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Auf den Spuren stillgelegter Straßenbahnstrecken

Iserlohn: Grüne

Stillgelegt: 1959
Status: Kreuz, Gedenktafel und Treppen noch vorhanden (Stand: November 2017)

[01] Gedenkkreuz an der Untergrüner Straße 194
Oktober 2017  © Markus Schweiß

"Mensch, bedenk die Ewigkeit": Am 17. Juni 1924 kam es zu dem bis heute schwersten Straßenbahn-Unfall in Deutschland. 26 Menschen verloren ihr Leben, 43 wurden schwer verletzt. Auf der abschüssigen Düsingstraße nahm ein vollbesetzter Vierachser der Westfälischen Kleinbahnen, der nach Hohenlimburg unterwegs war, immer mehr Tempo auf. An der 90-Grad-Kurve an der Ecke Untergrüner Straße sprang er aus den Schienen und prallte gegen einen dicken Kastanienbaum. Durch den Aufprall riss das Dach ab. Die hölzernen Aufbauten wurden zerschmettert. Die unter Ästen begrabenen Trümmer kamen an der Fabrikmauer der Kettenwerke Schlieper (später: Michels & Breuker) zu liegen. Ein Denkmal erinnert noch heute an die Katastrophe, die damals im ganzen Reich Aufsehen erregte.

Das Sandsteinkreuz, das ursprünglich direkt an der Unfallstelle stand, wurde im Jahr 2007 rund 150 Meter westlich vor die Herz-Jesu-Kirche versetzt.

 

[02] Gedenkkreuz an der Haltestelle Obergrüne Kirche
Oktober 2017  © Markus Schweiß

Wie aber konnte es zu dem Unglück kommen? Es war ein Dienstagabend gegen 19.15 Uhr, als der vierachsige Triebwagen 3 (Baujahr 1900) mit 66 Fahrgästen in die Düsingstraße einbog. Die Strecke dort lag eingleisig am nördlichen Fahrbahnrand – und wies auf einer Länge von 425 Metern ein Gefälle von 6,59 Prozent auf (28 Meter Höhenunterschied). Laut offiziellen Verlautbarungen der Kleinbahnen soll der Triebwagenführer mit "Vollstrom" und damit ungebremst die Düsingstraße heruntergeprescht sein. Talwärts galt ein Höchsttempo von sechs Stundenkilometern, also Schrittgeschwindigkeit.

In den Tagen nach dem Unglück herrschte kein Mangel an Spekulationen zur Unfallursache. Eine Theorie besagte, dass der Rollenstromabnehmer unterwegs abgerissen sei. Dies ließ sich nicht beweisen, und Kurzschluss- sowie Schienenbremse sollten auch unabhängig vom Fahrstrom funktionieren. Ein Versagen der Bremsen selbst wurde ebenfalls ausgeschlossen, wie eine Überprüfung durch die Aufsichtsbehörden ergab. "Es steht durch einwandfreie Zeugen fest, dass der Führer (...) den Wagen in eine derartige Geschwindigkeit versetzt hat, dass es ihm dann nicht mehr möglich war, ihn genügend abzubremsen, er also die Gewalt darüber vollständig verlor", heißt es im Iserlohner Kreisanzeiger vom 19. Juni 1924. "Die beste Bremseinrichtung muss, ebenso wie die beste Sicherheitsvorkehrung versagen, wenn die dafür erlassenen Bestimmungen nicht befolgt oder falsch angewandt werden. Es kann aber hieraus der Kleinbahn keine Schuld beigemessen werden."

[03] Düsingstraße mit Blick auf den Kreisel Untergrüner Straße und die Unfallstelle
Oktober 2017  © Markus Schweiß
[04] Gedenktafel vor dem Gebäude Untergrüner Straße 208
Oktober 2017  © Markus Schweiß

An der Unfallstelle selbst steht noch heute eine Gedenktafel mit sieben historischen Fotos vom Unglücksort sowie von der Beisetzungsprozession, die am 21. Juni 1924 stattfand.

