Ein paar sonnenverbrannte Hügel, ein paar verfallende Villen, ein paar Menschen in Lumpen, die ihren verhungernden Hühnern nachlaufen. Es ist still, sehr still auf der Krim, es herrscht die große Erschöpfungsstille nach der Revolution. Dann, plötzlich, wildes Geschrei. Ein Nachbar schlägt gerade einen anderen tot, der Streit geht um die Überreste einer Kuh, die vielleicht gestohlen, vielleicht aber auch nur bei ihrer vergeblichen Suche nach Nahrung in den Bergen verschwunden ist. Ein Menschenleben ist nichts mehr wert, jedenfalls viel weniger als eine Kuh. Die Revolution hat den Hunger als Verbündeten genommen, der holt sich jetzt die letzten Reste des Klassenfeindes. Nur noch die Sonne scheint wie ehedem, aber nichts mehr überlebt.

Es ist die Sonne der Toten, Der Toten Sonne, wie der Roman von Iwan Schmeljow heißt, der das Schlachtfest der Roten Armee um 1920 auf der Krim beschreibt oder vielmehr, was nach dem Schlachtfest übrig geblieben ist von der mondänen Sommerfrische der russischen Bourgeoisie, die den besonderen eliminatorischen Hass der Bolschewisten erregte. Der Autor, der selbst 1922 von der Krim ins französische Exil floh und dort seine Erlebnisse 1923 publizierte, malt das Tableau der Oktoberrevolution als Idylle der Erschöpfung, der bleichenden Knochen, der umherirrenden Seelen, die sich langsam von ihrer verdorrenden irdischen Hülle lösen. Sie führen seltsame Gespräche im Hungerdelirium, sie erinnern sich an die Zarenzeit, in der sie selbst auf den Sozialismus hofften und Terror säten. Nun, da sie ernten, ersticken sie an den Früchten.

Auch wer die großen Romane vom Grauen des russischen Bürgerkriegs kennt, Isaak Babels Reiterarmee, Boris Pasternaks Doktor Schiwago, Michail Bulgakows Weiße Garde, wird zugeben müssen, dass niemand mit der poetischen Kamera so nah herangegangen ist an die physische Realität der Auslöschung. Nicht erst Stalins Säuberungsexzesse, sondern schon die der Roten Armee im Bürgerkrieg überstiegen jedes Maß. Nicht erst in der Ukraine während der Dreißigerjahre wurde der Hunger als Waffe eingesetzt. Hat diesen Schmeljow damals niemand gelesen, war das Manuskript verschollen, ist es erst jetzt wieder aufgetaucht?

Keineswegs. Die russischen Schriftsteller der Revolutions- und Zwischenkriegszeit, die von uns heute entdeckt werden, waren zu ihrer Zeit durchaus nicht unbekannt, manche hochberühmt. Schmeljow, jetzt mit zwei Romanen in der Anderen Bibliothek geehrt, wurde ebenso wie Mark Aldanow, dessen Hauptwerk bei Rowohlt neu erschienen ist (ZEIT Nr. 26/23), mehrfach für den Nobelpreis nominiert. Der 1873 geborene Schmeljow, er starb 1950, wurde auch nach dem Zweiten Weltkrieg noch in Deutschland neu übersetzt und verlegt. Diese Autoren müssen, streng genommen, nicht entdeckt oder wiederentdeckt werden. Sie müssen rehabilitiert werden. Denn der Grund ihres Verschwindens aus dem öffentlichen Bewusstsein der letzten 70 Jahre war ihr offensiver Antikommunismus, der den Linken im Westen und zur Zeit der Entspannungspolitik bald auch vielen anderen nicht mehr sympathisch war, ja sogar peinlich erschien. Man sprach von "blindem Antikommunismus".

