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Zweiter Weltkrieg Quedlinburger Domschatz

„Fragt mich nicht, wie ich daran gekommen bin“

Der Quedlinburger Domschatz zählt zu den wertvollsten Sammlungen des Mittelalters. Im April 1945 verschwand er auf mysteriöse Weise. Seine Wiederentdeckung wurde zu einem Thriller, der bis nach Texas führte. 1993 kehrten die Pretiosen zurück.
Freier Autor Geschichte
Joe Meador (r.) stahl unter seiner Uniform Preziosen aus dem Quedlinburger Domschatz (Detail l.) Joe Meador (r.) stahl unter seiner Uniform Preziosen aus dem Quedlinburger Domschatz (Detail l.)
Joe Meador (r.) stahl unter seiner Uniform Preziosen aus dem Quedlinburger Domschatz (Detail l.)
Quelle: U.S. Army Photo/Domschatz Quedlinburg

Die „Monuments Men“ der US-Armee, die Spezialtruppe, die im Zweiten Weltkrieg zahlreiche Kunstwerke vor der Vernichtung rettete, sind längst ein Mythos. Zuletzt hat ihnen George Clooney mit seinem gleichnamigen Film von 2014 ein Denkmal gesetzt. Zugleich sorgt die Jagd auf Schätze, die am Ende des Krieges verschwanden – sei es in Panzerzügen, Seen, Höhlen oder dunklen Kanälen – auch Jahrzehnte danach noch immer für Gerüchte, aus denen schnell Schlagzeilen werden oder zumindest popkulturelle Märchen wie die Abenteuer von Indiana Jones.

Eine dieser Geschichten ging im September 1993 glücklich zu Ende. Es war die Suche nach dem Quedlinburger Kirchenschatz, einem der bedeutendsten des europäischen Mittelalters. Auch in seiner Odyssee ab 1945 spielten Amerikaner eine Hauptrolle. Allerdings ging es darin weniger um eine offizielle Rettungsmission, sondern um ein Unternehmen, in dem sich kriminelle Gier, kunsthistorisches Staunen und beharrliche Spurensuche zu einem Thriller verbanden, der am Ende sogar hohe deutsche und amerikanische Stellen herausforderte.

Das Damenstift mit Kirche über Quedlinburg zählt zum Weltkulturerbe der Unesco
Quelle: picture-alliance / DUMONT Bildarchiv

Quedlinburg Mitte April 1945. Während die Rote Armee ihren Sturm auf die Reichshauptstadt Berlin vorbereitete, inspizierte der Stadtarchivar ein letztes Mal die Kisten, in denen die Kunstwerke aus der Quedlinburger Stiftskirche verpackt und bereits ab Sommer 1942 zum Schutz vor alliierten Fliegerbomben zunächst in den Tresorraum der städtischen Sparkasse und später in die nahe Altenburg-Höhle ausgelagert worden waren. Es handelte sich um 63 Preziosen von unschätzbarem Wert, allen voran das Servatiusreliquiar, der Heinrichskamm und das Samuhel-Evangeliar, eine Prachthandschrift aus dem 13. Jahrhundert.

Dass das etwa 20.000 Einwohner zählende Städtchen am Nordostrand des Harz zu diesem Schatz kam, hängt mit der Gründungsgeschichte Deutschlands zusammen. Hier soll der Legende nach der Sachsenherzog Heinrich 919 von seiner Krönung zum König des Ostfränkischen Reiches erfahren haben, das sich unter seiner Dynastie, den Ottonen, zum Regnum teutonicum wandelte. Er machte Quedlinburg zum Memorialort seiner Familie, die auch nach seinem Tod hier regelmäßig das Osterfest feierte.

Entsprechend wertvoll waren die Reliquien und ihre prachtvollen Hüllen, mit denen die Ottonen ihren zentralen Erinnerungsort ausstatteten. Das weckte beizeiten Begehrlichkeiten. So ließ Napoleons Bruder Jérôme Bonaparte 1807 die Preziosen nach Kassel schaffen, von wo aus sie nach der Niederlage des Kaisers in den Besitz der evangelischen Gemeinde zurückkehrten. Das blieb er auch, als SS-Führer Heinrich Himmler ab 1936 daranging, die Kirche über dem Grab seines königlichen Namensvetters und Idols in eine nazistische „Weihestätte“ mit Hakenkreuzen, SS-Fahnen und romanisierenden Umbauten zu verschandeln.

Der Stollen, in dem der ausgelagerte Domschatz samt anderer Werke Zuflucht fand, erwies sich für die wertvollen Handschriften jedoch als gefährliche Umgebung. Lange hatte die Höhle nämlich einem Pilzzüchter als Anbaustätte für Champignons gedient. Um die Stücke vor der Feuchtigkeit zu schützen, wurden sie aus den hinteren Bereichen an den Ausgang geholt, wo sie regelmäßig gelüftet werden konnten, zugleich aber auch leichter greifbar waren.