Für die Bahngesellschaft war die Ursachenforschung mit der Feststellung menschlichen Versagens abgehakt. Der Fahrer des Triebwagens war unter den Toten, er konnte nichts mehr aussagen, geschweige denn sich verteidigen. Für die Kleinbahnen stellten sich somit keine systematischen Konsequenzen etwa hinsichtlich der Qualität von Bremsen oder auch der Gleise. Doch es bleiben Fragen offen. Der Fahrer kannte schließlich die Gefällstrecke, und alleine von der letzten Biegung der Düsingstraße bis zur scharfen Kurve wäre auch ein beschleunigter Wagen rund 20 Sekunden unterwegs gewesen. Zeit genug, um zumindest zu versuchen, das drohende Unglück noch abzuwenden.

Die Westfälischen Kleinbahnen zogen allerdings die drei mit dem Unfallfahrzeug baugleichen Triebwagen (Baujahr 1900) sofort aus dem Verkehr. Zwei wurden in Beiwagen umgebaut, der dritte ging in den Schrott, der Unfallwagen war ohnehin völlig zerstört. Die Fahrzeuge waren nach ihrem Hersteller anspielungsreich "Kummer-Kisten" genannt, hatten sie sich doch durch mindere Qualität von Motoren und Fahrschaltern ausgezeichnet, und nach dem Konkurs des Herstellers 1901 konnte der Verkehrsbetrieb keine Gewährleistung mehr geltend machen.

[05] Treppenaufgang am Haus Untergrüner Straße 201
Oktober 2017  © Markus Schweiß
[06/07] Treppenaufgang von der Untergrüner Straße hoch zur Igelstraße
Oktober 2017  © Markus Schweiß

Eine weitere konkrete Maßnahme nach dem Unfall war der Bau einer parallel verlaufenden Trasse neben der heutigen Igelstraße. Sie wies weniger Gefälle auf und wurde von 1926 an für die Fahrten bergab Richtung Lethmathe genutzt. Die 1901 eröffnete Strecke auf der Düsingstraße wurde weiterhin befahren, aber nur noch bergauf Richtung Iserlohn. Auf nassem Laub war im Herbst das Bremsen vor der Kurve Untergrüner Straße sowieso nichts für schwache Nerven gewesen.

Ein bauliches Relikt, das mit der Neutrassierung in Zusammenhang steht, ist noch erhalten: Um Fahrgästen einen kurzen Weg von der Haltestelle an der oberen Landstraßee zum Grüner Ortskern zu ermöglichen, wurde eine Treppenanlage gebaut. An der Igelstraße befand sich die Fabrik Heuer-Hammer, in der die in den 1930er-Jahren bekannten Heuer-Ampeln gefertigt wurden. Die Treppen den Hang hinauf sind nur noch zum Teil begehbar und im oberen Bereich abgesperrt. Der Betonmast an der Untergrüner Straße gehört wahrscheinlich nicht zum Streckeninventar.

Ein weiterer schwerer Unfall mit vier Toten und 36 Verletzten bei einem Frontalzusammenstoß zweier Triebwagen unterhalb der Dechenhöhle am 11. Juni 1959 führte das Ende des Straßenbahnbetriebs in Iserlohn noch schneller herbei als ohnehin geplant. Eine sofortige Einstellung war nicht möglich, da zunächst nicht genug Busse zur Verfügung standen. So wurde der Trambetrieb erst am Silvestertag 1959 beendet.

Auf dem Stadtplan markiert ist die Position der Gedenktafel, die ziemlich genau dem Unfallort entspricht. Mit öffentlichen Verkehrsmitteln ist die Stelle mit der Regionalbus-Linie 1 erreichbar (Haltestellen: Obergrüne Kirche bzw. Grüner Talstraße), der zwischen Hohenlimburg und Hemer mehr oder weniger der alten Streckenführung der Iserlohner Kreisbahn folgt und werktags im Viertelstundentakt fährt.

Stadtplan auf Openstreetmap

 

Literatur

  • Peter Müller / Günter Stalp: Unsere gute alte Straßenbahn. Iserlohn 1996 (S. 25-35)
  • Rolf Löttgers / Wolfgang R. Reimann: Von Hohenlimburg nach Hemer und Altena. Hövelhof 2015 (S. 41-42, 78-79, 143-148, 174-175)