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Theater Matthes über Gosch

Wie gähnt man Tschechow richtig?

Der 65 Jahre alte Jürgen Gosch ist als einziger Regisseur mit zwei Arbeiten zum Theatertreffen eingeladen: "Die Möwe" und "Hier und jetzt". Einer der besten Kenner von Goschs Kunst ist Ulrich Matthes, der in drei Inszenierungen von Gosch spielt. Mit ihm sprach WELT ONLINE über Goschs Arbeitsweise.

WELT ONLINE: Herr Matthes, Sie spielen aktuell in drei Inszenierungen von Jürgen Gosch mit, unter anderem in „Wer hat Angst vor Virginia Woolf“ und „Onkel Wanja“. Zwei sehr unterschiedliche Stücke. Hat sich das in der Probenarbeit niedergeschlagen?

Ulrich Matthes: Jürgen Gosch bewundert Tschechow. Ich hatte das Gefühl, dass er deswegen bei den Proben zu „Onkel Wanja“ genauer und eingreifender war als bei „Virginia Woolf“. Das hat Gosch als gut gemachtes Gebrauchsstück angesehen. Die Raffinesse von Albee ist ihm manchmal schon auf die Nerven gegangen, die pingeligen Regieanweisungen hat er eher belächelt. Bei Tschechow hingegen war sein Bedürfnis, diesem genialen Autor gerecht zu werden, immens groß. Das war spürbar in der Art von nicht nachlassendem Ehrgeiz, dem so weit wie möglich nahe zu kommen.

WELT ONLINE: Wenn also bei Tschechow steht, Wanja gähnt, dann gähnen Sie?

Ulrich Matthes: Zum Beispiel. Gosch hat jede Regieanweisung von Tschechow ernst genommen. Und versucht auszuloten, was möglich ist, was nicht. Wir Schauspieler haben versucht, sie umzusetzen. Und gleichzeitig – und deshalb liebe ich die Proben mit Gosch so –, haben wir ein enormes Maß an Freiheit. Trotzdem hat er sich, ich sage das jetzt mit einem ironischen Augenzwinkern, weil dieses Wort so abgenudelt ist, durchaus um „Werktreue“ bemüht.

WELT ONLINE: Gähnen Sie denn immer noch an der gewünschten Stelle?

Ulrich Matthes: Ich gähne tatsächlich nach wie vor, aber ich nehme mir die Freiheit, dann zu gähnen, wenn ich den Impuls dazu verspüre (lacht). Die Art des Gähnens war wichtig. Ein extremes Gähnen. Er wollte uns im 1. Akt so „schmuddelig“ wie möglich. Deshalb sind auch so Sachen entstanden wie das Spucken von Sonnenblumenkernen…

WELT ONLINE: …und die Szene, in der Sie Gurken essen und dabei reden?

Ulrich Matthes: Ich gebe mir Mühe, dass der Zuschauer den Text trotzdem versteht. Ich glaube, dass gelingt mir auch. Das präzise Sprechen ging Gosch wohl eher auf die Nerven. Es sollte sich mehr verschludern, deshalb sollte ich etwas essen. Ich hab’ mir dann gewünscht, dass es Gürkchen sind. Die esse ich nämlich sehr gern – und übrigens auch in „Virginia Woolf“. Der arme Jens Harzer muss Ölsardinen essen – dagegen sind meine Gürkchen doch richtig harmlos!

WELT ONLINE: Stellt Gosch eigentlich am Anfang sein Konzept vor?

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Ulrich Matthes: Nein. Das verweigert er total. Darüber macht er sich eher lustig. Die Suche nach größtmöglicher Realität entsteht oft im Augenblick der Probe selbst. Er fordert uns auf, wirklich alles auszuprobieren, was einem so durch den Kopf geht – und trotzdem gibt es eine deutlich spürbare Vorstellung von Gosch im Raum.

WELT ONLINE: Gosch ist kein Freund von Aktualisierungen?

Ulrich Matthes: Er käme nie auf die Idee, theatralische Stoffe bewusst ins Heute zu holen. So nach dem Motto: das ist jetzt Hartz-IV oder das sind jetzt Nazis. Man kann ein Stück auch zu Tode interpretieren. Gosch überlässt es dem Zuschauer, sich seine eigenen Gedanken zu machen, findet diese Bevormundung, die in manchen Konzepten besteht, richtig doof. Das unterfordert doch manchmal die Fantasie der Zuschauer. Ich bin da ganz seiner Meinung.

WELT ONLINE: Wie läuft die Probenarbeit so?

Ulrich Matthes: Beim ersten Mal trifft man sich und redet übers Bühnenbild. Liest ein bisschen im Stück, er hört zum ersten Mal den Text von den Schauspielern. Es geht auf die Probebühne – und wir fangen an zu spielen. Wir haben uns ja auch unsere Gedanken gemacht. Er erwartet von uns, dass wir wagemutig mit dem Text umgehen, dass wir uns trauen, über die eigenen Grenzen hinauszugehen. Auch Fehler zu machen. Man wird in die eine Richtung gestupst, dann stupst man sich selber in eine andere Richtung. Aus diesem reinen, konzeptionsunbelasteten Spiel entstehen dann die verrücktesten Sachen. Die werden mitunter verworfen, oder nach Wochen wieder vorgeholt. So ruckelt es sich einer Premiere entgegen, die eher als eine Art Übergangspunkt gesehen wird.

WELT ONLINE: Die Inszenierung soll sich weiterentwickeln?

Ulrich Matthes: Ja. Zum Beispiel in „Im Schlitten Arthur Schopenhauers“. Dort spiele ich die Rolle anders als zur Premiere. Das ist bei „Wanja“ und „Virginia Woolf“ nicht so, en detail verändert es sich von Vorstellung zu Vorstellung schon deshalb, weil wir mit Lust aufeinander reagieren. Den Impulsen nachgeben. Aber das beschädigt die Aufführung nicht, im Gegenteil, das hält sie frisch.

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WELT ONLINE: Wie ist die Atmosphäre bei der Erarbeitung der Inszenierung?

Ulrich Matthes: Es herrscht auf den Proben ein offener, freundlicher, den Schauspielern zugewandter Grundton. Gegenseitiger Respekt. Er wird fast nie laut. Das empfinde ich als sehr angenehm – eigentlich als selbstverständlich.

WELT ONLINE: Die Schauspieler siezen sich mit Jürgen Gosch?

Ulrich Matthes (lacht): Ja. Da er älter ist, müsste er uns das Du anbieten. Da er das aber nicht tut, sage ich Herr Gosch. Und er sagt Uli – und Sie. Das ist irgendwie lustig. Zwischendurch dachte ich mal, es wäre schön, wenn ich ihn duzen könnte. Aber mittlerweile käme mir das eigenartig vor, Jürgen zu ihm zu sagen. Das ist Herr Gosch. Vielleicht äußert sich darin auch eine Scheu vor allzu großer Privatheit.

Informationen zum Theatertreffen hier.

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