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Verteidigungsstrategie Wie die Kommission die EU auf Kriegswirtschaft umstellen will

Die Kommission will Europas Rüstungsindustrie massiv stärken – und den Staaten nach SPIEGEL-Informationen verordnen, mehr bei EU-Firmen einzukaufen. In den Mitgliedsländern ist man irritiert.
Von Markus Becker, Brüssel
Herstellung von Artilleriegranaten (bei Rheinmetall, Juni 2023)

Herstellung von Artilleriegranaten (bei Rheinmetall, Juni 2023)

Foto: Hannibal Hanschke / EPA

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Die Worte von Emmanuel Macron klangen beinahe tragikomisch. Die EU, größter Binnenmarkt der Welt, habe praktisch kein Pulver mehr. »Das Pulver ist das, woran es uns wirklich fehlt«, beklagte Frankreichs Präsident vergangene Woche bei einer Konferenz zur Unterstützung der Ukraine. Ohne Schießpulver keine Granaten, und ohne Granaten aus Europa hat die Ukraine ein Problem im Kampf gegen die russische Invasion.

EU-Binnenmarktkommissar Thierry Breton nannte den Grund für die Misere: Um Pulver herzustellen, brauche man eine bestimmte Art Baumwolle, sogenannte Nitrozellulose. Die aber komme leider überwiegend aus China – und dessen Lieferungen seien »wie zufällig« vor ein paar Monaten eingestellt worden.

Dergleichen soll künftig seltener und irgendwann gar nicht mehr passieren, zumindest wenn es nach Breton geht. Am Dienstag wird der Franzose gemeinsam mit dem EU-Außenbeauftragten Josep Borrell die seit Langem erwartete Strategie für die EU-Rüstungsindustrie vorstellen. Laut vertraulichen Entwürfen, die dem SPIEGEL vorliegen, will die EU-Kommission

  • die Produktion von Rüstungsgütern massiv ankurbeln,

  • die Mitgliedstaaten dazu bringen, viel stärker als bisher bei EU-Unternehmen statt außerhalb der EU einzukaufen,

  • die europäische Industrie besser vor internationaler Konkurrenz schützen,

  • sich selbst zu einer Art Schaltstelle machen, die den Bedarf an Waffen und militärischer Ausrüstung prüft und koordiniert und Engpässe notfalls mit weitreichenden Markteingriffen bekämpfen soll.

»Wechsel von der Friedensdividende zur Kriegswirtschaft«

Das Paket besteht aus zwei Teilen, der »European Defense Industry Strategy« (Edis), die Ziele und Gründe der Initiative darlegt, und dem »European Defense Industry Programme« (Edip), dem eigentlichen Gesetzesvorschlag. Er ist, vorsichtig ausgedrückt, ambitioniert. »Edip ist das Programm für den Wechsel von der Friedensdividende zur Kriegswirtschaft«, sagt ein EU-Beamter.

Seit dem Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine hätten EU-Länder 78 Prozent ihrer Rüstungsgüter außerhalb der EU eingekauft, 63 Prozent allein in den USA, heißt es im Edis-Entwurf. Zwischen 2017 und 2023 sei der EU-Verteidigungsmarkt um 64 Prozent gewachsen, der Handel zwischen EU-Staaten mache aber nur kümmerliche 15 Prozent dieses Markts aus.

Das soll sich nach Vorstellungen der Kommission radikal ändern. Schon 2030 sollen die EU-Staaten demnach die Hälfte ihrer Rüstungsgüter aus dem EU-Binnenmarkt beziehen, 2035 sollen es 60 Prozent sein.

EU-Binnenmarktkommissar Breton

Foto: Ronald Wittek / EPA

Zudem hätten die EU-Staaten zuletzt bei nur 18 Prozent ihrer Einkäufe zusammengearbeitet. Selbst das könnte noch hochgegriffen sein. Im September 2022 taxierte  die damalige Bundesverteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) den Anteil der gemeinsamen Beschaffung auf nur acht Prozent – obwohl die EU-Staaten schon 2007 einen Anteil von 35 Prozent vereinbart hatten.

Diese Marke will die Kommission nicht nur erreichen, sondern schnell übertreffen. Die gemeinsame Beschaffung soll schon bald auf 40 Prozent steigen, im Jahr 2030 bei 50 und 2035 bei 60 Prozent liegen. Zudem will die Kommission auch die Versorgungssicherheit mit wichtigen Rohstoffen sichern – sodass der EU eben nicht mehr das Pulver ausgeht, so wie es Macron kritisiert hat.

Profitieren soll von dem Programm neben der EU auch die Ukraine. Geht es um Maßnahmen zur Stärkung ihrer Rüstungsindustrie, soll die Ukraine »wie ein Mitgliedsland betrachtet werden«, heißt es im Edip-Entwurf. Entsprechend sollen in dem Land ansässige Unternehmen als Firmen mit Sitz in der EU gelten.