Reliqienschrein aus dem Domschatz in Quedlinburg
Quelle: picture-alliance/ ZB

Als sich im April 1945 amerikanische Truppen Quedlinburg näherten, erhielten zwei Senioren, die das Glück gehabt hatten, nicht im Volkssturm verheizt zu werden, eine Pistole und den Auftrag, die Kisten zu bewachen. Damit begann das Rätselraten. Denn „was mit dem Inhalt nach Einrücken der GIs am 19. April geschah, war Jahrzehnte ungeklärt“, sagt Elmar Egner, leitender Kurator des Domschatzes. Sicher ist nur, dass der Stadtarchivar bei seiner nächsten Inspektion im Mai 1945 die geplünderten Kisten entdeckte, aus denen zwölf Stücke fehlten. Kurz darauf lösten sowjetische Besatzungstruppen die GIs ab.

Zeitzeugen mutmaßten, dass der Schatz von der SS verschleppt, von örtlichen Nazi-Funktionären gegen Gewähren freien Abzugs ausgeliefert oder von Versprengten auf andere Weise in den Westen geschafft worden sei, nachdem sich seine Wächter aus dem Staub gemacht hatten. Das passte zum Weltbild des Kalten Krieges, der dem SED-Regime zudem ein gutes Argument lieferte, es mit Nachforschungen nicht allzu genau zu nehmen. Einer der größten Kirchenschätze Mitteleuropas wurde zum Kriegsverlust erklärt.

Bis im Oktober 1988 die Staatsbibliothek in West-Berlin ein merkwürdiges Angebot erhielt: Ein Londoner Kunsthändler bot ein „Quedlinburg Gospel Book“ zum Kauf an, für stolze acht Millionen Dollar. Als Eigentümer wurde „ein amerikanisches Ehepaar, das die Handschrift geerbt habe“, angegeben, sagt Egner. Das Problem war nur, dass Quedlinburg in der DDR lag, für die aus finanziellen und politischen Gründen ein Ankauf nicht infrage kam: „Der Erwerb der betreffenden Objekte des deutschen kulturellen Erbes durch die Bundesrepublik Deutschland kann von der Deutschen Demokratischen Republik nicht legitimiert werden“, hieß es in einer Note des Kulturministeriums in Ost-Berlin.

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Nun nahm die Schatzsuche Fahrt auf. Klaus Goldmann, Historiker an der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, fand in Dokumenten Hinweise darauf, dass US-Stellen bereits im Sommer 1945 vergeblich nach dem Schatz gefahndet hatten. Da Goldmann aber keine Legitimation besaß, selbst in den USA Recherchen anzustellen, stellte er einem gewissen Willi Korte das Problem dar. Dieser war Historiker und Jurist und hatte sich auf die Jagd nach Raubkunst spezialisiert. In einem Archiv fand er im Tagebuch der 4th Cavalry Group für den 20. April 1945 den Eintrag: „Höhle bei 339590, großer Raum, Stauen und Kisten, zwei Räume im Obergeschoss, Ölgemälde und Dokumente.“ Die Nummer mit den sechs Ziffern stand für die Koordinaten 33.9 und 59.0, die Altenburg-Höhle.

Das Samuhel-Evangeliar zählt zu den Hauptwerken des Schatzes
Quelle: picture-alliance / dpa

Inzwischen hatte sich ein anderes Problem unvermutet gelöst. Die DDR war 1990 auf dem besten Weg, Geschichte zu werden, und im wiedervereinigten Deutschland konnte die Kulturstiftung der Länder dem neuen Angebot eines bayerischen Kunsthändlers nicht widerstehen, über seine Dependance in der Schweiz eine Handschrift zu erwerben, deren „Malereien, Miniaturen und Zierseiten“, so ein Gutachter, „in leuchtenden, unverblassten Farben erhalten“ waren, das Samuhel-Evangeliar. Im Hochgefühl der Wiedervereinigung erschien der Preis von drei Millionen Dollar wie ein Schnäppchen.

Korte wollte es dabei nicht belassen. Schließlich gab ihm einer der beteiligten Händler einen Namen: First National Bank in Whitewright (Texas), eine Kleinstadt im Nordwesten des US-Bundesstaats. Dort kam dem Deutschen ein Amerikaner zu Hilfe. Auch William H. Honan, Kunstspezialist der „New York Times“, hatte Witterung aufgenommen. Ihm öffneten sich texanische Türen leichter als einem Europäer. Bald war klar, dass das Samuhel-Evangeliar bereits seit Anfang der 1980er-Jahre an verschiedenen Stellen aufgetaucht worden war. Einmal, sagt Egner, sei es sogar zusammen mit dem ebenfalls verschwundenen Wilperti-Evangelistar für ganze 500 Dollar auf einem Flohmarkt angeboten worden. Entscheiden aber war, dass bei den Recherchen zwei Namen auftauchten: Cook und Meador.

Joe Tom Meador (1916–1980) als US-Offizier in Paris 1944
Quelle: U.S. Army Photo/Domschatz Quedlinburg

Das war der Durchbruch. Honan fand eine Traueranzeige, in der im Februar 1980 der Tod eines gewissen Joe Tom Meador aus Whitewright von Jane Cook und Jack Meador angezeigt wurde, Schwester und Bruder des Verstorbenen. Der hatte während des Zweiten Weltkriegs als Leutnant im 87. Armored Field Artillery Battalion gedient, das der 4th Cavalry im April 1945 nach Quedlinburg folgte.

