Ein Paradies rückt nach rechts – Seite 1

Das Gespräch ist kurz und unfreundlich. "Europa?", fragt der Mann in Jeans und tadellos weißem Hemd, "es erstickt uns." Dabei greift er sich mit der rechten Hand an die Gurgel. Der etwa 50-Jährige lehnt an der Fahrertür seines silbernen Sportwagens, er kommt nach einem langen Tag, wie er sagt, von seinem IT-Unternehmen nach Hause. Am Sonntag will er zum ersten Mal einem rechtsextremen Kandidaten bei der EU-Wahl seine Stimme geben. 

"Wieso wohl?", erwidert er schnippisch auf die Frage nach seinen Gründen. Weil er sich in der Altstadt von Nizza, 15 Kilometer südlich von hier, unsicher fühle, weil er so viele Steuern auf das Erbe seiner Eltern zahlen müsse, weil er Präsident Emmanuel Macron, den er einst gewählt habe, nicht mehr vertrauen könne, die "Chaoten" von der Straße zu bekommen. Und weil er, ein Satz der in diesem südfranzösischem Ort noch häufiger fallen wird, "auch einmal jemand Neues ausprobieren will". Per Fernbedienung und grußlos schließt er das rund drei Meter hohe gusseiserne Tor zu seinem Grundstück.

Wer sich fragt, warum bei der EU-Wahl die rechtsextreme Fraktion in Brüssel auch von reichen Dörfern gepuscht wird, von denen also, die zumindest finanziell zu den Gewinnern der bisherigen Politik gehören, findet in Aspremont einige Antworten. 400 Meter über der Metropole Nizza leben hier 2.000 Menschen. Im historischen Zentrum schlängeln sich pastellfarbene Häuser den Hügel hinauf, an die Gassen mit Natursteinmauern grenzt eine Apotheke, eine Brasserie, eine Postfiliale und ein kleiner Lebensmittelladen. Die Grundschule nimmt jedes Jahr mehr Schülerinnen und Schüler auf, die kurvigen Zufahrtsstraßen zum Dorf sind zugebaut. Je ungetrübter der Blick auf das Meer, desto höher sind die Zäune und desto luxuriöser die Villen. In Aspremont zu bauen, das können sich nur noch Millionärinnen und Millionäre leisten.

Hier zirkulieren Tesla S und Porsche Cayenne, sie werden in Garagen abgestellt, so breit wie Reihenhäuser. Zu Fuß ist niemand unterwegs, und die meisten, die ihre Autos rangieren, wollen nicht über das anstehende EU-Votum sprechen. Es gelte immer noch das Wahlgeheimnis, sagt eine Frau mit Dior-Sonnenbrille, auch wenn es "keine Schande mehr ist, für Le Pen zu stimmen". Andere sagen, wie der IT-Nachbar zuvor, die Rechtsextremen könnten auch nicht miserabler regieren als die bisherigen Politiker. Was so schlecht an den traditionellen Parteien sei? Die hohen Steuern, sagen mehrere, die Unsicherheit auf den Straßen andere. Sie wirken eher gelangweilt von den Fragen, als seien die rechten Erfolge keine Überlegung mehr wert. Ab und zu huschen in diesem Viertel Dienstmädchen und Gärtner aus den Seitenpforten, viele haben vermutlich nicht europäische Wurzeln. 

Wenn am Sonntag mit Jordan Bardella allen Umfragen nach ein Franzose den größten rechtsextremen Sieg bei den EU-Wahlen einfahren wird, hat das kleine Dorf Aspremont seinen Anteil daran. Der Rassemblement National (RN) kann hier auf viel Unterstützung zählen, wie in vielen reichen Gemeinden in Südfrankreich. In aktuellen Erhebungen liegt der Ziehsohn von Marine Le Pen bei rund 33 Prozent – ein positiver Rekord für die Partei und ein Minusrekord für die etablierten Parteien, allen voran für Präsident Macron. Seine Fraktion wird am Sonntag voraussichtlich nur halb so viele Französinnen und Franzosen überzeugen wie die Le-Pen-Partei. Ein Grund: Der RN zieht zwar immer noch mehrheitlich Menschen mit geringem Einkommen an, aber zunehmend auch Besserverdienende: Jeder fünfte leitende Angestellte, die höchste Einkommenskategorie in Umfragen, wird rechtsextrem wählen.

