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Auf den Spuren stillgelegter Straßenbahnstrecken

Gelsenkirchen: Wallstraße

Stillgelegt: 1955
Status: Gleisreste noch vorhanden (Stand: März 2018)

[01] Wallstraße zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal
März 2018  © Tramtracks

Geradezu ins Nichts führen diese Gleise, und sie gehören überdies zu den ältesten Schienenrelikten stillgelegter Straßenbahnstrecken im Ruhrgebiet: Auf ihnen fuhr die Tram bis Mitte der 1950er-Jahre von Gelsenkirchen über Heßler nach Horst. Sie war damit die dritte Nahverkehrsachse von der Innenstadt in die nördlichen Stadtteile. Während die Strecken nach Bismarck und Erle sowie nach Schalke und Buer bis heute existieren, wurde diese Verbindung aufgegeben. Potenzial hätte sie durchaus gehabt.

Die Wallstraße ist heute zweigeteilt. Ihr südlicher Stummel mit den Hausnummern 50 bis 59 liegt eingekeilt zwischen Rhein-Herne-Kanal und Emscher. Die Brücken, die die Gewässer überspannten, existieren nicht mehr. Der Weg endet jetzt an der Böschung vor dem Kanal bzw. am Emscherdeich. Bis Anfang der 1960er-Jahre war die Wallstraße die Durchgangsstraße von Heßler nach Horst. Durch den Bau der neuen und breiteren Grothusstraße, die parallel 80 Meter weiter östlich verläuft, verlagerte sich der Verkehr dorthin. Die Wallstraße fiel fast in eine Art Dornröschenschlaf.

[02] Südliches Ende der Wallstraße am Rhein-Herne-Kanal
März 2018  © Tramtracks
[03] Wallstraße zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal
März 2018  © Tramtracks

Ganz so ruhig, wie es die Bilder nahelegen, geht es hier aber nicht immer zu. Immer, wenn im benachbarten Amphitheater Gelsenkirchen eine Veranstaltung für bis zu 6.000 Gäste stattfindet, herrscht hier viel Betrieb. Die Freifläche dient als Parkplatz für Besucher von Konzerten und Open-Air-Kino. Von hier aus kann man den Nordsternpark erkunden, der auf dem Gelände des gleichnamigen Bergwerks entstanden ist. 1993 wurde auf der Zeche die letzte Schicht gefahren. Der Landschaftspark ist Teil der Route Industriekultur, und er integriert historische Gebäude aus der Bergbauzeit in eine weitläufige Grünanlage mit weiteren Stationen wie etwa einem künstlichen Kletterfelsen.

An jedem zweiten Sonntag im Monat füllt sich der Parkplatz der Freilichtbühne mit einem Flohmarkt für Motorradteile. Dieser Platz war dafür buchstäblich naheliegend: In dem roten Backsteingebäude Wallstraße 52 hatte "Karl vom Kanal" sein Domizil, ein Ruhrpott-Original. Nach seiner aktiven Motorsportzeit, unter anderem als deutscher Motocross-Meister, verlegte sich Karl Rebuschat aufs Sammeln. 1968 begann er ein privates Motorradmuseum aufzubauen, das zeitweise rund hundert Maschinen beherbergte. In der Biker-Szene war er bekannt wie ein bunter Hund. In den Jahren vor seinem Tod im Juni 2012 löste Karl zwar sein Museum auf, aber der von ihm ins Leben gerufene Teilemarkt für historische Motorräder wurde weiterhin am angestammten Ort an der Wallstraße fortgeführt. Inzwischen scheint das Gelände aber als Baustofflager genutzt zu werden.

[04] Wallstraße zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal
März 2018  © Tramtracks

Direkt gegenüber, im Eckhaus Wallstraße 59, schickte sich eine ganz andere Revier-Institution an, sich zu etablieren. Anfang 2017 hatte die Gina Bassalig ihre gesicherte Existenz als Gymnasiallehrerin gegen die Selbstständigkeit als Konditorin eingetauscht. Mit "Ginas Cakeland" richtete sie ein Café und einen Online-Shop ein und ging dabei ihrer Leidenschaft für Torten und speziell für Cupcakes nach. Das sind Mini-Kuchen, die in einer tassengroßen Form gebacken und von einer liebevoll dekorierten Cremehaube gekrönt werden. Trotz des abgelegenen Standorts war das Geschäft gut angelaufen. Heute existiert es aber anscheinend nicht mehr.

Zu der Zeit, als vor der Tür noch die Straßenbahn fuhr, stand das Quartier ganz im Schatten von Pütt und Fabriken drumherum. Westlich der Wallstraße begann direkt das Gelände der Zeche und der Kokerei Nordstern, das selbst so groß wie ein eigener Stadtteil war.