Joe Meadors Vater war Eisenwarenhändler gewesen, der wohlhabend genug war, seinem Sohn ein Studium der Kunstgeschichte zu finanzieren. Nach Kriegsende kam er in Frankreich vor ein Militärgericht, weil er silberne Löffel gestohlen hatte. Er kam mit einer Geldstrafe davon, verließ 1946 die Army und übernahm später das elterliche Geschäft. Dass er etwas mit dem Verschwinden des Quedlinburger Domschatzes zu tun haben könnte, fiel den US-Behörden nicht ein.

Das änderte sich mit der Exklusivstory, die Honan im Juni 1990 in der „New York Times“ veröffentlichte. Nun erhielt Korte mithilfe eines Bundesmarschalls Zugang zum Tresor der First National Bank in Whitewright. Was er dort sah, erschien ihm „wie die Verlesung der richtigen Lottozahlen“, schrieb er später. Allerdings blieben zwei Preziosen verschwunden, ein Reliquienkreuz und ein Flakon aus Bergkristall.

Krypta der Stiftskirche
Quelle: Elmar Egner M.A., Domschatz Quedlinburg

Nun meldeten sich auch Zeugen, die sich an Joe Meadors Umtriebe in Quedlinburg erinnerten, nachdem seine Einheit mit der Bewachung der Altenburg-Höhle betraut worden war. Mehrfach sei er darin verschwunden und lange geblieben, berichtete der Ex-Sergeant Karl Kulikowski: „Als er zurückkam, trug er etwas unter seiner Armeejacke, was er dann im Jeep auf den Beifahrersitz legte.“ Er könne sich mit Sicherheit erinnern, dies mehrmals beobachtet zu haben.

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Als Offizier konnte er die Stücke eigenhändig mit dem Zensur-Stempel versehen und nach Texas schicken, sagt Egners Kollegin Linda Herbst. In Briefen, die sich ebenfalls im Tresor der First National Bank fanden, schrieb Meador: „Ein Paket enthält ein Buch, der Buchdeckel ist mit einer Christusstatue versehen ... Fragt mich nicht, wie ich daran gekommen bin. Aber es könnte sehr wertvoll sein ... Es stammt aus einer Berghöhle, wo tonnenweise Unterlagen der Nazis gelagert sind.“

Aber die brieflich geäußerte Absicht, dass ihm seine Beute „finanziell etwas einbringen“ werde, setzte Joe Meador niemals in die Tat um. Vielleicht war es die Erinnerung an seine kunsthistorischen Seminare, die ihn seine Schätze nur noch bewundern ließ, mutmaßt Herbst. Allenfalls ließ er die Stücke Freunde bestaunen.

Der sogenannte Kamm König Heinrichs I. besteht aus Elfenbein
Quelle: picture-alliance / dpa

Schwester und Bruder sahen das anders. Bald nach Joes Tod versuchten sie, die Stücke zu Geld zu machen. In der Hoffnung auf ihren Wert bestärkte sie die First National Bank, als sie den Schatz als Sicherung für einen Kredit über 286.000 Dollar akzeptierte. Da Anwälte, die auf ihren Anteil am Streitwert hofften, schnell gefunden waren, setzten die Erben auf einen Prozess. Sie hatten gute Chancen, denn nach texanischem Recht war Joe Meadors Raubzug längst verjährt, sagt Kurator Egner. Auch die regionale Öffentlichkeit stand auf ihrer Seite: „Die Kriegsbeute gehört dem Sieger“, tönte es aus Texas.

Zum Glück für die Quedlinburger Kirchengemeinde, die offiziell als Kläger – allerdings mit Deckung durch den Bund – auftrat, schlossen sich Kunsthandel und US-Behörden dieser Argumentation nicht an. Für den internationalen Markt waren die Preziosen mit dieser Provenienzgeschichte unverkäuflich. Der amerikanische Fiskus eröffnete ein Verfahren wegen unterschlagener Erbschaftssteuer, der Zoll wegen Verletzung der Ausfuhrbestimmungen, und die Bank wollte Geld für ihre Anwälte.

In London kam es im Januar 1991 zu einer außergerichtlichen Einigung. Gegen Zahlung von 912.000 Dollar „Finderlohn“, zuzüglich der Tranchen über zwei Millionen Dollar, die die Kulturstiftung der Länder bereits überwiesen hatte, erhielt Quedlinburg seinen Domschatz zurück. Nach umfangreichen Restaurierungen ist er seit dem 19. September 1993 wieder in der Schatzkammer der Stiftskirche St. Servatii ausgestellt. Ein Jahr später wurden Stadt und Schatz in die Welterbeliste der Unesco aufgenommen.

Die Recherchen wurden unterstützt vom Domschatz Quedlinburg. Unsere Standards der Transparenz und journalistischen Unabhängigkeit finden Sie unter axelspringer.com/de/werte/downloads.

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