Mildes Herbstlicht liegt auf dieser Musik, und manchmal meint man beim Hören, ein letzter warmer Wind trage sie zu einem herüber, bevor die Nächte nun wirklich lang und kalt werden; von fern hört man Flöten und singende Kinder, es zwitschern Vögel, und eine Hühnerschar gackert. Auf einer Gitarre, einer Zither, einem Hackbrett werden wehe Melodien gezupft und geschlagen; manchmal wird dazu sacht gepfiffen, manchmal erheben sich schwelgende Streicher, und die große Sängerin, die wir so lange vermissten, kündet dazu mit ihrer schönen, verwundeten Stimme von der Schwere und Müdigkeit ihres Herzens. Sie blickt beim Singen tief in sich hinein und weit zurück in der Zeit, sie zittert und verliert doch niemals den Halt. Lives Outgrown heißt das neue Album von Beth Gibbons; es ist ihr erstes mit eigenen Liedern seit 22 Jahren, und es ist 16 Jahre her, dass sie mit ihrer Band Portishead ein Album herausgebracht hat. Zeit spielt keine Rolle in dieser Musik. Und dann wieder doch: Denn die Vergänglichkeit aller Dinge, der Rückblick auf ein gelebtes Leben und das Verschwinden von Erinnerungen und Freunden – das sind die Leitmotive, die Beth Gibbons auf Lives Outgrown besingt.

Fast genau 30 Jahre ist es wiederum her, dass sie als Sängerin die Bühne betrat, mit Dummy, dem ersten Album von Portishead, das im August 1994 erschien. Portishead kamen aus Bristol, im englischen Südwesten, sie hatten sich Anfang der Neunziger inmitten jener dort erblühenden Szene gegründet, deren Musik man später als Trip-Hop bezeichnete: inspiriert von den verschleppten, schwer verhallten Rhythmen des Dub-Reggae und der Breakbeat-Kultur, tief verwurzelt in der Geschichte der karibischen Musik, zugleich der Zukunft zugewandt im Gebrauch der neuesten digitalen Produktionstechniken. Massive Attack, Tricky und Roni Size prägten den "Sound of Bristol", aber Portishead erhoben ihn zu einer popmusikalischen Sprache; und während um sie herum die Produzenten der elektronischen Musik und die tonangebenden Figuren der DJ-Kultur ihre Geschwindigkeit wieder zu steigern begannen bis zu den rasenden Rhythmen des Drum ’n’ Bass, setzten sie auf konsequente Verlangsamung, auf eine Ästhetik des Tastens, der Stille und der Vergänglichkeit.

Dummy: Das war ein unerhörtes Album, ein Solitär von einem Werk, prägend für sein ganzes Jahrzehnt, obwohl oder gerade weil es zu diesem so wenig zu passen schien. In der aufgekratzten, schrill euphorischen Popszenerie der mittleren Neunzigerjahre drosselten Portishead nicht nur das Tempo, sie löschten auch das Licht. Beth Gibbons sang mit melancholischer Stimme zu dem sparsamen Gitarrenspiel von Adrian Utley, und der Produzent und DJ Geoff Barrow untermalte all dies mit schleichenden Beats und mit Samples, die so klangen, als wären sie von vernutzten Vinylschallplatten eingespielt. Es knisterte und knackte, rauschte und britzelte, manchmal waren die Geräusche des Materials dringlicher und lauter als die Klänge, die ihm entrissen wurden. Eine Aura der Nostalgie und der Wärme umflorte diese Musik – wiederum ein Kontrapunkt in einer Epoche, in der CDs als Tonträger vollständig die Vinylschallplatten zu ersetzen schienen; in der das, was man als "normalen" Klang eines Popsongs betrachtete, immer cleaner, klarer, aber auch: kälter wurde. Portishead hingegen feierten den unreinen Klang, die Vergänglichkeit des Vinyls, den Sound der Geschichtlichkeit. So boten sie eine ideale Identifikation für all jene, denen der euphorische, triumphierende, geschichtsvergessene Pop der Neunzigerjahre – und die Gesellschaft, aus der dieser Sound spross – befremdend und bedenklich erschien.

