Eines der größten Rätsel der Menschheit entsteht in den Menschen selbst. Meistens nachts. Hier schreiben sieben Autorinnen und Autoren darüber, wie Künste und Philosophie unsere Träume deuten. Dieser Artikel ist Teil von ZEIT am Wochenende, Ausgabe 20/2024.

Ist das Leben vom Traum zu trennen? Von Iris Radisch

Was ist Wahrheit, was ist nur Traum? "Ist mir mîn leben getroumet, oder ist ez wâr?", fragt der Dichter Walther von der Vogelweide und weist damit auf eine beunruhigende Problematik hin: Die Wahrheit ist nicht annähernd so präzise messbar wie der Alkoholspiegel im Blut. Sie liegt womöglich ganz im Auge des Betrachters. Umgekehrt weiß der Träumer nicht, dass er träumt, sodass nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen ist, dass auch das Leben nur ein langer Traum ist, von dem man irgendwann unsanft erwacht. Über das Verhältnis von Traum und Wirklichkeit ist viel geschrieben worden. Doch konnte die Grundsatzfrage des Walther von der Vogelweide, ob das Leben geträumt oder wahr ist, in den 800 Jahren, die vergangen sind, seitdem er sie in seiner Elegie aufgebracht hat, bisher nicht abschließend geklärt werden.