schumacher-Straße in Höhe der Straßenbahn-Haltestelle "Stadthafen" (Bogestra-Linie 302).

Stadtplan auf Openstreetmap

 

Literatur

  • Dieter Höltge: Straßen- und Stadtbahnen in Deutschland. Band 4: Ruhrgebiet. Freiburg 1994 (S. 44, 387, 390)
  • Wolfgang R. Reimann: Straßenbahn und Güterverkehr zwischen Rhein, Ruhr und Wupper. Berlin 2004 (S. 58)