Wie Silberfischchen am Himmel kam der Tod über die Reichshauptstadt
Am 6. März 1944 begann die Serie von Tagesangriffen amerikanischer Bomber auf Berlin. Der Tod aus der Luft drohte nun jederzeit. Darauf mussten sich die Zivilisten in der Metropole Hitler-Deutschlands einstellen. Bald gab es „Kreiß“-Bunker.
Zu früh gefreut. „Die Amerikaner können sich immer noch nicht beruhigen über ihre zwei angeblich durchgeführten Tagesangriffe auf Berlin“, diktierte Propagandaminister Joseph Goebbels in der Nacht vom 5. auf den 6, März 1944 seinem Sekretär: „Am allerwenigsten hat die Berliner Bevölkerung davon gemerkt; abgesehen von einem Luftalarm ist in der Reichshauptstadt gar nichts passiert.“
Keine zwölf Stunden nach dieser Bemerkung waren es dann nicht mehr wie am 3. und 4. März ein paar Dutzend, sondern mehr als ein 500 Flugzeuge, die tagsüber die Reichshauptstadt angriffen. Goebbels, nebenbei auch NSDAP-Gauleiter in Berlin, blieb trotzdem bei seiner Linie: „Die Engländer und Amerikaner sprechen fast nur von dem amerikanischen Tagesangriff auf die Reichshauptstadt. Sie dramatisieren ihn in einer Art und Weise, die geradezu lächerlich wirkt.“
Tatsächlich waren die Berichte etwa in der „New York Times“ und der „Chicago Tribune“, die auf Aussagen der heimgekehrten Flugzeugbesatzungen basierten, übertrieben. Denn mit registrierten 86 Toten, 57 Verwundeten sowie 2245 Ausgebombten reichte der erste große US-Luftschlag gegen Berlin nicht annähernd heran an die jüngeren nächtlichen Attacken der RAF.
Instinktiv erkannte Goebbels sofort eine mögliche Sollbruchstelle in der Koalition der Gegner: „Die Amerikaner prahlen so stark, dass sie damit sicherlich den Engländern, insbesondere den Royal-Air-Force-Piloten, auf die Nerven fallen werden. Sie tun so, als hätten die bisherigen britischen Angriffe auf die Reichshauptstadt überhaupt nichts bedeutet und als sei Berlin jetzt zum ersten Mal ernstlich bombardiert worden. Dabei ist der Angriff auf Berlin von ganz untergeordneter Bedeutung.“
Rein statistisch war das richtig, psychologisch aber sah die Lage anders aus. Denn zusätzlich zu den bereits bisher rund um die Uhr möglichen Nadelstichen britischer Schnellbomber vom Typ „Mosquito“ mussten die Berliner nun auch bei Tageslicht mit Großattacken rechnen.
„Amerikaner-Alarm wird meistens um 13 Uhr gegeben“, notierte Hans-Georg von Studnitz am dritten Tag der Angriffsserie. Als Mitarbeiter des Auswärtigen Amtes privilegiert, ärgerte er sich besonders über eine Nebenwirkung: „Eben – es ist 12.40 Uhr – gibt es wieder Vorwarnung. Wir verbringen zwei Stunden im Bunker. Getroffen wurde der Osten der Stadt. Der Aufenthalt im ,Adlon’-Bunker ist alles andere als angenehm, die Luft schlecht, das Gedränge groß. Da die Alarme in die Mittagszeit fallen und nach der Entwarnung der Speisesaal des Hotels geschlossen bleibt, geht man meist ,ungegessen’ ins Büro zurück.“
Viermal innerhalb der ersten März-Hälfte bombardierten jeweils mehrere hundert viermotorige US-Flugzeuge die Reichshauptstadt. Nun konnten die Berliner genau verfolgen, wie die Zerstörung über sie kamen, denn obwohl die „Fliegenden Festungen“ B-17 und die „Liberators“ genannten B-24 höher flogen als ihre britischen Kameraden nachts, konnte man sie wegen der Kondensstreifen in der eiskalten Luft klar erkennen.
