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Alle Arbeit ist getan
Die tonnenschweren Stahlskulpturen von Richard Serra sind umstritten, dabei versprechen sie einen unmittelbaren Kunstgenuss: Sie sprechen unsere Sinne an. Jetzt ist der große amerikanische Bildhauer gestorben.
Auf dem Gehweg zwischen Philharmonie und Großem Tiergarten steht die Skulptur „Berlin Junction“ von Richard Serra. Zwei in einem Bogen geschwungene, schräg zueinander gekippte, 14 Meter lange und dreieinhalb Meter hohe Stahlplatten bilden einen schmalen Durchgang.
Serras urbane Skulpturen sind oft angefeindet worden. Sie seien hässlich, würden den Blick in die Stadt verderben. Einige wie „Tilted Arc“ in New York wurden nach Protesten auf Nimmerwiedersehen abgeräumt. Und auch in Berlin tritt nicht jeder Passant fröhlich in Serras tonnenschwer verrosteten Stahltunnel ein, weil manchen unbehaglich wird: Was mag einen darin erwarten?
Es ist ein Kunstgenuss sondergleichen! Wenn eine Skulptur weniger Anlass zum Streit geben könnte, dann diese. Sie macht ohne irgendeine Vermittlung klar, was die Kunst – in diesem Fall minimalistische Bildhauerei – kann, nämlich sie unmittelbar zu fühlen. Im Kuratorensprech der zeitgenössischen Kunstdiskurse ist oft von Körperlichkeit und Raumerfahrung und Niederschwelligkeit und Perspektivwechseln die Rede, und man steht dann vor dem Werk und runzelt allenfalls die Stirn. Hier im Inneren von „Berlin Junction“ braucht man keinen Laufzettel, der einem erklären müsste, was man sieht und was man wissen kann. Hier steht man einfach da und spürt.
Wer sich in die Krümmung des Raums zwischen den Stahlplatten begibt, verlässt den Alltag. Sofort verändert sich die sinnliche Wahrnehmung. Man hört gedämpfter. Die Augen stellen sich langsam auf Licht und Schatten ein. Man sieht zunächst nichts als korrodierten Stahl, aber wenn man nach oben schaut, einen kühnen Bogenausschnitt des Himmels. Man ertastet die Oberfläche der einander zugeneigten Wände. Die Dichte und Festigkeit des Metalls ist direkt zu fühlen, dafür muss man die Platten nicht einmal berühren.
Der Kalifornier macht Karriere in New York
Richard Serra ist auf das gravitätische Material Stahl schon als Arbeiterkind geprägt worden. 1938 in San Francisco geboren, wuchs er als Sohn eines Rohrschlossers auf, der ihn schon früh mit auf Schicht in die Schiffswerft nahm. Um sein erstes Studium in Berkeley und Santa Barbara (Englische Literatur) zu finanzieren, jobbte er in einem kalifornischen Stahlwerk.
Dann wechselte er die Seiten und schrieb sich Anfang der 1960er-Jahre in Yale für Kunst ein. An der Ostküste wurde er Schüler, später auch Assistent, von Josef Albers. Der aus Nazi-Deutschland emigrierte Maler gilt als Vater des Minimalismus („Hommage an das Quadrat“). Serra fühlte sich aber weniger der kunsttheoretischen Strenge verbunden, als der Arbeit mit einfachen Materialien wie es auch die Künstler der italienischen Arte-povera-Bewegung machten.
Frühe Experimente mit Industriematerialien, mit Gummi oder Neonröhren (wofür dann seine Zeitgenossen Eva Hesse und Dan Flavin bekannt wurden) befriedigten Serra nicht. Er suchte nach einem wie für ihn gemachten Stoff, der auch kunsthistorisch noch gewissermaßen unschuldig war. Im Jahr 1968, Serra lebte mittlerweile in New York und war Künstler im Programm der einflussreichen Galerie von Leo Castelli, entstand der drei Minuten lange Film „Hand Catching Lead“. Man sieht den muskulösen Unterarm und die rechte Hand des Künstlers, wie sie versucht von oben herabfallende Bleistücke zu fangen.
Es ist ein Spiel gegen die Schwerkraft. Die meisten Brocken rutschen ihm durch die Finger, hinterlassen nur graue Spuren auf der Haut der Hand, die immer wieder zugreift, aber nur manchmal das schwere Metall zu packen bekommt. Im Film „Hand Lead Fulcrum“ balanciert er eine Rolle Bleiblech so lange in der Hand, bis sie herunterfällt. „Fulcrum“ sollte dann später auch der Titel einer zehn Meter hohen Skulptur werden, deren drei aneinandergelegte Walzstahlplatten sich gegenseitig tragen.
In Castellis Lagerhaus führte Serra im Jahr 1968 dann zum ersten Mal die Aktion „Splashing/Casting“ auf, die ihn nachhaltig bekannt machte – auch weil er sie alle paar Jahre in den wichtigen Museen der Welt wiederholte. Dafür schleuderte Serra flüssiges Blei in die Ecke zwischen Wand und Boden. Das Metall verfestigte sich und bildete die Positivform eines Raums ab, eine Skulptur.
Serra zitierte damit noch die gestische Abstraktion des Action-Paintings der Vierziger- und Fünfzigerjahre, gehörte aber im Handumdrehen zur New Yorker Avantgarde um Künstler wie Robert Smithson, Nancy Holt oder Walter de Maria, die in jener Zeit unbedingt „site specific“ arbeiteten und mit „Land Art“ die abseitigen und entlegensten Gegenden zu Ausstellungsorten machten.
Serra ist immer bodenständiger Bildhauer geblieben, ob seine Skulpturen nun in der Wüste von Katar aufregen, wie die vor einigen Jahren errichteten Monolithen „East-West/West-East“ oder die Schneckenhauslabyrinthe „Matter of Time“ aus Corten-Stahl im Guggenheim Museum in Bilbao. Das Kunstmachen hat er immer als Arbeit aus sich heraus verstanden, nicht im Sinne der kalifornischen Werftschlosser, sondern als Besessener:
„Ausharren und immer wieder neu beginnen bedeutet, eine obsessive Arbeit fortzusetzen“, sagte er einmal. „Um zu arbeiten, muss man bereits arbeiten.“ Richard Serras Arbeit ist nun beendet. Am 26. März starb er im Alter von 85 Jahren an seinem Wohnort Orient im Bundesstaat New York.