Bei den ersten Konzerten von Portishead stand Beth Gibbons im Dunkeln, gern mit dem Rücken zum Publikum, während die Band die Bühne und den Publikumsraum mit blickdichtem Trockeneisnebel überflutete und auf diesen psychedelische Projektionen warf. Wenn man die Sängerin dann einmal auf der Bühne ausmachen konnte, wirkte sie so verletzlich und zart wie ein gerade aus dem Nest gefallener Vogel. "Who am I, what and why? / ’Cause all I have left / Is my memories of yesterday", sang sie in dem Stück Sour Times aus dem Dummy-Album zum Sample eines Lalo-Schifrin-Stücks aus den späten Sechzigern. Drei Jahre nach dem Debüt erschien das zweite, ähnlich klingende Album Portishead, dann dauerte es elf Jahre bis zum dritten und bisher letzten Album der Band Third – auf dem nun, passend zu den kalt gewordenen Nullerjahren, die Aura der Wärme und der Nostalgie durch einen abstrakten Elektro-Minimalismus ersetzt worden war. Man höre noch einmal Machine Gun, das zentrale Stück auf dem Album: ein Song, der nur von einem knallenden, maschinengewehrartigen Rhythmus getragen wird und einem darauf antwortenden dunklen, Dub-haft verhallten Sample; beide sind so kunstvoll übersteuert und klanglich gekörnt, dass sie nicht wie Musik wirken, sondern eher wie Kerben in einer Soundfläche. Beth Gibbons barmt darüber um Errettung und Heilung, schutzlos, nah an den eigenen stimmlichen Grenzen. Als sie verstummt, läuft der Rhythmus einfach weiter, minutenlang; nichts passiert, außer dass Geoff Barrow die Modulationen verändert, Filter verschiebt und die Hallzeiten dehnt und staucht.

Für Portishead war dies ein Endpunkt, es gab danach keine Aufnahmen mehr, 2013 ging die Band noch einmal auf Tour und stellte ein neues Album in Aussicht. Darauf warten wir aber bis heute, und in den über zehn Jahren, die seither vergangen sind, arbeitete Beth Gibbons nach eigener Auskunft ausschließlich an jenen Liedern, die nun auf Lives Outgrown zu hören sind. In lyrischer Hinsicht schließt sie dabei dort an, wo sie mit Portishead aufgehört hat: "I’m worn, tired of my mind / I’m worn out, thinking of why / I’m always so unsure", sang sie in dem Stück Threads auf dem Third-Album. "Without any question, I tried to begin / Tried to ignore that I might never win / ’Cos my heart was tired and worn", heißt es nun in dem neuen Lied Oceans.

Ganz aus der Zeit gefallen und gerade darin hoch gegenwärtig: Beth Gibbons © Domino Music

In musikalischer Hinsicht nimmt sie wieder jenen Faden auf, den sie vor 22 Jahren auf ihrem ersten Album als Solokünstlerin gesponnen hatte. Out of Season brachte sie 2002 gemeinsam mit dem britischen Musiker und Komponisten Paul Webb alias Rustin Man heraus – auch dieser eine enigmatische Figur, in den Achtziger- und Neunzigerjahren Bassist in der Gruppe Talk Talk, die mit einigen sehr erfolgreichen New-Wave-Hits begann, sich dann aber an eine "freie" Spielart von Pop herantastete, ohne erkennbare Rhythmen und Melodien, dafür mit delikat ausgetüftelten, oszillierenden Arrangements. Für Out of Season entwarf Webb ein trügerisch schlichtes Easy-Listening-Design, bestehend im Wesentlichen aus gedämpfter Orchestermusik mit gestopften Trompeten und "huhu" singenden Frauenchören. Beth Gibbons, gleichwohl, sang zu diesen schlicht gewirkten Gefügen so wandlungsbegabt wie nie zuvor; sie hauchte und gurrte, warf sich mit voller Kraft in ihre Stimme und zog sich im nächsten Moment mit dem ganzen Körper wieder daraus zurück. Und sie machte ihre Stimme selbst zum Material: Sie schickte ihren Gesang durch einen Vocoder, sodass er sich leicht fragmentiert und gepresst anhörte, wie auseinandergenommen und wieder zusammengebaut. Manchmal wurde der Pegel der Stimme auch in den Spitzen gekappt, dann entstand ein weißes, leicht klirrendes Rauschen – als gefröre ihr der Atem in klarer, sonnendurchfluteter Winterluft.