Wenn die Bewölkung aufriss, sahen die hell lackierten Maschinen am Himmel unwirklich aus: „Große Silbervögel in der Sonne“, notierte die Berlinerin Renate Holtz: „Ungestört zogen sie ihre Bahn. Kaum Gegenwehr, nur die weißen Tupfen Flakgeschosse.“ Einen ähnlichen Eindruck hatte Eva Schliep: „Riesige Verbände feindlicher Bomber zogen heran, sie sahen aus wie Schwärme silberner Vögel am blauen Himmel.“
Der 13-jährige Manfred Woge fühlte sich von dem Anblick angezogen: „Als Kinder besaßen wir noch nicht das Gespür für die Gefahr“, erinnerte er sich Jahrzehnte später. Als die Tagesangriffe begannen, standen seine Freunde und er einige Male auf der Straße und verfolgten das Schauspiel, das sich ihnen bot: „Wie Silberfischchen flimmerte es am Himmel.“
Die deutschen Zeitungen versuchten mit Siegesmeldungen gegenzusteuern. Vom „Bombersterben über Berlin“ berichtete beispielsweise der „Völkische Beobachter“; es seien 140 „Terrorflugzeuge“ abgeschossen worden. Doch die gleichgeschalteten Redaktionen in Deutschland steckten in einem Dilemma: Verbreiteten sie die behaupteten Abschusszahlen weiter, musste die Bevölkerung den Eindruck gewinnen, der Nachschub der Tag für Tag erneut mit hunderten Flugzeugen angreifenden Amerikaner sei unerschöpflich. Und noch schlimmer wären die Folgen für die Stimmung, wenn sie Abwehrerfolge zurückhaltend vermeldeten: Dann kamen sich die Hauptstädter schutzlos vor.
Tatsächlich gingen am 6. März 1944 genau 80 US-Flugzeuge verloren: 69 Bomber und elf Begleitjäger. Die Luftwaffe büßte 64 Maschinen ein, 48 einmotorige und 16 zweimotorige. Das waren empfindliche Verluste für beide Seiten, aber schlimmere für Hitler-Deutschland.
Um einen völligen Zusammenbruch des öffentlichen Lebens zu verhindern, griff die NSDAP zu einer radikalen Maßnahme: „Im Verlag ist jetzt die Weisung ergangen, dass vor einem Alarm niemand mehr das Haus verlassen darf“, notierte die Journalistin und Hitler-Gegnerin Ursula von Kardorff nach der ersten Serien von Tagesangriffen: „Auch Frauen und Mädchen wird auf diese Weise der Weg in den Bunker verwehrt. Sie werden genau wie die Männer behandelt.“ Bis dahin hatten Berlinerinnen ihre Arbeitsplätze bereits bei Voralarm verlassen dürfen – im Gegensatz zu Männern, die bis zum Hauptalarm weiterzuarbeiten hatten.
Solange die Bombenangriffe vor allem nachts stattgefunden hatten, war diese Regelung meist unproblematisch gewesen. Doch mit der neuen Gefahr schwerer Tagesangriffe nahm die Sorge zu, die Stadt könnte völlig paralysiert werden. In den meisten Krankenhäusern fanden Operationen ohnehin nur noch in speziellen OP-Bunkern statt, da man einen Patienten in Narkose und mit geöffnetem Körper nicht aus einem sterilen Saal in einen Bunker verlegen konnte.
In mehreren Bunkern, darunter dem Tiefbunker Chausseestraße, wurden Geburtsstationen eingerichtet. Im Flakturm Humboldthain taten Hebammen Dienst; den dort zur Welt gekommenen Kindern gaben sie ein Erinnerungsblatt mit, auf dem es hieß: „Deinen ersten Schrei tatest Du im Geschützturm Humboldthain, in einer schweren, aber großen Zeit.“ Den Charité-Schutzraum in der Invalidenstraße nannte man bald den „Kreiß-Bunker“, weil dort so viele Kinder geboren wurden. Der Tod aus der Luft drohte nun jederzeit.