Demnächst wird Cem Özdemir Ehrenbürger von Bad Urach. In geheimer Abstimmung rang sich der Gemeinderat des schwäbischen Luftkurorts dazu durch: 58 Jahre nach seiner Geburt darf der Sohn eines türkischen Gastarbeiters in den Kreis der nunmehr sechs honorabelsten Bürger einrücken.
Der selbst ernannte „anatolische Schwabe“ besuche regelmäßig den traditionellen Uracher Schäferlauf, so argumentiert die Stadt. Und als Bundeslandwirtschaftsminister setze sich der Grünen-Politiker dafür ein, „dass die in Bad Urach erfundene Brezel immaterielles Kulturerbe werden soll“. Höchste Zeit also, diesen verdienten Sohn fest an die Brust zu drücken. Ein Festakt ist in Vorbereitung.
Dass die Verwurzelung des Grünen auf der schwäbischen Alb gerade jetzt so aufwendig inszeniert werden soll, hat indes für manche im Ländle ein Gschmäckle, insbesondere für Mitglieder der CDU. Das Geheimvotum in Bad Urach soll durchaus knapp ausgefallen sein – dem Vernehmen nach senkten die Christdemokraten den Daumen.
Der Grund liegt auf der Hand. In Baden-Württemberg bewegt die Gemüter immer drängender die Frage, wer wohl in die Fußstapfen des grünen Überlandesvaters Winfried Kretschmann tritt. Der mittlerweile 76 Jahre alte Ministerpräsident wird spätestens nach der Landtagswahl 2026 Polit-Pensionär. Und als heißer Anwärter auf den grünen Spitzenkandidaten-Posten gilt eben jener anatolische Schwabe.
Zwar hat der gelernte Erzieher und studierte Sozialpädagoge Özdemir noch nicht öffentlich erklärt, ob er das überhaupt will. Doch die CDU, obwohl seit 2016 Juniorpartner in der grün geführten Landesregierung, teilt schon mal vorsorglich gegen ihn aus. Özdemir wolle sich „nach Stuttgart absetzen, weil er in Berlin nichts auf die Kette bekommt“, höhnte Generalsekretärin Nina Warken beim CDU-Landesparteitag Ende April: „Unser Land ist als Trostpreis für Cem Özdemir zu schade.“
Die CDU will sich nach drei Legislaturperioden endlich die Regierungszentrale zurückholen, mit dem erst 36 Jahre alten Ex-Sparkassenfilialleiter Manuel Hagel baut sie gerade einen neuen Frontmann auf. Der Katholik, Vater von drei Söhnen und aktiver Jäger, gilt als Talent. Aber noch fehlt es dem Partei- und Fraktionschef an der nötigen Bekanntheit. Da kann den Konservativen an einem Festakt in Fachwerkkulisse, der Hagels potenziellen Kontrahenten als Schwaben-Patriot hochleben lässt, wenig gelegen sein.
Özdemir war immerhin zuletzt auffällig oft im Südwesten unterwegs, so häufig, dass sich der Fraktionsvize im Bundestag, der Baden-Württemberger Steffen Bilger (CDU), empörte: „Viele in Berlin fragen sich, ob der Bundeslandwirtschaftsminister überhaupt noch seinen eigentlichen Aufgaben nachkommt.“ Özdemir setze auf „inszenierte Wohlfühltermine, die sich für Social Media eignen“, statt sein Haus zu führen und in der Regierung für die Landwirte einzutreten – für Bilger ein „unverhohlener Vorwahlkampf“.
Man kann solche Attacken auch als Hinweis darauf interpretieren, wie sehr die CDU den Ampel-Minister, Bundestagsabgeordneten, langjährigen Grünen-Parteichef und früheren EU-Parlamentarier fürchtet. Özdemir gilt als charismatisch, er ist ein glänzender Redner, seinen Beliebtheitswerten taten selbst die Bauernproteste keinen Abbruch. Seine Partei jedoch steckt im Umfragetief, auch in Baden-Württemberg.