Doch während die Ziele der Strategie in der EU weitgehend konsensfähig sind, sorgen die Methoden, die die Kommission im Sinn hat, schon jetzt für Irritationen. »Übergriffig« sei es, was die Behörde von Ursula von der Leyen plane, sagen mehrere Diplomaten. Verteidigung sei Sache der EU-Staaten, die Kommission habe ihnen nicht hineinzureden.

Frankreichs Präsident Macron

Foto: Gonzalo Fuentes / AP

Tatsächlich gibt die Kommission in ihrer Rüstungsindustrie-Strategie sich selbst eine zentrale Rolle. So will sie eine Art Oberaufsicht über die Rüstungsindustrien in den Mitgliedsländern führen, indem sie ein »Mapping« der Rüstungslieferketten in den Staaten durchführt. Sie will Typen und technische Daten von Produkten sowie ihre Positionen in den nationalen Lieferketten sowie Herstellungskapazitäten abfragen und ein regelmäßiges Monitoring durchführen. Das Ziel sei es, »nahezu in Echtzeit die Produktionskapazität in der EU, Einflüsse auf die Versorgung mit wichtigen Rüstungsgütern und die Lagerbestände zu analysieren«.

Zwar will die Kommission mit den EU-Staaten in einem Ausschuss zusammenkommen und dessen »Rat und Meinung« einholen. Allerdings beansprucht sie dort selbst den Vorsitz – gemeinsam mit dem EU-Staat, der gerade die halbjährlich rotierende Ratspräsidentschaft innehat. In Berlin etwa lehnt man die »Mapping«-Idee der Kommission strikt ab.

Doch deren Vorschläge reichen noch weiter. Das Vermeiden von Engpässen bei wichtigen Rüstungsgütern »rechtfertigt verhältnismäßige Eingriffe in Grundrechte«, heißt es im Edip-Entwurf – »etwa in die unternehmerische Freiheit und das Eigentumsrecht«. Mit anderen Worten: Notfalls sollen EU-Firmen gezwungen werden können, ihre Produktion umzustellen. Selbst die Beschlagnahme von Rüstungsgütern erscheint unter diesen Umständen nicht ausgeschlossen.

Die Krise in der Versorgung mit kritischen Rüstungsgütern soll, man ahnt es, die Kommission ausrufen dürfen – auch wenn die Mitgliedsländer dann das letzte Wort haben.

»Das ist keine Machtaneignung der Kommission«, beteuert ein Beamter. Es gehe lediglich darum, sich in Rüstungsfragen besser mit den EU-Staaten zu koordinieren. Ein anderer sagt, man könne nicht einzelne Bereiche der Industrie fördern, ohne zu wissen, was wo gebraucht wird. Es müsse eine Schnittstelle für die militärischen Planer und die Industrie geben. Das stimme zwar, sagen Diplomaten der EU-Staaten – doch es sei unklar, warum ausgerechnet die Kommission diese Schnittstelle sein müsse.

Streit droht auch über das Vorhaben der Kommission, EU-Unternehmen gegenüber Firmen aus Drittstaaten zu bevorzugen. So sollen am Edip nur Länder im Europäischen Wirtschaftsraum (EWR) teilnehmen dürfen, also Island, Liechtenstein, Norwegen, die Schweiz sowie die 27 EU-Länder. Wer Geld aus dem Programm erhält – das Edip-Budget soll bis Ende 2027 nach SPIEGEL-Informationen 1,5 Milliarden Euro betragen – soll es nur in Produktionsstätten innerhalb des EWR einsetzen. Ausnahmen sind nur erlaubt, wenn das Ziel, die Rüstungsindustrien in der EU und der Ukraine zu stärken, nicht konterkariert wird.

Insbesondere eine Abgrenzung zu den USA sehen sowohl einige EU-Staaten als auch die Nato skeptisch. Man müsse die transatlantische Zusammenarbeit stärken und nicht schwächen, heißt es. In Brüssel argwöhnt man zudem, dass Binnenmarktkommissar Breton die Politik seines Landsmanns Macron betreibt. Frankreichs Präsident aber, so argwöhnen nicht wenige, gehe es vor allem um die Interessen der französischen Rüstungsindustrie.

Zwar heißt es aus Berliner Regierungskreisen, dass man mit Paris durchaus in dem Ziel übereinstimme, mittel- und langfristig die EU-Rüstungsindustrie zu stärken. Kurzfristig aber müsse man der Ukraine helfen – und das sei unmöglich ohne Einkäufe aus Drittstaaten.

Umstritten ist auch der Plan der Kommission, den Auftrag der Europäischen Investitionsbank zu ändern. Der EIB ist es derzeit verboten, Geld für die Herstellung militärischer Güter bereitzustellen. Eine Änderung dieser Vorschrift sei eine »wichtige Priorität«, um sicherzustellen, dass der Verteidigungssektor – »darunter Firmen, die Waffen und Munition herstellen« – Zugang zu EU-Finanzinstrumenten hat, heißt im Edis-Entwurf.

In Bretons Umfeld betrachtet man einen solchen Kurswechsel sogar als Pflicht der EIB. Schließlich sei es deren offizielle Aufgabe, die Politik der EU zu fördern. Und die Unterstützung der Verteidigungsindustrie sei von jetzt an Politik der EU.