[05] Wallstraße zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal
März 2018  © Tramtracks

Am 6. Dezember 1913 (andere Quelle: 31. Dezember 1920) hatte die Bogestra die Strecke von Heßler zum Südbahnhof Horst (am nördlichen Ende der Wallstraße) in Betrieb genommen und damit die im Oktober 1911 zwischen der Gelsenkirchener Altstadt und Heßler eröffnete Strecke verlängert. In Horst traf die Strecke von 1920 an auf die Gleise der Vestischen Kleinbahnen, doch erst im September 1927 (andere Quelle: Februar 1928) wurde eine Verbindung zwischen den beiden Betrieben hergestellt. Statt sich gegenseitig Konkurrenz zu bereiten, erschien es sinnvoller, Linien durchzubinden.

Bei den rund 40 Metern Doppelgleis am Rhein-Herne-Kanal dürfte es sich um die vor dem Ersten Weltkrieg verlegten Schienen handeln. 40 Jahre später ließen ihr damals schon betagter Zustand sowie der hohe Anteil eingleisiger Abschnitte zwischen Heßler und Stadtmitte den Entschluss reifen, die Bahn durch den Bus zu ersetzen. Das von Bogestra-Direktor Oskar Witz damals ins Feld geführte Argument, "dass in Kriegszeiten die Straßenbahn sich als einziges leistungsfähiges Nahverkehrsmittel bewährt hat", schien in der Wirtschaftswunderära nicht mehr genug Gewicht gehabt zu haben – verglichen mit den sonst fälligen erheblichen Investitionen.

[06] Wallstraße zwischen Krokuswinkel und Emscher
März 2018  © Tramtracks
[07] Wallstraße zwischen Krokuswinkel und Emscher
August 2004  © Tramtracks

Auch auf der anderen Seite der Emscher liegen auch noch ein paar Meter Gleis, und zwar direkt vor dem Deich am Nordufer. Hier ist die Wallstraße nach dem Abriss der Brücke eine Sackgasse. Die eingepflasterten Schienen sind meist von den Fahrzeugen der anliegenden Kfz-Reperaturwerkstatt zugeparkt.

Ein typisches Arbeiterquartier säumt den nördlichen Teil der Wallstraße. Die einfachen, zweigeschossigen Häuser aus rotbraunen Ziegeln wurden ab 1897 für Kumpel der Zeche Nordstern gebaut und bilden ein zwar durch den Zweiten Weltkrieg und die Ausdehnung der Industrie dezimiertes, insgesamt aber gut erhaltenes Ensemble. Jedes Haus besaß einen kleinen Garten und einen Stall zur Kleinviehzucht, denn Selbstversorgung gehörte zum Konzept der Siedlung.

[08] Wallstraße zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal
August 2004  © Tramtracks
[09] Wallstraße zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal
August 2004  © Tramtracks

Nicht ganz so leicht ist heutzutage der ehemalige Streckenverlauf durch Heßler auszumachen. Nachdem die Wallstraße den Rhein-Herne-Kanal überquert hatte, besaß die Straßenbahn einen eigenen Gleiskörper neben der südlichen Fahrbahn und bog dann auf die Lohebleckstraße ein, die damals noch auf den Fersenbruch einmündete. Die Tram passierte die Klapheckenhof-Siedlung und bog dann in die Grimmstraße ab, um an deren Ende auf die Dammstraße einzuschwenken. In den 1950er-Jahren befand sich anstelle der A42 eine Güterzugstrecke, die auf einer Brücke überquert wurde. Danach folgte die Strecke dem Halbrund der Heßlerstraße und erreichte dann die Wilhelminenstraße, der sie bis zur Innenstadt folgte.

Viele Jahre wurde die Strecke durch die Wallstraße gemeinschaftlich von Bogestra und den Vestischen Straßenbahnen betrieben. Die Linienchronik kennt 1930 den Langläufer von Gelsenkirchen Hauptbahnhof über Heßler und Horst nach Gladbeck-Zweckel (Linie 17). Im Winterfahrplan 1936/37 wurde die 17 dann nur von der Bogestra betrieben und bis Horst, Burgstraße verkürzt. Im Kriegsjahr 1944 gab es dann wieder zwei Gemeinschaftslinien von Bogestra und Vestischen, die beide im 20-Minuten-Takt fuhren: Die Linie 23 fuhr von Gelsenkirchen nach Gladbeck-Zweckel, die 24 von Gelsenkirchen nach Bottrop.

Durch die Brückensprengung im Herbst 1944 war der Verkehr unterbrochen und konnte auf ganzer Route erst wieder im Mai 1949 wieder aufgenommen werden. Eine kurze Episode blieben die beiden Ringlinien 21 und 24, die bis Dezember 1949 von Gelsenkirchen über Bismarck, Erle, Buer, Horst und Heßler zurück zum Ausgangspunkt am Hauptbahnhof führten. Die beiden Linien, die jeweils mit fünf Trieb- und fünf Beiwagen bestückt wurden, fuhren im Uhrzeigersinn (Linie 24) bzw. in der Gegenrichtung (Linie 21) . Ab 1950 gab es die Bogestra-Linie 24 von Günnigfeld über Ückendorf bis Horst Mitte. Wie schon in der Vorkriegszeit wurde die Strecke durch eine zweite Linie ergänzt (die 14), die das Angebot von Gelsenkirchen Hauptbahnhof bis zur Melanchthonschule in Heßler verstärkte.