Die Zufriedenheit mit dem zunehmend müde wirkenden Kretschmann ist gesunken, die Südwest-Grünen benötigen dringend ein neues Zugpferd. Jemand, der Kretschmanns grün-konservativen Erfolgskurs fortsetzt, aber auch frischen Wind verheißt.
Wie viel Beinfreiheit hätte Özdemir?
In der Partei gilt es als ausgemacht, dass für die Herkules-Aufgabe allein Özdemir das Format, die Erfahrung und Bekanntheit mitbringt. Niemand würde sich seiner Spitzenkandidatur in den Weg stellen. „Wenn der Cem will, wird er es“, ist in der Partei zu hören, bei Realo-Vertretern genauso wie im linken Flügel. Zwar würden einige in der Partei unter Özdemir gern mehr streng linke Programmatik verwirklicht sehen, doch seinen Führungsanspruch macht ihm niemand streitig. Özdemir sei klar das Zugpferd, sagt beispielsweise ein Flügel-Vertreter, schließlich sei klar, dass am Ende keiner etwas davon habe, wenn die CDU die nächste Regierung anführe.
Doch die Frage, wie viel Beinfreiheit ihm die eigene Partei dann tatsächlich gewährt, dürfte für Realo Özdemir mitentscheidend sein. Seit Kretschmann 2011 Ministerpräsident wurde, hat sich bei den Grünen im Südwesten einiges verändert. Die Mitgliederzahl wurde auf knapp 18.000 fast verdoppelt, und in den Reihen finden sich zunehmend junge, links orientierte und von Klimaaktionen geprägte Leute.
Der ultrapragmatische, wirtschaftsnahe Kurs, mit dem Kretschmann die Grünen in die Mitte rückte, wird zumindest von Teilen der Partei nicht mehr umfänglich goutiert. Außerdem gibt es wie bei der letzten Wahl eine sogenannte Klimaliste als Konkurrenten, der mangelnde Ambition der Grünen rügt.
Die Zurückhaltung in Sachen Kandidatur sieht der Politologe Michael Wehner von der Landeszentrale für politische Bildung aber strategisch motiviert. Özdemir wolle sich nicht durch womöglich schwache Ergebnisse der Grünen bei der Europa- und Kommunalwahl am 9. Juni beschädigen lassen: „Man will ihn nicht zu früh verbrennen.“
Ulrich Eith von der Universität Freiburg hält es für einen Anwärter auf die Regierungsspitze ohnehin für geboten, sich von außen nicht allzu sehr unter Druck setzen zu lassen: „Das Timing maßgeblich mitzuprägen und den Zeitpunkt selbst zu bestimmen, demonstriert politisches Standing und Souveränität.“
So schießen die Spekulationen ins Kraut, ob „der Cem“ nun springt oder doch nicht, weil ihm etwa die Erfolgsaussichten zu ungewiss und das ländliche Klein-Klein zu wenig erscheinen. Und was, wenn es nur zu Platz zwei reichen sollte: ein Vize Özdemir unter einem dann 38-Jährigen, in Regierungsgeschäften unerfahrenen Ministerpräsidenten Hagel? Oder gar Oppositionsführer, sollte es zum Bündnis von CDU, SPD und FDP kommen? Bei Özdemirs Optionen auch in einem künftigen Bundestag schwer vorstellbar.
Gleichwohl drängt für den Grünen die Zeit. Im Herbst startet die Nominierungsphase für den Bundestag, bis dann muss Özdemir entscheiden, ob er erneut fürs Hohe Haus kandidiert oder für den Landtag. Wehner erwartet, dass sich Özdemir „im Zeitraum Juni oder Juli“ erklärt. Der Kölner Politikberater und Autor Erik Flügge ist überzeugt: „Sein gesamtes politisches Schachspiel weist in eine Richtung: Baden-Württemberg.“