Tatsächlich aber war es sehender Antikommunismus – Erfahrungswirklichkeit, keine ideologische Voreingenommenheit. Iwan Schmeljow begann nicht als Reaktionär, sein erster Bucherfolg, noch in zaristischer Zeit, war dezidierte Sozialkritik, die Milieustudie eines Kellnerlebens, die schnell berühmt wurde, von Maxim Gorki hochgeschätzt und als Grundwerk des sozialistischen Realismus noch in der Sowjetunion lange, wenn auch mit Retuschen, gedruckt. Es trifft sich gut, dass Der Mensch aus dem Restaurant jetzt ebenfalls wieder in der Anderen Bibliothek vorliegt (310 S., 44,– Euro), glänzend kommentiert und mit erhellendem Nachwort, weil sich damit beobachten lässt, wie die Anklage kapitalistischer Ausbeutungsverhältnisse bei Schmeljow eben nicht zur Unterstützung der kommunistischen Machtergreifung führte – und schon gar nicht zur Hinnahme ihrer Verbrechen als "historische Notwendigkeit", wie die verbreitete Formel lautete.

Vielmehr zeigt sich bei der Lektüre, dass den Autor schon damals dunkle Vorahnungen beschlichen haben müssen bei Beobachtung der ersten Revolutionäre, die sich am Rande des Romans, aber in das Kellnerschicksal verhängnisvoll eingreifend, im Untergrund organisieren. Es ist etwas in der Art der jungen Idealisten, bei ihrer konspirativen Tätigkeit ungerührt das Leben Unbeteiligter zu gefährden – gewissermaßen für den höheren Zweck schon über Leichen zu gehen –, die von der Zukunft wenig Gutes erwarten lässt. Nicht zufällig ist der Kellner, als prototypisch ausgebeuteter Proletarier, kein Anhänger der Revolution, die in seinem Namen ausgeführt werden soll.

Das galt damals als "falsches Bewusstsein" (oder auch "fehlendes Klassenbewusstsein"). Es war aber genau das richtige Bewusstsein, nämlich die realistische Intuition des einfachen Mannes, der Skrupellosigkeit nicht für ein glaubwürdiges Instrument zur Welterlösung hält. In Ansätzen zeichnet sich hier schon Schmeljows späteres, orthodox-christliches Weltbild ab, das ihn heute sogar für manche Anhänger Putins verehrungswürdig macht – die dabei absichtlich oder dümmlich ausblenden, dass der Autor jegliche Gewaltanwendung zu Zwecken höherer Ziele ablehnte, also auch solche patriotischer Art, wie sie zur Rechtfertigung des Ukraine-Kriegs angeführt werden.

Es ist kurioserweise üblich geworden, in diesem verbrecherischen Überfall eine zynische Konstante des russischen Charakters zu sehen, als sei ausgerechnet die Völkerpsychologie von gestern ein Schlüssel zur Welt von heute. Auch hier kommt Iwan Schmeljow gerade recht, insofern er viel plausibler nahelegt, die Konstante in dem Enthemmungserbe der Revolution zu sehen: Man kann durch Blut zum Sieg waten. Wie sich das anfühlt, wie die Opfer, die den Tod auf sich zumarschieren sehen, auch ihre Körper schon aufgeben, gewissermaßen bereits nur noch als Schmutz an den Stiefeln der Revolutionäre begreifen – das ist es, wovon Schmeljow in Der Toten Sonne erzählt.

Keine Politik, keine Erklärung, kein Argument, nur die Revolution als sensorisches Erlebnis der totalen Ich-Kapitulation. Aber gerade dadurch widerlegt der Autor die noch heute beliebte salvatorische Klausel, wonach der Kommunismus doch eine humane Idee sei, die nur am Widerstand ihrer Gegner gescheitert und deshalb entgleist sei. Nein, zeigt Schmeljow, zerstörerisch ist die Idee selbst: Der Mensch, der erfährt, nur ein Mittel (oder Hindernis, je nachdem) auf dem Weg in eine bessere Zukunft zu sein, hört augenblicks auf, Mensch zu sein.

Iwan Schmeljow: Der Toten Sonne. Roman; aus dem Russischen von Christiane Pöhlmann; Die Andere Bibliothek, Berlin 2023; 320 S., 44,– €