Der Bildersturm tobt, doch die Deutschen hatten Glück im Unglück. Nach dem Ersten Weltkrieg hatten ihnen die Sieger ihre spärlichen Kolonien genommen. Ihre kurze imperiale Karriere war 1919 vorbei – zu wenig Zeit, um massenhaft Kolonialhelden zu meißeln. Nach dem Zweiten Weltkrieg konnte die Bundesrepublik ihr Wirtschaftswunder genießen, derweil sich die Kolonialmächte vergebens aufrieben, um ihre Besitztümer in Afrika und Asien zu retten. Demnach verdankte es Deutschland ausgerechnet den Nazis, dass es heute kaum anstößige Denkmäler gibt.

Schon Ende 1933 dekretierte Hitler: keine Führer-Standbilder und -straßen. Ob er ahnte, was ihm blühen würde? Jedenfalls regierte im Krieg der Metallmangel und so wurden nicht nur Luxemburg und Liebknecht eingeschmolzen, sondern auch Wilhelm und Bismarck. Den Rest der Entsorgung vollzogen danach die Alliierten in ihren Besatzungszonen.

Nun geht es nicht nur den übrig gebliebenen Bismarck-Statuen an den Sockel, sondern auch "alten weißen – oder weisen – Männern" wie Kant und Hegel, die andere "Racen" verachteten. Die Zitate über "Neger", "Rote", Hindus, Juden sind inzwischen bekannt; sie handeln von deren Verblödung oder Bosheit. Hochkultur sei allein die Leistung von Weißen. Also runter vom Piedestal mit den Monumenten rassistischer Arroganz!

Dann wird alles gut? Nein, dann beginnen die Fragen, welche die reine Empörung nicht beantworten kann.

Beginnen wir mit einer scheinbar polemischen. Wieso werden nicht Marx oder Luther gestürzt – der eine ein fürchterlicher, der zweite ein mörderischer Antisemit? Beide waren Religionsführer, säkular oder christlich, und hinter ihnen versammelten sich Abermillionen von Gläubigen. Mit dieser Gemeinde wollen sich die Savonarolas der Geschichtsreinigung nicht anlegen. Dagegen ist die Zahl der Kant- und Hegel-Freunde überschaubar.

Die Folge ist moralische Selektivität, vulgo: Scheinheiligkeit: Kopf ab hier, nicht aber dort. Ebenso wenig lässt sich durchhalten: Alle müssen bleiben, ganz gleich wer. In den Worten von Präsidenten Macron: "Die Republik wird nichts in unserer Geschichte ausradieren, keine Statuen abreißen." Dann müsste im Nachbarland Belgien auch das Standbild des Königs Leopold II. bleiben, das gerade gekippt worden ist. Diesem Kongo-Knechter lässt sich nichts Gutes nachsagen. Leopolds Schreckensregiment sind in Zentralafrika Millionen zum Opfer gefallen, um seine Privatkasse zu füllen. Nachzulesen in Joseph Conrads Herz der Finsternis.

Luther, Kant und Hegel sind moralisch wie historisch eine andere Kategorie. Wenn wir sie ehren, dann nicht wegen ihres Rassen- oder Judenhasses. Sie alle haben Türme unserer Zivilisation gebaut. Luther als Reformator, der die Herrschaft einer korrupten Kirche brach und dem Gläubigen an der Priesterschaft vorbei einen eigenen Weg zu Gott öffnete. Ohne Kant und Hegel wäre die moderne Philosophie ein Waisenkind. Ein Flecken im Gesicht rechtfertigt nicht Enthauptung.

Gleiches gilt für Thomas Jefferson und Winston Churchill, die jetzt in den USA und England in den Sturm geraten sind. Ja, Jefferson hatte 700 Sklaven; das wissen wir seit 250 Jahren. Amerika verehrt ihn freilich nicht als Sklaventreiber, sondern als Vater einer Verfassung, die den Gesinnungshelden von heute die Freiheit gewährt, ihn zu entwürdigen. Der Mann symbolisiert Aufklärung, Gleichheit und Religionsfreiheit. Muss als Nächstes das Jefferson Memorial in Washington weg, ein Schrein der Nation?