Auf Knien rutschen die Arbeiter Zentimeter für Zentimeter über die schwarze Erde. Sorgfältig jäten sie das Unkraut zwischen den kleinen Setzlingen. Soweit das Auge reicht, sollen hier auf einem riesigen Feld bei Bakhmut in der Ostukraine Aprikosen-, Kirsch- und Apfelbäume wachsen.
Aber so lange warten, bis die Bäume Früchte tragen, will man nicht. „In einem Jahr sind die Pflanzen so groß, dass man sie verkaufen kann“, erklärt Irena, die unter ihrer alten blauen Jacke einen roten Rollkragenpullover trägt. Es bläst ein starker Wind, der eigentlich zu kalt ist für diese Jahreszeit. Die 38-Jährige leitet ein Team von über 30 Arbeitern.
„Krieg hin oder her“, sagt Irena, „man kann nicht immer zu Hause sitzen“. Es ist ein Stück Normalität, das sich Irena und alle anderen auch im Krieg erhalten wollen. „Ich bin so dankbar, dass ich hier arbeiten kann“, ruft Julia während sie mit ihren grünen Handschuhen ununterbrochen Unkraut zupft. „Raus aus dem Haus und Geld verdiene ich auch“, fügt Julia an. „Meine Familie und ich müssen überleben“.
Auch in anderen Teilen der Ostukraine wird auf dem Land gearbeitet. Die ukrainischen Bauern versuchen ihre Felder zu bestellen, wo immer es die russische Invasion zulässt. Schätzungen zufolge sollen es immerhin noch rund 70 Prozent der Anbauflächen im Vergleich zum Vorkriegsniveau sein. Das klingt nicht nach großen Einbußen, aber die Ukraine ist Europas größter Getreideproduzent. Viele Länder in Afrika und dem Mittleren Osten sind von Exporten aus der Ukraine abhängig.
Ihnen droht dadurch ein Mangel des Grundstoffs für Brot, das in diesen Regionen oft Hauptnahrungsmittel ist. Obendrein stellt der Krieg aktuelle wie zukünftige Exporte der Ukraine infrage. Niemand kann vorhersagen, wie die Kampfhandlungen die Landwirtschaft in den nächsten Wochen und Monaten beeinflussen wird.
„Wir arbeiten wie früher, haben aber große Angst“, sagt Irena und steckt die Hände in die Jackentasche. In ihrer Heimatstadt Bakhmut schlagen fast täglich russische Raketen ein. Am Wochenende zerstörten Luftschläge eine Schule und 14 Wohnhäuser. Zwei Menschen starben und vier wurden schwer verletzt. „Jedes Mal, wenn ich am Morgen aus dem Haus gehe, habe ich große Angst um meinen Sohn und meine Mutter, die ich alleine zurücklasse“, erzählt Julia, die auf dem Feld einige Meter weiter vorangekommen ist.
Es sind nicht alleine die russischen Luftschläge, die ihnen Sorgen mache. Beide Frauen haben vom brutalen Morden russischer Soldaten in Butscha gehört und kennen die Bilder aus Mariupol, das nur noch eine Steinwüste ist. Und Moskaus Truppen sind keine 20 Kilometer mehr von Bakhmut entfernt.
„Wir merken es doch“, sagt Irena, die mit lila Badeschlappen in der schwarzen Erde steht. „Der Krieg kommt immer näher, zwar langsam, aber jeden Tag ein Stück mehr“. Tatsächlich kommt die russische Armee im Donbass in der Ostukraine nur schwer voran. Jeden Tag sind es nur ein oder zwei Kilometer. Aber die Ukrainer können sie nicht ganz stoppen.
„Wir brauchen mehr schwere Waffen aus dem Westen“, sagt Kommandeur Vladimir* am Checkpoint, der nur wenige Hundert Meter vom Feld mit den Setzlingen entfernt liegt. Er beschwert sich besonders über die geringen Lieferungen an Luftabwehrsystemen. „Jede Nacht hören wir Drohnen am Himmel“, berichtet er. „Eine dieser kleinen Aufklärungsdrohnen konnten wir gestern Abend sogar abschießen. Wir brauchen aber mehr Waffen, um den Himmel absichern zu können.“
Über die Strategie der russischen Armee sagt der Kommandeur: „Die Russen versuchen den Donbass von Norden und Süden her einzukesseln“. Sie würden größere Städte umgehen, statt sie zu erobern, um schneller voranzukommen. „Das werden wir verhindern“, fügt er selbstbewusst hinzu. Dann deutet er zu den Arbeitern auf dem Feld hinüber. „Das ist ein Zeichen der Hoffnung, wenn Menschen Bäume pflanzen“, meint er nachdenklich. „Wir können ihnen diese Hoffnung nicht nehmen und müssen für unsere Nation weiterkämpfen“.
Streumunition im Einsatz
Tatsächlich ist im Donbass eine Zangenbewegung zu erkennen. Im Süden hat die russische Armee Popasna eingenommen und rückt weiter vor. Im Norden sind sie den Städten Lyman und dem Erholungsgebiet in Svetagorsk auf wenige Kilometer bedrohlich nahegekommen. „Von unserer Position auf dem Hügel haben wir einen guten Überblick“, sagt Vladimir, der eine schusssichere Weste und seine Kalaschnikow über der Schulter trägt. Er deutet in die Ebene Richtung Norden, wo Rauchwolken aufsteigen. „Das ist Siversk“, sagt er. „Dort wird heftig gekämpft“.
Weißer Qualm liegt über der 11.000 Einwohner großen Stadt. Russische Gradraketen prasseln auf den Ort nieder. Dazwischen ertönen Mörser. Nach einem Treffer steigt schwarzer Rauch auf. Kurz danach feuert eine Drohne eine Rakete mit international verbotener Streumunition ab.
„Es ist das Triebwerk einer Smerch, die Streumunition trägt“, sagt Alexander. „Ihre kleinen Bomben sind vor dem Einschlag in alle Richtungen geflogen und explodiert.“ Streumunition ist völkerrechtlich geächtet. Aber Russland setzt sie in der Ukraine trotzdem vielerorts ein. WELT konnte so einen Angriff selbst beobachten.
Die kleinen Bomblets (Bombenpakete, Anm. d. Red.), wie sie im Fachjargon heißen, fliegen vor dem Einschlag in alle Richtungen und explodieren dann nacheinander – dieses Mal in einem Wohngebiet, wie von dem Feld bei Bakhmut zu sehen ist. Es klingt wie das Knallen eines Feuerwerks, bringt aber schwere Verletzungen und den Tod.
Siversk liegt an den Ufern des Donez-Flusses. Bis dahin ist die russische Armee bereits vorgedrungen. Nun versucht sie, über den Fluss zu kommen. Sollte ihr dies gelingen, ist der Weg nach Slaviansk und Kramatorsk frei, den beiden wichtigen Städten im Zentrum des Donbass. Aber auch Bakhmut wäre gefährdet, dieser Ort, in dem Kommandeur Vladimir Wache hält und Arbeiter auf dem Feld zwischen Setzlingen Unkraut jäten.
*Armeeangehörige im Kampfgebiet sprechen grundsätzlich nicht stellvertretend für offizielle Stellen, deshalb geben sie häufig keinen Nachnamen an