Große Mehrheit für Le Pen

Die Frage ist, warum? Und warum gerade hier? An diesen Junitagen wirkt Aspremont so friedlich und urfranzösisch wie ein Postkartendorf aus früheren Jahrzehnten. Aus den Balkonkästen ranken bunte Blumen, die Leute grüßen sich, die Bürgersteige sind sauber. Nicht einmal kaputte Bushaltestellen oder aggressive Graffiti finden sich. Und doch gaben hier bei der vorigen Präsidentschaftswahl 51 Prozent Marine Le Pen ihre Stimme. Der Politikerin also, die in jedem Interview den Untergang Frankreichs beschwört, die behauptet, Frankreich werde von Migration und Kriminellen bedroht und dass es dem Land noch nie so schlecht gegangen sei wie heute. Bislang zog das vor allem in den armen Arbeiterstädten Nordfrankreichs, aber nun eben auch in reichen Städten am Mittelmeer. Selbst in so kosmopolitischen Orten wie Cannes oder Saint Tropez.

Noch vor wenigen Jahren schämten sich die Leute, wenn sie Le Pen wählten und behielten es lieber für sich. Heute ist das anders. Das kann auch Matthieu Cassella bestätigen, der an seinem Tresen sicher die meisten Gespräche in Aspremont hört oder kommentiert: Er besitzt die einzige Bar im Ort, im Nachbardorf betreibt er noch ein erfolgreiches Restaurant – wohlhabend darf man Cassella getrost nennen. Während er starke Espressi, Zigarettenschachteln und Zitronenlimonaden über den Tresen schiebt, erzählt auch er ohne Umschweife von seiner Vorliebe für Le Pen.

Urfranzosen am Tresen

Er sorge sich um sein Land, mit Frankreich gehe es bergab, sagt Cassella. Wie er darauf komme, ausgerechnet in diesem idyllischen Dorf? "Ich sehe noch den Unterschied – die Leute in den Großstädten haben sich an das Heruntergekommene gewöhnt." Heruntergekommen sei beispielsweise die Bahnhofsgegend in Nizza, dort werde tagein, tagaus mit Drogen gehandelt. Und es werde nicht mehr lang dauern, dann komme die Kriminalität auch hoch zu den Dörfern. Außerdem seien die Urfranzosen plötzlich in der Unterzahl, seine Söhne seien im Rugbyclub verhöhnt worden, weil sie die einzige Weißen gewesen seien.

Die Erzählung von den angeblich unterdrückten Urfranzosen widerspricht allen Studien, nach denen eindeutig Menschen mit Zuwanderungsgeschichte benachteiligt sind. In Frankreichs rechten Nachrichtensendern wird sie dennoch häufig wiederholt. Auch in der Bar Saint-Claude laufen an diesem Nachmittag stundenlang Bilder von Drogenrazzien und verängstigten Passanten über den Bildschirm an der Wand.

Verbittert ist Cassella über Macron. Am Tag der Eröffnung seiner Bar habe der Präsident den Covid-Lockdown verhängt. Und weil er noch keine Einnahmen vorweisen konnte, habe er keine Entschädigung erhalten. Sowieso sei Macron, davon ist Cassella überzeugt, von der Finanzindustrie geschickt, um die Großkonzerne zu bereichern. "Der kam direkt von Rothschild ins Amt", sagt der Gastronom. Gut reden, das könne Macron ja, aber er falle nicht auf dessen schöne Worte herein. Die beiden Kaffeetrinker am Tresen nicken zustimmend, einer haut mit der Hand auf die Platte und ruft: "Mais oui!" Einig sind auch sie sich, dass jemand Neues ausprobiert werden müsse. Linke und rechte Parteien, alle seien enttäuschend – nur die Marine, die könne doch mal zeigen, was sie drauf habe.

