Im Gewühl einer Kneipe sitzen drei Personen nebeneinander am Tresen. Die Kamera nimmt sie quer durch den Raum in der Halbtotale in den Blick. Man sieht, wie sich die Frau mit dem einen Mann unterhält, während der andere aus dem Gespräch ausgeschlossen zu sein scheint. Der Lärm der Kneipe schluckt, was die beiden sagen, man sieht nur die Bewegungen ihrer Münder. Aber man sieht noch etwas, was die Interpretationssucht des Betrachters sogleich triggert: Der ausgeschlossene Dritte ist weiß, die zwei anderen sehen asiatisch aus. Sofort beginnt der Zuschauer zu spekulieren. Vielleicht sind die beiden ja Geschwister, und sie stellt den Bruder ihrem weißen Ehemann vor, der wegen der Sprachbarriere nur stummer Teilnehmer ist?

Cut. Seoul, Korea. Ein Junge und ein Mädchen auf ihrem Heimweg von der Schule. Sie sind vielleicht zehn Jahre alt. Der Junge spürt, dass seiner besten Freundin irgendetwas nicht passt, sie ist mürrisch. Er hat einen Verdacht: Vermutlich wurmt es sie, die sonst immer die Klassenbeste ist, dass diesmal er die Topzensur nach Hause gebracht hat. In der nächsten Einstellung sieht man das Mädchen, wie es englische Vornamen durchprobiert. Der Vater schlägt "Leonore" vor, dann könnten ihre Freunde sie Nora rufen. Die Familie plant auszuwandern. Von Seoul nach Toronto. Deshalb die Umtaufung: Um in ein neues Leben aufzubrechen, muss man manchmal den alten Namen ablegen.

Celine Songs Film Past Lives – In einem anderen Leben ist so unaufdringlich-eindringlich, weil er in keinem Moment eine Botschaft abliefern will. Stattdessen bietet der Film Material voll zarter psychologischer Details, die die Spekulationslust des Zuschauers wecken, der bereitwillig sein klischeehaftes Weltwissen zum Einsatz bringt: Natürlich, Korea, dieses Land mit dem Leistungsethos und dem Bildungsehrgeiz! Natürlich, Kanada, die Kompetenzfestung mit ihrer offensiven, aber hochselektiven Einwanderungspolitik, die sich die klügsten Köpfe aus der ganzen Welt holt! Natürlich, Leonore, die Koreaner sind ja ganz verrückt nach klassischer Musik, und in Opern heißen die Frauen häufig Leonore. Und natürlich, Asiaten schlafen ja immer überall sofort ein – wie in der nächsten Szene, in der Nora im Auto auf der Schulter ihres besten Freundes Hae Sung einnickt, nachdem beider Eltern beschlossen hatten, gemeinsam etwas zu unternehmen, bevor sich die Wege ihrer Kinder für immer trennen.

Zwölf Jahre später: Nora (gespielt von Greta Lee) ist inzwischen eine junge Frau und studiert als angehende Theaterautorin in New York, als sie auf Facebook auf ihren alten Schulfreund Hae Sung (Teo Yoo) stößt. Obwohl so viel Zeit vergangen ist, haben die beiden sofort einen Draht zueinander. Für Nora ist es, als melde sich ihre koreanische Vergangenheit zurück, die sie in der Neuen Welt erfolgreich abgestreift hatte. Dank SMS und Skype stürzen sich die beiden hemmungslos in die Distanzkommunikation – weil sie sich an entgegengesetzten Enden der Welt befinden und so gesehen keine reale "Gefahr" lauert, sind ihrem Projektionsspiel keine Grenzen gesetzt. Bis Nora um eine Pause bittet, sie könne nicht dauernd in ihr Smartphone starren.

Noch einmal vergehen zwölf Jahre, in denen Hae Sung, inzwischen Ingenieur, und Nora nichts voneinander hören. Diesmal ist es Hae Sung, der sich bei Nora meldet. Er mache Urlaub in New York, ob man sich sehen könne? Nora ist mittlerweile mit Arthur (John Magaro) verheiratet, einem feinfühligen jüdischen Theaterautor, der sogleich spürt, dass sich hier eine Macht aus der Vergangenheit meldet, der er wenig entgegenzusetzen hat. Wer könne es schon mit dem Zugehörigkeitsgefühl der Herkunft aufnehmen? Verglichen mit dieser Stimme aus der Kindheit, die Raum und Zeit überwinde, sei ihrer beider Geschichte "langweilig".

Mit ihrem Kinodebüt als Regisseurin hat Celine Song ihre eigene Geschichte aufgegriffen. Der Film ist ein psychologisches Kammerspiel, das gänzlich ohne Schlagworte und vermeintlich große Themen auskommt: Weder geht es um Rassismus noch um Migration, nur am Rand um bikulturelle Kommunikation und schon gar nicht um Diversity, auch wenn all diese Themenkomplexe durch die Geschichte hindurchschimmern. Der (schon auf der Berlinale gefeierte) Film erzählt davon, dass es im Leben mehr als eine legitime Sehnsucht geben darf, dass zu einem vollen Leben Zerrissenheit dazugehört – und dass das Leben kein Drehbuch ist, bei dem sich nach klassischen Erzählmustern die Frau irgendwann zwischen zwei Männern entscheiden muss. "In einem Roman", sagt Arthur einmal, "wäre ich der, der zwischen dir und deinem Schicksal steht."

Stattdessen tun die drei etwas, was in Romanen selten passiert: Sie verhalten sich wie Erwachsene, machen keine Szenen, es kommt zu keiner Schicksalswahl. Arthur gibt seiner Frau allen Raum für ihre Wiederbegegnung mit ihrem Schulfreund, auch wenn er in der Kneipe angesichts dieser Vergangenheitsintimität nur schweigend danebensitzen kann – und Hae Song reist am Ende wieder ab, vielleicht in dem reifen Entsagungsbewusstsein, dass eine starke Verbindung ihren Wert behält, auch wenn sie nicht gelebt wird. Aber selbst das wäre schon mehr an Botschaft, als sie dieser Film sich erlaubt, der deshalb so klug, so lebenswahr, so weise und so emotional ist, weil er einfach gar nichts besser weiß, sondern nur sehr genau vom Leben selbst erzählt.