Svoboda | Graniru | BBC Russia | Golosameriki | Facebook
WELTGo!
Journalismus neu erleben und produktiver werden
Ihr Assistent Journalismus neu erleben und produktiver werden
WELTGO! ENTDECKEN
  1. Home
  2. Politik
  3. Ausland
  4. Ukraine: Die Menschen auf dem Maidan wollen mehr

Ausland Ukraine

Die Menschen auf dem Maidan wollen mehr

Chaotischer Vermittlungsprozess in der Ukraine

Noch immer harren Demonstranten kampfbereit auf dem Maidan in Kiew aus. Sie warten auf den Vollzug einer vertraglichen Einigung zwischen der ukrainischen Regierung und der Opposition.

Quelle: Reuters

Autoplay
In Kiew haben sich Politiker und Top-Oppositionelle mit Präsident Janukowitsch geeinigt. Der Kompromiss kann nur Frieden schaffen, wenn die Demonstranten mitziehen. Doch den meisten reicht das nicht.

Der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch hat eine Vereinbarung mit den drei Oppositionsanführern Vitali Klitschko, Arsenij Jazenjuk und Oleh Tjahnibok unterzeichnet. Die Außenminister von Deutschland, Frankreich und Polen, die bei den Verhandlungen vermittelt hatten, waren bei der Unterzeichnung anwesend. Der russische Menschenrechtsbeauftragte Wladimir Lukin, der ebenfalls mitverhandelt hatte, war nicht zugegen. Die Agentur Interfax hatte zuvor berichtet, dass er sich weigere, das Abkommen zu unterzeichnen.

Janukowitsch hatte sich erst nach stundenlangen Verhandlungen zu Kompromissen bereit erklärt. Neun Stunden hatte er nachts Gespräche in der Präsidialverwaltung geführt. Und noch bis zum frühen Nachmittag war unklar geblieben, ob die Ergebnisse wirklich unterzeichnet werden. Die wichtigste Einigung: Janukowitsch erklärte sich zu einer vorgezogenen Präsidentenwahl bereit.

Außerdem soll innerhalb von zehn Tagen eine „Regierung des nationalen Vertrauens“ gebildet werden, an der Vertreter der Opposition beteiligt werden. Die Ukraine soll zur Verfassung von 2004 zurückkehren, die Befugnisse des Präsidenten werden demnach also wieder eingeschränkt. Dieser Teil der Vereinbarung wurde schon erfüllt – kurz vor 16 Uhr deutscher Zeit stimmte das Parlament für die Änderung der Verfassung.

Doch Arsenij Jazenjuk von der Oppositionspartei Batkiwschtschina machte schon kurz nach der Unterzeichnung einen letzten Vorbehalt deutlich: „Die Vereinbarung muss mit dem Maidan abgesprochen werden, erst dann tritt sie in Kraft.“ Am Freitagnachmittag trafen sich Bundesaußenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD), sein französischer Kollege Laurent Fabius und der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski mit dem sogenannten Rat des Maidan, der unterschiedliche Aktivisten und Politiker vereint.

Die extreme Rechte lehnt die Einigung ab

Der Rat stimmte der Vereinbarung zu, wie der Sprecher des polnischen Außenministers mitteilte. Auf dem Unabhängigkeitsplatz, auf dem sich wieder Zehntausende Menschen versammelten, traten die Oppositionsanführer nicht sofort auf. Das Risiko ist groß, dass die Menschen auf dem Maidan die Vereinbarung nicht akzeptieren. Die radikale Gruppe Rechter Sektor lehnte sie noch vor der Unterzeichnung ab. „Wir neigen dazu, in der Erklärung von Janukowitsch Betrug zu sehen“, schrieb der Anführer des Rechen Sektors, Dmitro Jarosch, auf seiner Seite im sozialen Netzwerk Vkontakte. „Die nationale Revolution geht weiter. Sie wird mit der vollständigen Beseitigung des internen Okkupationsregimes enden.“

Jazenjuk müsste bewusst sein, dass die Opposition eine Vereinbarung zwar unterzeichnen kann, diese aber nur dann zu einer Lösung der Krise beitragen kann, wenn nicht nur der Rat des Maidan, sondern auch die Zehntausenden Aktivisten dem Abkommen zustimmen. In den vergangenen Wochen fühlten sich viele auf dem Maidan von den drei Oppositionsanführern immer wieder enttäuscht und nicht repräsentiert.