Lives Outgrown hat sie nun mit einem anderen ehemaligen Mitglied von Talk Talk aufgenommen: Lee Harris spielte Schlagzeug in der Band, und an diesem Instrument war er auch auf dem Out of Season-Album zu hören. Für die neuen Songs hat er das Schlagzeug nun aber weitgehend durch eine Vielzahl von Gerätschaften ersetzt, die üblicherweise nicht zum Erzeugen von Rhythmen eingesetzt werden; so kann man es jedenfalls den von ihm verfassten Produktionsnotizen entnehmen. Er klöppelte auf einer Paellapfanne herum, schüttelte mit Erbsen gefüllte Gläser; als Basstrommel benutzte er einen mit Gardinen gefüllten Kasten und als Snaredrum eine mit Kuhfell überzogene Wasserflasche. Der Produzent und Arrangeur James Ford, der als dritter Musiker zu den Aufnahmen hinzukam, schlug mit Löffeln im Saitenkasten eines Klaviers herum wie weiland John Cage, und er spielte außerdem auf einem Vibrafon, einer Kastenzither und einem Mellotron, einem Vorläufer des Samplers aus den Sechzigerjahren, in dem man mit einer Tastatur kurze Tonbänder abspielen kann, auf denen jeweils ein Instrumentenklang aufgenommen ist. Weil die Bänder sich leicht verziehen, wirken Mellotronklänge manchmal leiernd, geisterhaft, ätherisch, verblichen – gewissermaßen das Tonband-Pendant zu den knisternden und knackenden Vinylklängen, die einst die Ästhetik von Portishead prägten.

So ist dieses gesamte Album von schwebenden, leicht aus der Fassung und Form geratenen Klängen geprägt, und auch von Rhythmen, die schon wegen der unkonventionellen Geräte, auf denen sie gespielt werden, immer ein wenig neben der Spur zu liegen scheinen. Auf Lives Outgrown hört man eine Musik der Texturen, in der kein Instrument die Führung übernimmt, sondern in der alles, was man hört, immer leicht schillert und unscharf ist; Beth Gibbons fügt sich mit ihrer Stimme in diese Texturen und arbeitet sich aus ihnen heraus.

Anders als in Out of Season bearbeitet sie ihren Gesang nicht mit elektronischen Mitteln, aber sie doppelt ihn und singt mit sich selbst im Chor. Alles wirkt zugleich spartanisch und reich; man hat nie das Gefühl, einer großen Klangzauberei beizuwohnen. Aber wenn man das Licht löscht und alle anderen Quellen der Ablenkung abstellt und insbesondere, wenn man diese Musik über Kopfhörer hört, glaubt man sogleich, sich mitten in einem Raum zu befinden, in dem Menschen sich begegnen, um miteinander zu spielen – im freien und schönen Sinne des Wortes Spiel –, und in dem sie mit Instrumenten und Gegenständen arbeiten, deren Gebrauch ihnen auf inspirierende Weise unvertraut ist. Und man hört, wie Beth Gibbons beim Singen zwischen diesen spielenden Menschen umherläuft und die rechte Position zu ihnen zu finden versucht und auch den rechten Ton für ihre Stimme, die sich aus dem Geflecht der Klänge erhebt und dann wieder zurücksinkt. Und wenn sie sich erhebt, singt Beth Gibbons die schönsten und herzzerreißendsten Melodien, die man sich vorstellen kann.

Wie am Beginn ihrer Karriere wirkt sie ganz aus der Zeit gefallen und gerade darin hochgegenwärtig. In vielerlei Hinsicht fügt Lives Outgrown all die verschiedenen Fäden zusammen, die sie in ihrem Leben gesponnen hat, mit wechselnden musikalischen Begleitungen, mit knisternden Samples, elektronischen Beats, mit schwelgerischen Arrangements und nun mit einer Instrumentierung, die weit in die Vergangenheit weist und doch eine Musik erschafft, die nicht nostalgisch ist, sondern die so klingt wie nichts anderes, was man in der Gegenwart zu hören bekommt. Beth Gibbons singt über das Älterwerden und über die Last der Jahre, über den Verlust von Menschen, die sterben oder die sich im Leben von einem entfernen, "the burden of life ... just won’t leave us alone" heißt es an einer Stelle. Aber bei aller Verstricktheit in Trauer und Zweifel, die aus ihren Texten klingt, spricht aus ihrer Musik heute wie stets eine andere Sprache: Nach 30 Jahren befindet sich Beth Gibbons auf dem Höhepunkt einer Kunst, die von Anfang an das Leben feierte und den Willen zu überleben und die bei allem Sentiment für die Vergänglichkeit immer eine Kunst des Werdens war und der Neuerfindung, eine Kunst, die in das Offene strebt.

Tour: 27.5. Paris, 28.5. Zürich, 30.5. Barcelona, 31.5. Lyon, 2.6. Berlin, 3.6. Kopenhagen, 5.6. Utrecht, 6.6. Brüssel, 9.6. London, 11.6. Edinburgh