[10] Wallstraße zwischen Emscher und Rhein-Herne-Kanal
1995/96  © Michael Westphal/Bildarchiv der Gelsenkirchener Geschichten CC-BY-SA 4.0 (bearb.)

Das Aus für die Straßenbahn durch Heßler kam scheibchenweise: Am 27. Dezember 1954 wurde die Linie 3 zwischen Gelsenkirchen Hauptbahnhof und Horst eingestellt. Der Gleisplan der Bogestra vom März 1955 zeigt, dass die Schienen auf der Wallstraße nur noch von Horst angebunden waren und bis Heßler reichten. Zu dieser Zeit verkehrte dort nur noch eine Linie 21 von Horst-Mitte bis zur Lohebleckstraße, allerdings nur für den Berufsverkehr zur Zeche Nordstern sowie sonntags für den Ausflugsverkehr zum Rhein-Herne-Kanal. Die Betriebszeiten waren an Werktagen lediglich von 5.00 bis 8.30, von 12.00 bis 15.00 sowie von 17.00 bis 20.00 Uhr. Sonntags wurde die Strecke zwischen 13.00 und 21.00 Uhr bedient. 1958 folgten auch auf diesem Reststück die Stilllegung und die Umstellung auf den Omnibus.

Die Gegend um die Zeche Nordstern hätte nach Ende der Kohleförderung veröden können. Eine Chance zu einem Neuanfang bot die Bundesgartenschau, die 1997 auf dem 160 Hektar umfassenden Industriebrache stattfand und 1,6 Millionen Besuchern nicht nur die Renaturierung des Kohlenpotts veranschaulichte. Die Umgestaltung des Areals sollte über die fast sechs Monate der BUGA hinaus nachwirken. Der Nordsternpark ist heute teils Naherholungsgebiet, teils Standort neuer Unternehmungen. Für die Bundesgartenschau wurde auch das Umfeld aufpoliert, so auch die Häuserzeile Wallstraße 51-55, die kernsaniert wurde und dank neuem Anstrich heute ganz schmuck aussieht. Mitte der 1990er-Jahre lagen in diesem Bereich auch noch die Straßenbahnschienen.

Beim Bau der parallel zur Wallstraße verlaufenden Grothusstraße hatte man schon mit einem breiten Mittelstreifen die Option geschaffen, einen Bahnkörper für eine erneute Verbindung von der Gelsenkirchener Innenstadt nach Horst anzulegen. 1968 wurde auf Vorrat ein zweigleisiger Abzweig aus der Florastraße in die heutige Overwegstraße eingebaut, der aber irgendwann später wieder verschwand. Anfang der 1980er-Jahre war die Strecke noch im Katalog der Stadtbahn-Gesellschaft Rhein-Ruhr unter "weitere Planungen" bzw. "möglicher späterer Bedarf" aufgeführt.

Wieder etwas Bewegung in die Sache brachte eine im Jahr 2021 angefertigte Machbarkeitsstudie, die für eine Schienenverbindung von der Innenstadt über Grothusstraße nach Horst vielversprechende Zahlen erbrachte. Die Verkehrsplaner der PTV Transport Consult kalkulierten mit 7.000 bis 9.000 zusätzlichen Fahrgästen pro Tag. Dabei wurden zwei Varianten unter die Lupe genommen (die eine über Grothus- und Overwegstraße, die andere über Grothusstraße und Hans-Böckler-Allee), die sich beide zu lohnen schienen. Die Baukosten schätzten die Gutachter auf 70 Millionen Euro. Falls der Neubau tatsächlich kommt, wäre eine Eröffnung um 2030 wohl realistisch. Bislang wurden dem städtischen Verkehrsausschuss nur erste Ergebnisse der Studie präsentiert. Ein umfassender Bericht soll im Herbst 2021 vorliegen.

Auf dem Stadtplan markiert ist die Fundstelle an dem durch Emscher und Rhein-Herne-Kanal isolierten Stück der Wallstraße. Die nächstgelegene Haltestelle heißt "Krokuswinkel" und wird von der Buslinie 383 bedient, werktags zur Hauptverkehrszeit alle zehn Minuten, am Wochenende nur im Halbstundentakt.

Stadtplan auf Openstreetmap

 

Literatur

  • Dieter Höltge: Straßen- und Stadtbahnen in Deutschland. Band 4: Ruhrgebiet. Freiburg 1994 (S. 41, 44-46, 50-54, 386-387)
  • Gelsenkirchener Straßenbahn-Geschichten. In: Auf Draht 1/2009 (S. 6-7)
  • Andreas Halwer: Die Straßenbahn in Horst. In: Auf Draht 2/2004 (S. 13-15)
  • Ludwig Schönefeld: Unterwegs zwischen Emscher und Ruhr. Wuppertal 1989 (S. 152)