In den letzten Tagen, an denen in der ukrainischen Hauptstadt die Gewalt eskalierte und Dutzende Menschen ums Leben kamen, sprach keiner der drei direkt zu den Protestlern. Bereits im Januar war klar, dass Klitschko, Jazenjuk und Tjahnibok die Situation auf den Straßen kaum kontrollieren können. Das Vertrauen in sie schwindet.

„Nur Rücktritt! Nur Gefängnis!“

In der Nacht zu Donnerstag hatten die Oppositionspolitiker eine Waffenruhe vereinbart, doch schon am folgenden Morgen kam es zu den blutigsten Zusammenstößen, bei denen mit scharfer Munition geschossen wurde. Nach offiziellen Angaben sind in Kiew seit Dienstag 77 Menschen ums Leben gekommen. Die Opposition geht davon aus, dass es mehr sind. Einige Protestler haben Waffen und setzten diese auch gegen die Polizei ein. Auf den Straßen entwickelt sich eine Eigendynamik, die niemand steuern kann.

Als am Freitagmittag von der Bühne des Maidan verkündet wurde, dass Janukowitsch zu Neuwahlen im Dezember bereit sei, pfiffen die Demonstranten enttäuscht. Sie schrien: „Nur Rücktritt! Nur Gefängnis!“ Proteste, die als Reaktion auf die Abweichung vom Integrationskurs mit der Europäischen Union angefangen haben, sind längst zu Protesten gegen Janukowitsch und sein System geworden. Solange er nicht geht, wollen die meisten Menschen, die man hier fragt, bleiben.

Anzeige

Je gewalttätiger das Regime gegen die Proteste vorging, desto wütender wurden die Menschen. Am Freitag sah man auf dem Maidan immer wieder weinende Menschen. Der Schock über die vielen Toten ist groß. Derartiges hat die Ukraine seit ihrer Unabhängigkeit nicht erlebt. Die Bürger sahen Leichen, die in langen Reihen an den Rändern des Maidan abgelegt worden waren, sie sahen Videos, auf denen Scharfschützen der Polizei aus Präzisionsgewehren schossen.

Und Unzählige fordern, dass die Machthaber für das Blutvergießen Verantwortung tragen, vor allem Präsident Janukowitsch. Nach dem, was in Kiew passiert ist, könnte er nach einem Rücktritt wohl nicht mehr in der Ukraine bleiben, sondern müsste sich ein Land suchen, das seine Sicherheit garantiert.

Janukowitsch hat viel Vertrauen verspielt

Seit dem Beginn seiner Amtszeit 2010 hatte Janukowitsch das politische System der Ukraine so umgebaut, dass der Präsident immer mehr Macht bekam. Er sprach von Korruptionsbekämpfung, und sein Sohn Alexander stieg mit einem Vermögen von 187 Millionen Dollar in der Liste der reichsten Ukrainer auf. Im vergangenen Jahr versprach Janukowitsch die Integration in das Nachbarschaftssystem der EU. Dann änderte er seine Entscheidung plötzlich kurz vor dem Gipfeltreffen im Vilnius im November. Er hat viel Vertrauen verspielt.

Viele Demonstranten befürchten nun, dass Janukowitsch nur auf Zeit spielt und auf einen Anlass wartet, den Maidan mit Gewalt zu räumen. Nachdem es Ende Januar erste Tote bei den Zusammenstößen auf der Gruschewskogo-Straße gab, hatte Janukowitsch bereits mit der Opposition verhandelt. Vereinbart war zunächst nur eine Amnestie unter der Bedingung, dass Demonstranten öffentliche Gebäude und Straßen räumen.

Diese Phase der Deeskalation endete aber am Dienstag mit einem noch größeren Blutbad, als das Parlament nicht über Verfassungsänderungen abstimmen wollte, Demonstranten auf das Parlamentsgebäude marschierten und anschließend von der Polizei zurückgedrängt wurden, sodass der Maidan fast geräumt wurde. Die Kompromisse, die Janukowitsch nun eingeht, werden daher von den Demonstranten mit Skepsis aufgenommen. Der Weg zur Lösung der Krise in der Ukraine ist noch sehr lang.

Mehr aus dem Web
Neues aus der Redaktion
Auch interessant
Mehr zum Thema