Manche Leute berichten, wenn sie streng fasteten, werde ihre Wahrnehmung immer prägnanter, jedes sinnliche Detail stehe ihnen so klar und scharf umrissen vor Augen wie ein Kupferstich, die Welt erscheine ihnen dann in einer geradezu überwirklichen Konturiertheit.

Esther Kinskys Buch Hain, das jetzt landauf, landab gerühmt wird und für den Preis der Leipziger Buchmesse nominiert ist, folgt auch einem Programm strengster Askese, einem ästhetischen Fasten gewissermaßen. Es ist wie Trennkost: Alles, was dick machen könnte, kommt nicht auf den Tisch. Kein kalorienreicher Plot, keine zuckerhaltigen Dialoge, alles, was schnell satt macht und leicht die Kehle runtergeht wie Witz und Ironie, wird vom Speiseplan gestrichen. Entsprechend hängt kein Gramm Fett an diesem asketischen Textkörper. Dafür nimmt er mit der Luzidität des durch Fasten geschärften Bewusstseins dort unendlich viele Nuancierungen und Licht-Abstufungen wahr, wo andere – mit der Schläfrigkeit, die sich einstellt, nachdem man sich den Magen vollgeschlagen hat – nur graues Einerlei sehen. Während Pasternak im Doktor Schiwago unübertrefflich darin war (allerdings auf barock überschießende Art), so viele Formen von Schnee wie kein anderer Schriftsteller vor ihm zu unterscheiden, so dürfte die Bandbreite von Esther Kinskys Graupalette unübertroffen sein. Ihre ultimative Beschreibungsherausforderung ist entsprechend die Kiesgrube – einer der Höhepunkte von Hain, wenn sich bei einem Buch, das sich unerbittlich dem Gleichmaß verschrieben hat, von Höhepunkten sinnvoll sprechen lässt ...