Es fällt schwer, Menschen im Dorf zu treffen, die nicht die Meinung vom Tresen teilen. Viele erzählen davon, wie es bergab gehe, die meisten verweisen auf angeblich gefährliche Ecken in Nizza. Dabei ist die Nachbarstadt laut offiziellen Zahlen zur Kriminalität nicht unsicherer geworden – beispielsweise wird seit vielen Jahren in weniger Häuser eingebrochen, weniger Autos werden geklaut, weniger Menschen ausgeraubt und mit einer Waffe bedroht. Zugenommen haben Körperverletzungen, vor allem in der Familie, und sexuelle Übergriffe. In einem aber haben die Dorfbewohner recht: Die Region ist berühmt für ihre korrupten Politiker. Der letzte Bürgermeister von Aspremont muss sich mittlerweile wegen Vetternwirtschaft verantworten, und auch einige seiner Kollegen aus den reichen Küstenstädten stehen inzwischen vor Gericht. 

"Der schönste Ort der Welt"

Im sorgfältig bepflanzten Garten von Charlotte Mounier sind diese hässlichen Affären und der Pessimismus weit weg. Sie sei die gute Seele des Dorfs, so hatten einige Passanten geschwärmt. Seit 30 Jahren kümmert sie sich um die wechselnden Ausstellungen in der Chapelle Sainte-Croix, ebenso ehrenamtlich verkauft sie auf Dorffesten Würstchen und Pommes Frites, sie organisiert Musikabende. "Für mich ist hier der schönste Ort der Welt. Aber manche sind vor lauter schlechter Nachrichten aus anderen Ecken der Welt blind dafür geworden", sagt Mounier, die alle nur Charlotte nennen.

Sie ist 93 Jahre alt, die braunen Augen funkeln und ihr warmherziges Gesicht verrät nichts von der harten Disziplin, die sie sich selbst abverlangt. Als sie vor einem Jahr an Brustkrebs erkrankte, habe sie ihre Kinder erst nach der Operation aus dem Krankenhaus angerufen, sie sollten möglichst wenig davon erfahren. Sie wusste ja, sagt sie, dass alles gut gehen werde. Immer Optimistin. Und diese Zuversicht vermisst sie in den jüngeren Generationen. Sie lebten doch gut hier, schauen Sie doch nur, wie schön es hier ist, sagt sie immer wieder.

Auf der Panoramaterrasse dreht sich Charlotte einmal im Kreis, sie sieht die Küste von Nizza, die Pinienwälder der Seealpen und auch ihr Dorf. Frei sei man hier, sagt sie. Und diese Freiheit habe sie stets gelebt. Etwa als sie mit 88 endlich nach New York flog; ihr Mann erfuhr das fünf Tage vorher, die Tickets hatte sie schon gekauft. Sie habe schon immer in diese wahnsinnig schöne Stadt gewollt, in die großen Ausstellungen, zur Fifth Avenue, und schon immer habe sie allein dahin reisen wollen. Aber dann sei sie doch wieder am liebsten in ihrer Kapelle und hier in ihrem Garten, wo sie ständig die Mauer und die Fensterläden neu streicht, von blau zu rot zu ockerfarben, und wo ein Schwimmbadstaubsauger leise im Wasser gluckst.

Sie redet nicht gern über Politik, aber die Rechten zu wählen, das käme für sie nicht infrage. "Ich sage den Besuchern in der Kapelle immer: Meine Künstler kommen aus allen Ecken der Welt. Wir Erdenbürger brauchen einander." Das hätten die Menschen vergessen, weil sie sich nicht mehr begegneten, erst recht nicht die Millionäre – die nähmen nie an den Festivitäten teil. Charlotte ist überzeugt, dass ein aktiveres Dorfleben rechte Parteien schwächen könnte. Und früher sei eben viel mehr los gewesen, sie hätten italienische, spanische und schottische Tanzabende veranstaltet, selbst Theater gespielt und gelacht bis zum Morgengrauen.

"Die Menschen haben Angst"

Charlotte holt Fotos und Zeitungsartikel hervor, alle sorgfältig in Folienalben einsortiert, auf einem ist sie als junge Frau in der Londoner U-Bahn zu sehen, mit blondem Pony und schwarzer Lederhose, auf einem anderen lachend vor einem Segelflugzeug, in das sie ein wohlhabender Nachbar einst eingeladen hatte. Sie bereue nichts im Leben, außer dass sie ihren 60. Hochzeitstag nicht mehr feiern konnte, weil ihr Mann kurz zuvor im vergangenen Jahr starb. "Aber wir hatten 59 schöne Jahre."

Charlotte sieht alles positiv, auch die Erfolge des Rassemblement National bereiten ihr keine Sorgen. Marine Le Pen habe sich beruhigt, "sie wird uns schon nicht den Hals abschneiden", sagt sie und fährt sich mit der Hand über die Gurgel. Sie kenne aber nicht mehr viele Leute, die noch so viel Lebensfreude hätten wie sie. Zum ersten Mal an diesem sonnigen Nachmittag wirkt sie tatsächlich etwas betrübt und schaut auf den Rasen. Nur Sekunden später richtet sie sich wieder auf. 

Die kerzengerade Charlotte, die verängstigten Barbesucher, die missmutigen Villenbesitzer – es gibt eine Person in Aspremont, die ihre Körperhaltungen genau studiert und auf ihre Art versucht, "die Stimmung zu heben". Annick Cousy Moeneclaey gibt täglich Yogastunden, jedes Jahr kommen mehr Menschen zu ihr. Wie so häufig nach der Arbeit trinkt sie noch einen Kaffee im Saint-Claude, auch sie hat ihre Theorie, warum hier so viele rechtsextrem wählen: "Die Menschen haben Angst", sagt Moeneclaey. Angst, ihre Idylle zu verlieren. 

Das spüre sie auch in ihren Kursen. Die Leute könnten nicht mehr tief einatmen, weil ihr Brustkorb verengt sei. Andere könnten nicht mehr fest auf dem Boden stehen. Und spätestens seit Corona hätten sie auch das Vertrauen in den eigenen Körper verloren. Sie gingen beispielsweise nicht mehr so tief in eine Dehnung, wagten es nicht mehr, einbeinige Posen einzunehmen, aus Angst umzufallen. Wie Charlotte glaubt auch Moeneclaey, dass die Lebensfreude abgenommen habe. Sie selbst lebt erst seit wenigen Jahren in Aspremont, nachdem sie ihre Karriere als Tänzerin beendet hatte.

Wenn Atemübungen nicht mehr helfen

Am Anfang sei es schwer gewesen in diesem Dorf, sagt Moeneclaey, die Bewohner hätten sie nicht gegrüßt. "Viele Menschen hier haben keinen Kontakt mehr zu ihren Wurzeln – deshalb lehnen sie Menschen mit fremden Wurzeln ab." Sie baue daher besonders viele stehende Übungen ein, damit die Menschen barfuß einen festen Stand erlernten, auch Atemübungen müsse sie nun viel länger ausführen, bis sich alle Lungen korrekt füllen könnten. "Wenn es jemandem nicht gut geht, verspannt sich der Körper."

Seit der Pandemie seien viele deprimiert, sagt Moeneclaey, auch hätten rassistische Äußerungen zugenommen. Letztens habe eine Kursteilnehmerin beiläufig gesagt, sie suche immer den Spielplatz mit dem geringsten Anteil ausländischer Familien auf. "Das hat mich bestürzt", sagt Moeneclaey. Sie ist in einem Hochhaus in Nizza groß geworden, verlor früh den Vater, die Mutter kam als Näherin spät nach Hause, erzählt sie. Häufig habe sie nach der Schule bei den marokkanischen Nachbarn klingeln und dort essen können. Das wäre heute nicht mehr möglich, glaubt sie. 

Über die Menschen im Dorf sagt Moeneclaey: "Alle sind angespannt und verbarrikadieren sich." Tatsächlich sind in Aspremont ganze Straßen privatisiert und mit einem Gatter versehen, selbst die Schulhöfe umziehen zwei Meter hohe Mauern. "Wenn Le Pen an die Macht kommt, wird sie das ganze Land einsperren", prophezeit Moeneclaey. Sie hält es für wahrscheinlich, wenn sie an die Stimmung in ihren Kursen denkt. Und gegen große Ängste, sagt sie, helfen auch keine Atemübungen mehr.